Kaffee. Schwarz.

Der alte Mann inhaliert genießerisch den Dampf, der von der Tasse aufsteigt, die ich gerade vor ihn auf den Tisch gestellt habe. „Hach, einfach wunderbar", seufzt er. „Eithne, Ihr Kaffee ist einfach der beste, den ich je in meinem Leben getrunken habe."

Das sagt er jedes Mal, wenn er kommt. Und er kommt oft. Jeden Tag sitzt er auf einer der Bänke des Bahnsteigs, starrt in die verschwommene Ferne und versucht sich zu erinnern, wohin er fahren wollte. Und schließlich kommt er zu mir ins Café und bestellt sich einen Kaffee, schwarz und ohne Zucker und dazu ein Schokoladencroissant.

„Mit den modernen Lattes und Makkes kann ich nichts anfangen", erzählt er mir dann bei der Bestellung. „Geben Sie mir einen guten, altmodischen, starken Kaffee ohne irgendwelche Fisimatenten."

Jeden Tag spielt sich das Gleiche ab. Ich weiß nicht, ob er sich an den Tag davor überhaupt erinnert. Bis jetzt gibt es noch keine Anzeichen dafür, dass sich sein Zustand bessert. Seine ehemals braunen Augen sind nach wie vor getrübt von einem zu langen Leben und einer vagen Ahnung, dass er etwas Wichtiges vergessen hat. Und bis ihm das einfällt, wird er die Tage auf diesem Bahnhof verbringen und täglich bei mir einkehren.

Die meisten Seelen, die hier eintreffen, haben bereits mit ihrem Leben abgeschlossen und wissen genau, wohin sie fahren müssen. Sie kommen aus der grünlichen Ferne des Diesseits angefahren und steigen ohne Umstände in jene Gedankenbahn um, die sie zu ihrem endgültigen Ziel bringt. Dabei hinterlassen sie jedes Mal ein wenig Lebenskraft, wenn sie an meinem Café vorbeikommen. Nur wenig, aber ausreichend, um mein Café und mich zu erhalten und dafür zu sorgen, dass ich jedem Gast bieten kann, was er braucht.

Denn immer wieder gibt es Seelen, die an diesem Bahnhof zwischen Himmel und Hölle, zwischen Diesseits und Jenseits ankommen und dann nicht weiter wissen. Die meisten von ihnen haben noch etwas zu tun oder warten auf etwas oder jemanden. Als ich hier angefangen habe, hat man mir gesagt, der Tod würde die vom Körper befreiten Seelen unwiderruflich von ihrem bisherigen Leben trennen. Aber das trifft nicht auf alle zu. Einige Seelen schleppen noch einen Teil ihrer Lebenslast mit sich. Und bis sie diese nicht losgeworden sind, können sie nicht weiterreisen.

Diese Seelen lungern dann zwischen den Gleisen der Gedankenbahnen herum, starren blicklos in die grüne Weite, aus der sie gekommen sind und von der ein einziges, glänzendes Gleis auf uns zuführt, auf welchem in Minutentakt eine Bahn einfährt, sich in einem bunten Wirbel entleert und dann verschwimmt und mit einem leisen Seufzer vergeht.

Für die Wartenden muss es eine Qual sein, zuzusehen, wie die vom Leben gelösten Seelen an ihnen vorbeischwirren und ohne zu zögern auf eines der vielen Gleise gegenüber zusteuern. Oder rechts, wenn ich von meinem Café ausgehe. Es steht quer auf dem breiten Betonstreifen, der den grünen Horizont des Diesseits vom bunten des Jenseits trennt und auf dem sich die verlorenen Seelen sammeln.

Wer weiß, wohin es geht, sucht sich eines der vielen Gleise aus, die von hier abgehen. Die Farben der Weite, die von hier aus zu erblicken ist, reichen von tiefrot auf der einen Seite bis zu weißlichblau auf der anderen; dazwischen finden sich alle Regenbogenfarben und feinen Abstufungen. Schaut man genauer hin, entdeckt man mehr und mehr Zwischentöne, bis sich einem der Kopf dreht. So jedenfalls ergeht es mir und auch den Wartenden auf dem Hauptbahnsteig.

Die Reisenden sehen etwas anderes, soweit ich weiß. Für sie kristallisiert sich eine der vielen Farben klar und deutlich heraus und leitet sie zu ihrem Ziel. Dann schweben die Reisenden zum richtigen Steig, warten ab, bis sich auf den angrenzenden Schienen eine neue Gedankenbahn bildet, steigen ein und werden dorthin befördert, wo es sie hinzieht. Wo sie gebraucht werden. Und wo vielleicht schon jemand auf sie wartet, ich weiß es nicht.

