#12 - Betty
Als er das Haus betrat, fiel ein Lichtstrahl aus der Küche in den Flur. Wie eine Motte folgte er dem Licht und fand seinen Großvater dösend am gedeckten Tisch. Das Brot war bereits aufgeschnitten, je ein kleiner Wurst- und Käseteller waren jedoch noch abgedeckt. Sogar etwas Gemüse lag zum Aufschneiden bereit. Vielleicht war er nicht dement, sondern einfach nur alt. Nichts besonderes. Nur alt.
Parker seufzte leise. Er konnte es drehen und wenden wie er wollte, er hatte wirklich einfach gar keine Ahnung.
"Grandpa", sagte er leise. "Ich bin zurück."
Mit einem sanften letzten Schnarchgeräusch schlug er die Augen auf und sah ihn an. Parker sah, dass es einen kleinen Moment dauerte, eh sein Großvater verstand, wo er war und warum Parker vor ihm stand, aber dann schenkte er ihm ein warmes Lächeln.
"Du bist Zuhause. Fein. Komm, mein Junge, setz dich. Du hast sicherlich Hunger."
Es gab ungefähr hundert Menschen, die sich seinen unendlichen Hass aufgezogen hätten, wären sie auf die Idee gekommen, ihn Junge zu nennen, aber er musste zugeben, dass es sich aus dem Mund seines Großvaters nur halb so schlimm anhörte.
"Wir müssen nicht zusammen essen, wenn du müde bist, Grandpa."
"Red keinen Unsinn, Junge." Und als wäre nichts gewesen, setzte er sich ein wenig aufrechter hin und hielt Parker eine Scheibe Brot vor die Nase. Wie so etwa jeder Teenager, den er kannte, verabscheute auch Parker alles, was nicht fritiert und oder wenigstens gekocht war. Aber es half ja nichts.
Wenn sein Grandpa so müde war, dass er beim Warten einschlief, sollte er sich vielleicht sogar glücklich schätzen, dass er keinen Stunt am Herd unternahm. Er wollte sich lieber nicht vorstellen, was passieren konnte, wenn Grandpa beim Kochen wegnickte. Bilder von Wohnräumen, die sich mit schwarzem Rauch vollzogen, CO2-Leichen auf dem Sofa und einem Großaufgebot der Feuerwehr in dieser kleinen Straße bildeten sich vor seinem inneren Auge ins Parker schüttelte seinen Kopf um sie zu vertreiben.
Sie aßen eine Weile schweigend. Grundlegend hatte Parker keinen Bedarf die Stille zu füllen, doch heute kam er sich undankbar vor. Und noch schlimmer als das Gefühl, war seine Unfähigkeit damit umzugehen. "Danke für das Abendbrot", nuschelte er daher unbeholfen.
Sein Grandpa winkte ab. "Gehen wir noch in die Garage, oder bist du zu müde?"
Parker spürte seine Augenbrauen empor schießen. Bot sein Grandpa ihm gerade an, gemeinsam das Motorrad zu reparieren? "Ja, gern."
***
Als sie die Turmuhr in der Ferne 23 Uhr schlagen hörten, erhob sich sein Grandpa steif. Er zeigte auf die Garagentür. "Ich werde jetzt ins Bett gehen, Junge. Ich denke, du solltest auch für heute Schluss machen. Morgen kriegen wir sie bestimmt zum Laufen."
Parker sah auf und betrachtete seinen Grandpa zum wiederholten Male an diesem Abend genauer. War er vorher fröhlich gewesen, so müde und gebrechlich wirkte er jetzt. "Geh schon vor, Grandpa. Ich komme gleich nach."
Die Maschine war fast fertig. Es konnte nicht mehr viel fehlen, bis sie wieder lief. Er würde nur noch zwei, drei Handgriffe machen und dann ebenfalls ins Bett gehen. Eh Parker sich versah, schlug die Uhr erneut und kündigte den neuen Tag an. Und mit dem letzten Gong sprang die Maschine an.
Parker stieg auf und lenkte das Gefährt für eine kleine Proberunde auf die Anwohnerstraße. Der laue Abendwind blies in sein Gesicht und er schloss einen kurzen Moment die Augen. Er war frei. Wenn auch nur für einen Augenblick mitten in der Nacht.
Ohne darüber nachzudenken lenkte er das Bike an die nächste Tankstelle, füllte den Tank, und fuhr weiter bis ihm die Straßen wieder bekannt vorkamen und er sich am anderen Ende der Stadt wiederfand. Von hier aus war er nur ein Katzensprung zu dem Track und dem Waldstück dahinter. Er bog von der Hauptstraße ab.
Vor den Tracks blieb er stehen. Zu gern würde er darauf eine Runde drehen, aber er hatte keine Zeit. Wenn er schon Mal hier war, würde er seine Zeit effektiv nutzen. Die Strecke würde warten müssen. Er sandte Race eine Nachricht und fuhr tiefer in den Wald hinein. Den traurigen Blick der Strecke spürte er auf sich, wie ein Verräter den Dolch im Rücken. Doch er zwang sich weiter zu fahren.
