#13 - Ava

Zum ersten Mal in einer ziemlich langen Zeit hatte Octavia das Ende der Schulwoche nicht herbei gesehnt. War es sonst das Äquivalent zu Freiheit, hatte dieser Freitagabend bereits seit Mitte der Woche seine gierigen Klauen nach ihr ausgestreckt. Niemals würde sie sich mit diesem beklemmende Gefühl in der Brust auf ein Date mit jemandem einlassen - aber dank der dämlichen Herausforderung war alles anders. Entgegen ihrer Intuition würde sie sich vom Henry abholen lassen und einen vermutlich sehr zähen Abend mit ihm verbringen.

Oder aber, sie zwang sich positiv zu denken, vielleicht würde der Abend auch gar nicht so öde werden. Vielleicht könnte Henry über seinen Schatten springen und etwas aus sich heraus kommen, während sie ihre Erwartungen etwas zurück schrauben konnte.

Himmel, das hier war die High School. Sie musste Mister Perfect nicht zwingend hier treffen. Mit der Uni würden sich noch genügend Möglichkeiten ergeben und auch später, wenn sie ihren ersten richtigen Job antreten würde, würden sich genug Chancen auftun, vernünftige, bodenständige und gutaussehende Männer kennenzulernen. Sie hoffte es jedenfalls.

Wenn man nicht allzu große Ansprüche hatte, würde es doch für jeden Topf irgendeinen einigermaßen passenden Deckel geben. Und viel mehr konnte man sich sowieso nicht vom Leben erwarten. Es gab keine große Liebe, wie sie einem im nahezu jedem Medium vorgegaukelt wurde. Aber mit der Liebe war es wohl wie mit dem Sex: beide verkauften sich gut.

Das Restaurant, das Henry ausgesucht hatte, sah wirklich nett aus. Er hatte sie vorne am Eingang aussteigen lassen und den Wagen geparkt. In dieser kurzen Zeit war jemand vom Personal zu ihr gestoßen und hatte Smalltalk mit ihr gehalten. Als Henry wiedekam begleitete man sie zu ihren Plätzen. Wie sich herausstellte, hatten sie einen Tisch in einer ruhigen Ecke und mit phenomenalem Blick über die Stadt zugewiesen bekommen.

Der Kellner zog ihren Stuhl heraus und bedeutete ihr Platz zu nehmen, eh er den Stuhl in einer geschmeidigen Bewegung nach vorne schob, wöhrend Henry ihr gegenüber Platz nahm.

"Hast du die Blumen bekommen?", fragte er beinahe gelangweilt als der Kellner sie allein ließ. Er sah nicht einmal auf.

"Ja", gab sie zögerlich zu. Eigentlich wollte sie lieber nicht darüber reden.

"Haben sie dir gefallen?" Es schien als wären Henrys Smalltalk Skills um noch einiges schlechter als ihre eigenen. Interessierte ihn die Antwort überhaupt oder hatte er einen Fragenkatalog für Dates im Knigge gelesen und arbeitete die Punkte nun nacheinander ab. Wenn er nicht einmal in ihr Gesicht sah, würde er ihre Reaktion ja auch gar nicht sehen. Letztendlich war es also völlig egal, was sie von sich gab.

"Ja", sagte sie schließlich. Der Strauß war ja wirklich schön gewesen. Noch schöner wären die Blumen nur gewesen, wenn sie nicht aus dem Hause Wild gekommen wären. Und noch in der Natur stünden.

"Gut." Noch immer war Henry seltsam abweisend.

Gut, dass gerade ein Kellner auf sie zu kam. Octavia lief bereits das Wasser im Mund zusammen von dem wirklichen herrlichen Duft der Gerichte in diesem Restaurant.

"Darf ich Ihnen die Karte reichen?", fragte er junge Mann höflich.

Doch Henry winkte sofort ab. "Ich habe bereits im Voraus bestellt. Wenn Sie das bitte klären könnten."

Octavia spürte wie ihre Augenbrauen in die Höhe schossen. Vorab bestellt. Ihr war nicht bewusst, dass sowas überhaupt möglich war.

"Kein Problem, Sir. Ich bespreche das. Darf ich Ihnen in der Zeit etwas zu trinken bringen? Ma'am?"

"Das habe ich auch vorab bestellt", fiel Henry dazwischen, bevor Octavia in der Lage gewesen wäre, etwas zu sagen.

"Natürlich, Sir." Der Mann wandte sich ab und ging davon.

Warum um alles in der Welt würde man die Getränke vorab bestellen und warum war er jetzt nicht in der Lage gewesen, dem Kellner mitzuteilen, wofür er sich entschieden hatte?

"Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel. Das hier ist ein sehr exklusives Restaurant und ich wollte dir das beste Essen in dem unvergleichlich netten Ambiente bieten. Einige junge Damen neigen dazu, sich endlos in der Auswahl zu verlieren, aber es ich fand die Aussicht zu schade, um sie zugunsten der Gerichtwahl zu vernachlässigen. Das hier ist der schönste Ausblick, den man über Willow Park haben kann", fügte er mit in die Luft gemalten Anführungszeichen hinzu.

Wenn man es so ausdrückte, machte das ganze auf eine absurde Art und Weise, die mit jeder Silbe nach Henry klang, Sinn. Wobei sie in einem Punkt innerlich widersprechen musste. Den schönsten Ausblick über die ganze Gegend, Willow Park hin oder her, hatte man schließlich im Nationalpark. Aber da sie Tessa ja versprochen hatte, diesen nicht unnötig zu erwähnen, hielt sie lieber den Mund und schenkte Henry ein, wie sie hoffte, einigermaßen aufrichtiges Lächeln. Er gab hier sein Bestes. Das musste man ihm zugestehen.

Beinahe geräuschlos tauchte der Kellner neben ihrem Tisch auf. "Ihr Essen wird in wenigen Augenblicken serviert, Sir."

Und damit verschwand er auch genau so unauffällig, wie er gekommen war.
Octavia sah Henry an und versuchte, seinen Blick aufzufangen, doch er sah nervös zwischen der Bar und dem Ausblick hin und her.

"Ist etwas nicht in Ordnung?", flüsterte Octavia schließlich. Sie konnte es nicht länger mit ansehen, wie Henry sich zu quälen schien.

"Nein, alles in bester Ordnung. Verzeihung. Ich bin nur ein bisschen beunruhigt, weil wir heute in Wirtschaft eine Klausur geschrieben haben und ich mir bei einer Antwort absolut unsicher war. Die Frage war sehr", er knackte mit den Fingern, "missverständlich formuliert. Es hätten zwei völlig verschiedene Antworten Sinn ergeben, aber das kann die Lehrkraft ja kaum beabsichtigt haben."

Während Octavia sich gegen ihre Rücklehne sinken ließ und versuchte zu verstehen, warum eine offene Frage mit diversen Antwortmöglichkeiten von der Lehrkraft nicht absichtlich so gewählt worden sein konnte, trat der Kellner ein weiteres Mal an den Tisch heran. Ihn umfüllte ein himmlischer Geruch, aber Octavia ahnte bereits Schlimmes. Er würde doch nicht etwa...

"Bitte sehr. Zwei Mal Muscheln in feinster Tomatensauce. Dazu Salat mit hausgemachtem Dressing und geröstetes Brot. Guten Appetit." Er stellte Ihnen beiden jeweils einen großen Teller Muscheln hin.

Sie starrte ihre Mahlzeit ungläubig an. Vor ihr stand tatsächlich eine gusseiserne Pfanne, randvoll mit Muscheln und grober Tomatensauce. Es sah gut aus und es roch sehr lecker. Daneben lagen zwei dicke Scheiben Baguette, leider viel zu dunkel getoastet für ihren Geschmack. Wann immer sie ahnte, dass getoastetes Brot auf sie zu kam, ging sie auf Nummer sicher und bestellte ihr Brot nur leicht geröstet.

Doch auch das wusste Henry offensichtlich nicht. Im dem Fall konnte er es einfach nicht wissen, immerhin kannten sie sich kaum und hatten nie darobw gesprochen. Aber über die Muscheln hingegen schon. Er hatte ihr nicht richtig zugehört. Falls sie einen echten Beweis dafür gebraucht hatte, stand er nun vor ihr. Möglicherweise hatte er ja versucht, ihr zu folgen, aber es war ihm nicht gelungen, den Sinn ihrer Worte zu erfassen. Das war durchaus schade, fast sogar ein bisschen deprimierend.

Octavia wusste, dass die eh schon so angespannte Stimmung jeden Moment ins wirklich Unangenehme kippen würde, wenn sie keinen Bissen von dem Essen probierte. Hatte Henry nur wenige Augenblicke zuvor nicht betont, wie exklusiv dieses Restaurant war? Er würde es sicherlich nicht gutheißen, ein unangetastetes Essen zurück gehen zu lassen.

Aber da führte einfach kein Weg hin. So gut, wie die Muscheln rochen - den Duft konnte man guten Gewissens als himmlisch bezeichnen - aber es gab keinen Chance, dass auch nur ein Happen davon ihre Zunge berühren würde. Nicht einmal ihre Lippen. Lieber nähme sie die Entwicklung einer echt hässlichen Szene in Kauf. Und sie spürte, dass der Auftakt dazu nur wenige Sekunden entfernt war.

Sie atmete tief durch.

"Also", fing Henry an. "Welche Blumen sind deine Lieblingsblumen?"