Jemand vermutete mal, das Rot sei die Hölle, das Weißblau der Himmel und die Farben dazwischen die verschiedenen Abteilungen des Fegefeuers. Aber ich glaube nicht, dass es so einfach ist. Zudem ist das eine christliche Vorstellung und es kommt mir nicht so vor, als seien alle der ankommenden und gehenden Seelen Christen.

Ich denke, das es sich um verschiedene Bereiche des Jenseits handelt. Was dort geschieht, kann auch ich nur erahnen. Ich habe einmal mitbekommen, dass die meisten Seelen nach einer gewissen Erholungsphase aufs neue das Diesseits aufsuchen. Diejenigen, die für immer bleiben, werden wohl ihre eigenen Aufgaben zu erfüllen haben. Wie ich, die ich dieses Café zwischen Himmel und Hölle führe.

An die Vorstellung einer feurigen Vulkanlandschaft, in welcher die Menschen gefoltert werden und eines Wolkenlandes, auf dessen wattebäuschchenartigen Gebilden in Nachthemden gekleidete Seelen Harfe spielen, glaube ich nicht. Aber mir ist klar, dass sich die Seelen ihr Ziel selbst aussuchen und darunter können sich Gebiete wie Himmel oder Hölle verbergen. Die Hölle erschaffen sich die Menschen selbst und wer von Schuldgefühlen, Hass oder Neid gequält wird, kann sich im Jenseits nur allmählich von diesen zerstörerischen Gefühlen lösen. Bis dahin wird er in seiner eigenen inneren Hölle gefangen und in ihr sein eigener Folterknecht sein.

Die Bahnen werden durch die Gedanken und Gefühle der Seelen gesteuert. Darum können sie nur von jenen betreten werden, die ihr Ziel kennen. Ich habe mehrmals erlebt, dass frustrierte Wartende versucht haben, sich an andere Seelen zu hängen und mit ihnen in eine Bahn zu steigen. Aber wenn die Gedankenbahn abfährt, bleibt die verlorene Seele auf dem Bahnsteig alleine zurück. Jedes Mal. Bis es ihr gelingt, sich auf ihren Bestimmungsort zu besinnen, bleibt sie an diese Zwischenstation gefesselt.

Eine kleine, sehr alte Frau mit einem Gehstock betritt das Café. Ich eile ihr wie gestern und die letzten Wochen auch entgegen, nehme ihren Arm und führe sie zum nächstgelegenen Tisch. Sie dankt es mir mit unbestimmten Lächeln, welches irgendwie zwischen mein Gesicht und dem bunten Tuch um meinen Hals gerichtet ist und mir verrät, dass sie auch kaum noch etwas sieht. Die Seelen kommen häufig in dem Zustand hier an, in welchem sie sich als letztes befanden, finden hier aber bald zu dem Alter zurück, welches ihnen am angemessensten erscheint. Diese Dame hier hat sich noch nicht entschließen können, zu einem früheren Ich zurückzukehren.

„Kaffee?", erkundige ich mich, als ob ich das nicht wüsste. Die Seelen bestellen immer das Gleiche bei mir. Jeder Wartende hat seine bestimmte Vorliebe und bleibt bei dieser.

Sie nickt. „Einen guten, starken, ganz einfachen Kaffee", wünscht sie. Dann lächelt sie schelmisch. „Wie Captain Janeway sagen würde: Kaffee. Schwarz."

Diesen Scherz macht sie jedes Mal. Offenbar ist sie im Leben ein Trekkie gewesen. Bei ihrem Alter erscheint mir das seltsam, aber dann fällt mir ein, dass es Star Trek auch schon sehr lange gibt und nicht nur für junge Menschen gedacht ist.

Der alte Herr schlürft langsam seinen Kaffee, den Blick weiterhin durch großen Fenster auf die abfahrenden Bahnen gerichtet. Heute scheint er sich aber öfters auf bestimmte Seelen zu fokussieren; er verfolgt sie eine Weile mit den Augen und verliert dann doch das Interesse an ihnen. Zwischendurch bricht er kleine Stückchen von seinem Croissant ab, führt sie zwischen die schlaffen Lippen und kaut gemächlich. Schließlich hebt er die Hand. „Noch einen Kaffee bitte, Eithne. Schwarz, wie immer."

