#2 - Vertrauen

"Komm, ich parke dort drüben."

"Hmm." Ohne den Blick zu heben, trottete Parker neben seiner Mutter her. Schon das Klicken ihrer Absätze, die das gelangweilte Schlurfen seiner Schuhe auf den quadratischen grauen Steinplatten begleitete, klang angespannt.

"Ich sehe, du hast heute blendende Laune", sagte sie als sie gemeinsam um das trostlose Gebäude herumgingen.

Wie witzig, dachte er. Auch wenn er selbst an diesem ganzen Schlamassel schuld war - wer war schon so dumm sich erwischen zu lassen - konnte seine Mom ruhig Mal versuchen, sich in seine Lage zu versetzen. Sein Sommer war beschissen gewesen. Woher hätte er da jetzt die gute Laune nehmen sollen?

Ihre fuchtelnde Hand erschien wie aus dem Nichts vor seinem Sichtfeld. "Hallo, ich rede mit dir."

"Ach ja?", gab Parker murrend zurück.
Wie ein kleiner Schuljunge überquerte er an ihrer Seite die Straße.

Sie sagte zwar kein weiteres Wort, doch als sie das kleine, zweckmäßige Auto erreichten, hatte er bereits Kopfschmerzen. Sollte noch Mal jemand sagen Schweigen war Gold. Sein Schädel fühlte sich an, als würde er jeden Moment platzen. Und das war erst der Anfang. Von seiner Mom angeschwiegen zu werden, war nur ein Ausblick auf das Unheil, das noch kommen würde.

Das war sein Leben auf den Punkt gebracht: Warten auf den großen Gong. Doch er konnte schließlich nichts dafür. Er hatte es wohl einfach in den Genen. Einmal Abschaum, immer Abschaum. Es würde sicherlich nicht mehr lange dauern, bis sich auch seine Mutter von ihm abwandte.

Quälend langsam stieg er in den klapprigen Toyota, schnallte sich an und schloss die Augen. Offenbar hatte seine Mom beschlossen, die Folter fortzuführen, denn sie schwieg hartnäckig.

Das Blut in seinen Ohren rauschte und trug damit nicht zu einer Besserung seines Zustandes bei. Und auch dieser mach falscher Kirsche stinkende Duftbaum half kein bisschen. Gedankenverloren starrte er auf die Straße vor ihnen und verfolgte den Heimweg mit. Links, rechts, geradeaus, link-

Moment, warum waren sie nicht abgebogen?

Er drehte den Kopf. "Äh, Mom?", fragte er verwirrt und zeigte mit dem Daumen auf die Kreuzung hinter sich.

"Äh, nein", äffte sie.

Parker hob die Augenbraue. Hatte er hier irgendwas verpasst? Ähnlich wie er selbst noch vor einer halben Stunde, schien sie nun eine - gelinde ausgedrückt - miese Laune zu haben.

"Wohin fahren wir?", fragte er vorsichtig.
Angestrengt stieß seine Mutter die Luft aus ihren Lungen. "Wir fahren nach Süden."

"Ja, das sehe ich ja. Aber warum?"

"Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich dich an diese Schule zurück schicke?", fuhr sie ihn an wie Kerberos höchstpersönlich. "An eine Schule, in der du dir nur Ärger einbrockst? Zurück zu deinen mehr als fragwürdigen Freunden? Nach allem, was passiert ist?"

Das Verlangen mit den Augen zu rollen, nahm überhand. Schnell drehte er den Kopf zur Seite und sah aus dem Beifahrerfenster. Vorsorglich würde er schweigen. Egal, was er von sich gab, es wäre als würde er Öl ins Feuer gießen. Er hatte eine Art Gespür dafür entwickelt. Diese Auseinandersetzung konnte er nur verlieren.

Doch seine Mom wollte es nicht auf sich beruhen lassen. Wie alle Frauen, die er kannte, piekste und stocherte sie so lange in einem Wespennest, bis die Hölle los brach.

"Das glaubst du doch nicht wirklich?", schrie sie um dem Ganzen noch einen drauf zu setzen. Manchmal brauchte sie eine lautstarke Auseinandersetzung um sich richtig zu verausgaben. Vielleicht war das ihre überaus fragwürdige Alternative zu einem Sportprogramm, für das sie keine Zeit hatte. Und ihm ging es von Zeit zu Zeit ähnlich. Schlechte Gene, wie er schon mehrfach festgestellt hatte.

Er wusste zudem, wie sehr es sie fuchste, dass er ihren Gefühlszustand inzwischen beinahe fehlerfrei vorhersagen und mit seinem Verhalten lenken konnte. Doch er hatte keine Lust ausgerechnet jetzt darauf einzusteigen.