Hoffentlich hatte Race sich vernünftig um die Pflanzen gekümmert. Er konnte sich nicht ausmalen wie er reagieren würde, wenn er herausfinden würde, dass sein bester Freund ihn hintergangen hätte. Doch als er sein Bike abstellte und in die Tiefen des Waldes stapfte, sah er sein improvisiertes Gewächshaus, das beinahe aus seinen Nähten zu platzen drohte.
Erleichtert stieß er die Luft aus und ließ die Umgebung auf sich wirken. Gott, er war wochenlang nicht hier gewesen. Alles hätte den Bach runtergehen können. Doch zu sehen, dass alles gut gegangen war, setzte unzählige Endorphine in ihm frei und bescherte ihm ein unglaubliches Glücksgefühl. Es war beinahe besser als Sex.
All die Sorgen waren völlig umsonst gewesen. Aber vielleicht hatte selbst das beschisstenste Leben auch Mal ein bisschen Glück verdient.
Einen Moment später hörte er einen leisen Motor und kurz darauf ächzte und knackte der Wald nur so vor sich hin. "Alter, was ist das denn für'ne Rostlaube? Brauchst du ein vernünftiges Bike? Du kannst Betty haben, solange du kein eigenes Bild hast. Ehrlich, das macht mir nichts aus."
Parker musste schmunzeln. Das war Race, wie er leibte und lebte. Es tat gut zu sehen, dass sich nichts verändert hatte. Alle seine Bikes trugen Mädchennamen. Und Betty war nicht Mal das schlechteste Bike. Doch Parker musste sich eine Weile an die Regeln seiner Mutter halten. Mehr oder weniger.
Ein bisschen zusätzliches Geld würde sie auch dankbar annehmen. Zumindest, wenn er es ihr unauffällig unterjubelte. Hier ein "wiedergefundener" Fuffi im Portemonnaie, da ein "vergessener" Zwanziger in der Hosentasche. Es tat ihrer Haushaltskasse gut.
"Danke, Mann. Aber ich hab im Moment keine Zeit zum Fahren. Ich wollte nur ein bisschen -" Er ließ den Satz unvollständig und zeigte stattdessen auf die Plane seines Mini-Gewächshauses.
Race nahm den Rucksack vom Rücken und hielt ihn Parker hin. "Ich versteh schon. Hier ist die Ernte vom letzten Monat. Ich hab mich genau an den Plan gehalten."
Parker griff nach dem Rucksack und öffnete ihn. Er staunte nicht schlecht, als er sah, wie viel Gras Race über den Sommer geerntet, getrocknet und abgepackt hatte. "Danke. Hast du dir schon seinen Anteil genommen?"
Race schüttelte den Kopf. "Brauchst du nicht."
"Klar doch, ohne dich wäre das alles hinüber." Er griff in den Rucksack und gab Race eines der größeren, unvorbereiteten Päckchen. "Rauch nicht alles auf einmal", sagte er mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
Race fiel in sein Lachen ein. Gemeinsam drehten sie sich jeder eine Tüte und rauchten sie im trauter Stille.
"Wie ist es zurück Zuhause?"
Parker zog an seiner Tüte. "Es fühlt sich nicht mehr wie Zuhause an", sagte er mit voller Überzeugung. Dann hielt er inne. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr merkte er, dass das nicht stimmte. Das Leben mit seinem Großvater fühlte sich verdammt nach Zuhause an.
Auch Race schien zu merken, welche Gedanken in ihm vorgingen. "Macht ja nichts. Nächstes Jahr wären eh alle getrennte Wege gegangen." Er lachte. "Jedenfalls, die, die den Abschluss geschafft hätten."
Mit einem leichten Gefühl gaben sie sich ihrem Gelächter hin. Sie quatschten über den Sommer, den Parker erlebt hatte, was hier auf dem Track passiert war und alles dazwischen.
Als die Sonne zu dämmern begann, erhoben sie sich beide schwerfällig. Auch, wenn sich bei seinem Großvater wohl fühlte, fiel ihm er Rest der Tage schwer. Leichter wäre es, vor allem nach dieser Nacht, am nächsten Morgen vor seiner Schule aufzuschlagen, in dem Wissen, lauter bekannte Gesichter zu treffen.
Race half Parker, vier große Töpfe auf dem Motorrad zu verstauen. Als sie die Wald verließen und die Tracks passierten, bot Race ihm sein Bike für eine Runde an. Diesmal willigte Parker ein und fuhr eine leidenschaftliche Runde.
Dann machte er sich auf den Heimweg. Wenn er jetzt nicht den Bullen ins Netz ging, konnte er seinem Großvater gleich morgen früh ein paar Krümel Gras in den Tee geben. Und die Willow High ein bisschen aufmischen.
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