Oh, jetzt ist ihm bewusst, dass er schon mehrmals hier war. Bisher schien es jedes Mal für ihn das erste Mal zu sein, dass er mein Café aufsuchte. Die Wartenden haben nur noch vage Vorstellungen von ihrem früheren Leben und erleben auch die Zeit auf dem Steig der Verlorenen nicht fortlaufend, sondern als ein immer wiederkehrendes und doch scheinbar einmaliges Auftauchen aus einem Grau ohne Vergangenheit und Zukunft.

Ich lächle ihn an. „Selbstverständlich. Kommt sofort."

„Sie sind ein liebes Mädchen, Eithne", murmelt er und versucht sich an einem Lächeln. Sein faltiges Gesicht hat vergessen, wie das geht, aber der Versuch ist schon mal nicht schlecht.

Ich begebe mich an die Kaffeemaschine, stelle sie auf starken, ungesüßten Kaffee ohne Schuss, Sahne und Milch ein und bringe dem altem Herrn seinen „altmodischen" Kaffee. Das zweite Lächeln gelingt ihm viel besser, als er den zusätzlichen Keks auf der Untertasse bemerkt. Ich weiß ja, dass er meine Kekse gerne mag.

„Womit habe ich denn den verdient?" Grinsend weist er auf das Gebäck.

Ich lache ihn freundlich an. Es tut gut, mich mal wieder mit einem Gast unterhalten zu können. Die meisten Seelen blicken finster in das georderte Getränk und geben kaum einen Laut von sich. Dabei genieße ich beim Servieren gerne mal ein paar Scherzworte, eine schlagfertige Bemerkung oder einen gespielten Flirt.

„Sie sprechen mich richtig aus", erkläre ich. „Die meisten nennen mich ‚Eidne' anstatt ‚Idna'. Sie lesen das Namensschild ab und denken nicht darüber nach, dass der Name vielleicht anders gesprochen wird."

Einen Moment blickt der Wartende verwirrt drein. „Welches Namensschild?" Dann klärt sich sein Blick und er bemerkt: „Ich bin dem Namen schon einmal begegnet. Irisch, nicht wahr?"

Ich nicke. „Mein Vater war Ire." Zwar habe ich keine Ahnung, ob das stimmt. Von meinem vorigen Leben habe ich keine Ahnung. Wenn ich denn überhaupt eine Seele bin wie die anderen. Eventuell bin ich auch ein nur für dieses Café geschaffener Avatar ohne eigene Persönlichkeit. Aber das ist nicht wichtig für mich. Ich habe eine Aufgabe zu erfüllen und ob Seele oder Avatar, diese Arbeit muss getan werden. Für die Verlorenen ist sie essentiell.

Die Lebenskraft, mit welcher die Körper im Diesseits die Seelen umgeben, schwindet nach dem Tod nicht sogleich. Im Jenseits, wenn die Seelen sich vom Leben ausruhen, neue, reine Energie schöpfen und sich auf ein weiteres Leben vorbereiten, ist diese mit Erinnerungen, Erfahrungen und Gefühlen beschwerte Lebenskraft hinderlich. Die Gedankenbahn entzieht ihnen auf dem Weg hierher einen großen Teil davon; was noch davon geblieben ist, streifen sie im Vorübergleiten im Café ab.

Hier kann ich es aufnehmen und es zu Atzung in Form von Getränken und Gebäck formen für die Verlorenen. Denn diese brauchen noch etwas von dieser Kraft, welche sie ans Leben fesselt, um sich auf ihr letztes Anliegen zu besinnen, welches sie hier festhält. Je öfters sie zu mir kommen und sich daran laben, umso klarer wird ihr Blick und umso mehr festigen sich ihre Erinnerungen. Schließlich haben sie soviel davon, dass sie mit ihrem bisherigen Leben abschließen können und dann endlich ebenfalls eine der Gedankenbahnen ins Jenseits besteigen.

Gespräche wie dieses hier mit dem alten Mann helfen ihnen dabei. Es sind für die Wartenden kleine Deja-vu-Momente, Szenen, die sie im Leben so oder ähnlich schon erlebt haben und die ihnen helfen, ihr Grübeln über das Vergessene auf den Kern zu fokussieren. Natürlich weiß ich nicht, was diese Seelen alles erlebt haben, aber die meisten sind einmal irgendwo eingekehrt, in einem Café, einem Restaurant oder einfach bei Verwandten und Freunden, haben einen Wunsch geäußert und sich für dessen Erfüllung bedankt. Die Wiederholung dessen in meinem Café zwischen Himmel und Hölle ist für sie wie ein dünner Faden, der sie mit dem verbindet, was sie verloren haben und der mit jedem Mal fester wird, bis er dick und stark genug ist, dass sie ihn mit einem sauberen Schnitt durchtrennen können. Den Faden zu zerreißen hinterlässt nur lose Enden, welche die Wartenden wie lästige Spinnweben umgeben und sie daran hindern, ihr Ziel zu erkennen.