Zumal diese Frage ja bestenfalls rhetorisch gemeint sein konnte. Was er glaubte, spielte in der Regel keine Rolle, wenn sie sauer war.
Während seiner Zeit im Phoenix Retirement Home - was für ein absurder Name das auch war - hatte er mehr als genug Zeit gehabt, nachzudenken.

Über vergangene Taten, das Hier und Jetzt und natürlich auch seine Zukunft. Er hatte kleine Schritte gemacht und zunächst versucht, sich die Zeit danach vorzustellen. Und was er eindeutig nicht gesehen hatte, war, dass er seiner Mutter weiterhin Rechenschaft schuldig war.
Genau genommen hatte er seine Strafe verbüßt und seine Mutter hatte damit theoretisch kaum das Recht ihm seine Verfehlungen weiterhin vorzuwerfen.

Andererseits, er seufzte, sie war seine Mutter und durfte damit wohl noch so einiges mehr. In der Realität schien es gänzlich unerheblich zu sein, dass er seine Sozialstunden in den Sommerferien abgeleistet hatte.

Großartig. Dann hätte er sich das stundenlange putzen, Bettwäsche wechseln, Arsch abwischen und die gelegentlichen Ausflügen in den Leichenkeller ja sparen können. Nichts davon hatte ihm seine Sommertage auch nur einen Moment versüßt.

Statt heißer Mädels hatte er seine Tage mit zänkischen alten Weibern verbracht. Statt mit seinen Jungs abzuhängen, hatte er demente Opas mit deutlichen Hängen zu aggressivem Verhalten zwangsfüttern müssen. Laue Lüftchen am See hatte er gegen den muffigen Gestank aus dem antiken Staubsauger eingetauscht und coole Partys gegen Bingo-Nachmittage aus der Hölle.

Und wofür? Um seine Fehler nach wie vor vorgekaut zu bekommen. Genau sein Humor.

"Du wirst dein letztes Schuljahr weit weg von deinem Bike und dem Trail verbringen. Ganz zu schweigen von diesen Kids. Du hast nur noch diese Chance. Ich will nicht, dass du dir dein ganzes Leben verpfuscht. Du bist schließlich noch so jung und hast alles vor dir."

"Hmm." Er konnte es einfach nicht lassen. Sie hatte ihm die perfekte Vorlage geliefert. "Wann bin ich denn deiner Ansicht nach alt genug um mein Leben selbst zu verpfuschen?"

"Warum bist du nur so undankbar, Parker?" Sie seufzte. Dann fuhr sie deutlich ruhiger fort. "Ich weiß, dass dein Geburtstag vor der Tür steht. Wie könnte ich es vergessen? Du bist doch mein Kind. Aber ich wünschte mir, du würdest versuchen, etwas klügere Entscheidungen für dich selbst zu treffen. Und damit dir das leichter fällt, wirst du das letzte Schuljahr auf die Willow Park High gehen."

"Ernsthaft, Mom?", fragte er müde. Er würde es nie zugeben, aber er war ein bisschen beeindruckt davon, dass sie das beschlossen und organisiert hat ohne ihm auch nur ein Wort zu sagen. Leider half das seiner Freude nicht auf die Sprünge. Im Gegenteil. Wie so etwa jeder Jugendliche - fast Erwachsene - hasste er Veränderungen, die er nicht kontrollieren konnte.

"Ja, ernsthaft. Ich glaube nicht, dass es etwas bringt, wenn ich weiterhin nur auf dich einrede. Die Schule hat einen guten Ruf, und du bist auch näher am Laden."

"Seit wann ist das wichtig? Muss ich mich jeden Tag nach der Schule bei dir melden?" Seine Stimme triefte vor Sarkasmus.

Seine Mutter bekam es scheinbar nicht mit. Oder es war ihr egal. "Gewissermaßen schon, ja. Du wirst dort aushelfen und die Nachmittagsschicht übernehmen."

"Jeden Tag?", witzelte er gelangweilt.

"Ja."

Das wurde ja immer besser. Es gab nichts öderes, als einen Nachmittag lang im Laden zu stehen und den Alten Geburtstagssträuße und Grabschmuck zu verkaufen. Geschweige denn eine ganze Woche. Er würde eingehen.
Er wandte sich ihr zu. Sie sah weder wütend aus, noch besonders fröhlich.

Stur blickte sie aus dem Fenster und tat so, als wäre der Verkehr das Spannendste, was sie heute zu Gesicht bekam. Vielleicht war ihr dieses Gespräch doch ein bisschen unangenehm. "Wie lange?"