"Ich...Oh." Octavia brauchte einen Moment um ihre Gedanken zu sortieren. Er sprach sie gar nicht auf die Muscheln an? Sie sah auf und bemerkte, dass auch er das Essen eher misstrauisch begutachtete, bevor er seine Gabel zurück auf ihren Platz neben dem Teller legte. "Wildblumen, würde ich sagen. Eigentlich fast alle Arten."

Henry sah sie nachdenklich an. "In dem Strauß waren keine, oder?"

"Nein", sagte sie leise. Und einem Reflex folgend fuhr sie pflichtbewusst fort. "Aber die Blumen war auch sehr schön."

Waren sie ja. Nur, dass er nicht begriffen hatte, dass sie die Blumen lieber in der Natur ansah. Oder vielleicht war es sein übliches Vorgehen, Blumen zu senden. In welchem Fall er ihr nicht direkt nicht zugehört hatte, oder? Die Blumen waren ja zugegebenermaßen wirklich schön gewesen. Wären sie zu allem Überfluss nicht aus dem Wildflower, hätte sie sie möglicherweise sogar behalten.

"Gut." Seine Finger knackten. "Ich hab ihnen gesagt, sie sollen die schönsten Blumen aussuchen, die sie haben, damit sie zu dir passen. Nur das Schönste für die Schönheit."

Octavia spürte wie ihr das Blut in die Wangen stieg. Das musste das dämlichste Kompliment sein, dass sie jemals gehört hatte. Und trotzdem schien es ihr Herz gehörig aus dem Takt zu bringen. Es war einfach lächerlich.

Nach einer Weile räusperte sich Henry. "Ich habe über deinen Namen nachgedacht. Wir hatten uns ja darauf verständigt, Tavi mit Tava zu ersetzen. Aber Tava klingt doch ziemlich außergewöhnlich. Niemand kennt diesen Namen. Man müsste ihn ständig wiederholen. Ava hingegen ist weit genug verbreitet und immer noch stilvoll. Ich denke, ich werde dich daher einfach als Ava vorstellen. Das ist doch okay für dich, nicht wahr?"

Octavia sah auf und brachte kein Wort heraus. Ihr Hals fühlte sich auf einmal sehr trocken an und die Welt schien sich schneller zu drehen als sonst. Als Ava vorstellen. Was zur Hölle ging eigentlich in ihm vor?

So gefühlvoll wie möglich legte nun auch sie ihr Besteck zurück. Immerhin hatte sie jetzt eine Lösung für dieses eine Problem.

"Tut mir leid. Ich sehe, dass dich das aufregt. Das war natürlich nicht meine Absicht."

"Natürlich", flüsterte sie und zwang sich zu einem kleinen Lächeln.

Dieser Name war, neben dem verdammten Teddybär, das einzige, was sie von ihrer leiblichen Mutter hatte. Auch wenn sie ihn an helllichten Sommertagen wie diesem hasste - welche junge Frau hatte noch einen Teddybären? Aber in der Dunkelheit der Winternächte, eigentlich jeder Nacht, war sie froh etwas zu haben, an das sie sich klammern konnte.

Auch wenn ihre Eltern nie offiziell über eine Adoption gesprochen hatten, hatte Octavia es über die Jahre zwischen den Zeilen gelesen. Den hattest du vom ersten Tag an... Nachdem wir uns an deinen Namen gewöhnt haben...Und so weiter und so fort. Warum hätten sie ihr einen Namen geben sollen, der ihnen schwer über die Lippen ging? Und so war die Idee in ihr gereift, dass nicht alles so war, wie es schien. Zum Glück.

Octavia vernahm ein leises Hüsteln.
"Ich glaube, ich bin das hier falsch angegangen. Verzeih mir bitte."

Verwundert sah Octavia dabei zu, wie Henry den Kellner heran winkte und die Teller abräumen ließ. "Ich denke, ich sollte dich nach Hause bringen. Dann werde ich mich sammeln und es beim nächsten Mal besser machen, Tavi", sagte er und betonte ihren Namen besonders.

Sie wusste nicht, ob sie genervt oder erfreut sein sollte. Henry rief eine Menge ambivalente Gefühle in ihr hervor. Wut und Unglaube, Mitleid und Neugierde.

Er benahm sich merkwürdig. Sein ganzes Auftreten war irgendwie merkwürdig. Aber vielleicht war er wirklich nur wegen seiner Klausur so aufgeregt, dass er kaum mit ihr sprechen konnte.

Vielleicht sollte sie ihm die Chance geben, es besser zu machen. Sie würde sich einfach bemühen, das Gespräch über ihren Namen zu vergessen. Und die Muscheln. Und die Blumen. Naja, die Blumen vielleicht nicht unbedingt. Je länger sie darüber nach dachte desto gespannter wurde sie, womit er als nächstes versuchen würde, bei ihr zu punkten. Ein weiterer Strauß Blumen? Oder zur Abwechslung Mal Pralinen?

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