Der alte Mann geht auf meine Antwort ein. Das ist auch neu an ihm. „Da hat er einen besonders schönen Namen für Sie ausgesucht."

„Er bedeutet Feuer oder auch Kern, Samenkern", erkläre ich, ohne zu ahnen, woher ich dieses Wissen habe.

„Nun, der Kern dieses Cafés sind Sie sicherlich", philosophiert der alte Herr launig. Heute wird er immer munterer.

„Und Sie sind auch wie eine Flamme, die das Café hier am Leben erhält und mit Wärme erfüllt. Draußen ist es immer kalt, wissen Sie, aber wenn ich hier eintrete, fühle ich mich so anheimelnd geborgen wie an einem Kaminfeuer."

„Haben Sie so etwas schon erlebt?", frage ich. Eigentlich ist es nicht gut, die Verlorenen nach ihrer Vergangenheit zu fragen. Manche erschrecken furchtbar, wenn ihnen bewusst wird, dass sie tot sind, andere wollen zurück und wieder andere verzweifeln, wenn sie begreifen, wieviel sie bereits vergessen haben. Aber hier erscheint mir diese Erkundung irgendwie angebracht.

Der alte Herr nickt bedächtig. „Ich habe so manchen Abend am Feuer verschmust mit meiner Süßen. Bis wir das alte Haus dann nicht mehr halten konnten. Die Kinder kamen und wir hatten nicht mehr die Zeit, unsere geliebte Ruine herzurichten. Aber wir haben das nie bereut."

Plötzlich dreht sich die alte Dame am Nebentisch zu ihm um. „Das stimmt", bemerkt sie mit gelinder Überraschung, als sei ihr das eben erst eingefallen. „Es gab eine Zeit der Ruine und des Kaminfeuers und später eine Zeit des Elternseins und des Plagens und Lachens."

Der alte Herr sieht sie verblüfft an. „Ich erinnere mich. Wie glücklich wir damals waren!" Er lässt die Augen nicht von ihrem Gesicht. „Marie?"

„Ja, Martin. Du erinnerst dich?"

„Marie!" Der alte Herr steht etwas wacklig auf und ich stütze ihn rasch, als er zu der Dame geht. „Marie, ich weiß es wieder. Du bist es, auf die ich gewartet habe. Es hat so lange gedauert."

Sie nickt und lächelt unter Tränen. „Die Kinder – sie brauchten mich doch noch und sie sollten uns nicht beide auf einmal verlieren. Wir haben uns versprochen, aufeinander zu warten, aber als ich hier ankam, konnte ich dich zunächst nicht finden. Und als ich dich dann entdeckte, wusstest du nicht mehr, wer ich bin."

Sie steht vorsichtig auf und Martin nimmt ihre Hände und umarmt sie dann. Erst sacht, dann stürmisch und je fester seine Umarmung wird, je mehr sie sich an ihn schmiegt, umso jünger werden die beiden. Schließlich steht ein Paar Mitte Zwanzig vor mir und reicht nun mir die Hände. „Danke für alles, Eithne." Marie tätschelt mir die Schulter. „Sie haben sich immer so lieb um mich gekümmert. Ich glaube, jetzt sind wir bereit, weiterzuziehen. Aber ich werde Sie und Ihr Café vermissen."

Martin stimmt zu. „Und Ihren Kaffee. Was meinst du, Marie, wird es drüben auch einen Kaffee nach unserem Geschmack geben?"

Marie lacht leise. „Vielleicht, vielleicht auch nicht. Aber was schert es uns, solange wir einander haben?"

Ich sehe ihnen nach, als sie zu den Gleisen gehen. Wieder zwei Verlorene, die ihren Weg gefunden haben. Und wieder zwei Gäste, die nie mehr zu mir kommen werden. Ich bin immer die, die zurückbleibt.

Martins Frage beschäftigt mich jedoch immer noch. „Welches Namensschild?", hat er wissen wollen. Ich sehe an mir herab. Er hat recht, ich trage keines. Aber aus irgendeinem Grund habe ich geglaubt, ich müsse eines anstecken haben.

Ich kann mich nicht erinnern. Wann und wo habe ich jemals ein Namensschild getragen?

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