"Bis zum Ende des Schuljahres, würde ich meinen. Ich will ja nicht, dass du zu viel freie Zeit hast und wieder auf blöde Ideen kommst", sagte sie mit zuckersüßer Stimme.

"Dass ich 18 werde, ist dir schon klar", gab er zu bedenken. Wohlwissend, dass es nichts veränderte.

"Auf jeden Fall. Ich betrachte das hier als Last Call. Wenn das nicht hilft, kannst du von mir aus auf der Straße pennen."

Seine Mundwinkel zuckten merklich. "Klasse. Und wenn ich ich mitmache, wo schlafe ich dann? Ohne mein Bike bin ich nach dem Schließen des Ladens bestimmt zwei Stunden unterwegs eh ich zuhause bin."

"Das wäre wirklich blöd, nicht wahr?", fragte sie amüsiert.

Doch ihm war nicht nach Lachen zumute. "Ja."

"Genau deswegen wirst du einfach bei Grandpa schlafen."

"Bei Grandpa?" Dem alten Mann, der ebenso launisch war, wie die Gäste im Seniorenheim, in dem er den Sommer verbracht hatte. Parker fragte sich, was ihn noch alles erwartete. Immerhin würde sein Schock sich in Grenzen halten, wenn seine Mutter ihn plötzlich für Grandpa's Körperpflege abkommandieren würde. Nach diesem Sommer konnte ihn dahin gehend nichts mehr schocken.

"Ja."

"Der ist senil", startete er einen letzten Versuch, dem Elend zu entkommen. "Das ist ja wie eine Verlängerung der Sozialstunden."

"Genial, oder?"

Er könnte schwören, dass er ein Lächeln in ihrer Stimme gehört hatte, auch wenn er keins sah.

"Total", sagte er trocken. Schön, dass wenigstens einer hier Spaß zu haben schien.

"Mit einem bisschen Glück triffst du vielleicht den einen oder anderen Freund von früher auf der Schule wieder. Es ist also nur halb so schlimm."

"Absolut." Sarkasmus stand ihm, wie er fand.

"Ganz ehrlich, Parker. Wenn ich eine bessere Idee hätte, würde ich es anders machen. Habe ich aber nicht."

"Schon Mal mit Vertrauen versucht?"

"Solange ich hier noch den Hut aufhabe, riskieren wir das lieber nicht. Ich vertraue allerdings darauf, dass du dich an die Regeln hältst."

"Gibt es etwa noch mehr außer im Laden stehen und Grandpa aushalten?"

"Im Laden aushelfen und Grandpa unterstützen, meinst du? Ja, du wirst die Finger von dem Scheißzeug lassen."

"Welches Scheißzeug meinst du noch Mal?", fragte er jetzt mit einer Fröhlichkeit, die er eigentlich nicht verspürte. Aber wen kümmerte es? Wenn seine Mutter ihn vor den Bus warf, würde er sie wenigstens ein wenig aufziehen.

"Deine Drogen, Parker."

"Nun, da willst du vielleicht ein bisschen genauer sein. Es gäbe da Koks, Hasch, Speed und Ectasy..."

"Dein beschissenes Gras, meine ich, und das weißt du auch." Er warf ihr einen Blick zu und sah wie verkrampft ihre Kiefer aufeinander gepresst waren. "Wehe, ich erwische dich jemals wieder damit. Ich werde die Erste sein, die dich verpfeift."

"Schade, so'n bisschen Gras könnte man im Laden gut verkaufen, ist ja schließlich-"

"Wag es nicht, Freundchen." Damit fuhr sie an den Rand und stellte den Motor ab. "Ich glaube, von hier aus kannst du laufen."

"Mom."

"Raus mit dir."

"Ach komm schon, Mom. Das sind mindestens drei Meilen."

"Frische Luft tut dir gut."

"Also schön." Er verschränkte die Arme vor der Brust und starrte aus seinem Fenster. Er würde ihr nicht die Genugtuung geben, sie anzusehen und sich ihr Siegerlächeln in dei Netzhaut zu brennen. "Ich werde dir im Laden helfen und ich werde Grandpa unterstützen. Wenn er Hilfe annimmt."

"Und...?"

Er seufzte und sah sie nun doch an. "Und ich werde die Finger vom Gras lassen."

Zufrieden grinste sie. "Geht doch."

Als sie den Motor startete und sich wieder in den Verkehr einfädelte, ließ er den Kopf an die Rückenlehne fallen. Geht doch.

Erst als seine Mutter wenige Minuten später das Auto in der Auffahrt ihres Vaters parkte und Parker aussteigen musste, bemerkte er, dass er die Finger der rechten Hand gekreuzt hatte.

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