blaues Meer
Das Meer leuchtet tiefblau und ist so klar, dass ich weithin sehen kann. Das Wasser umschmeichelt meinen Körper, bietet mir Widerstand und Halt zugleich und teilt sich bereitwillig vor meinen Armen, die mich sicher durch dieses endlose Blau tragen.
Ich schwimme mit offenen Augen, um alles um mich herum sehen zu können. Im Riff, über welches ich gerade gleite, blitzen unzählige Farben auf. Jede Koralle, jede Seeanemone scheint ihre eigenen Farben ausgewählt zu haben.
Hirnkorallen bilden dunkelgelbe Polster, zartrosa Seedahlien drängen sich zwischen sie und suchen mit ihren Tentakeln das Meer nach Nahrung ab. Die Spitzen ihrer Tentakel sind heller gefärbt und so sieht es aus, als trügen sie lauter winzige Laternen. Ein winziger, schwarzgelber Fisch kommt einer dieser Dahlien zu nahe, wird ergriffen und sogleich verschlungen. Ich bilde mir ein, die Seedahlie genüsslich schmatzen zu hören, aber das gaukelt mir meine Einbildung lediglich vor.
Giftgrüne Riesenanemonen machen sich daneben breit; sie heben sich deutlich vom blauen Wasser, aber auch von den beigefarbenen, lichtbraunen und grauen Steinkorallen ab, die sich zwischen ihnen angesiedelt haben. Daneben strahlen knallorange Seefedern auf, die sich sacht in der Strömung wiegen. Eine Zylinderrose streckt ihre fadenförmigen Tentakel weit aus und zieht sie dann rasch zurück, als sie die Turbulenzen erreichen, welche meine Schwimmbewegungen verursachen.
Ein Dornenkronenseestern in tiefem Dunkelrot und zartem Lavendelblau klettert langsam über die Korallen hinweg und sucht sich wohl die leckerste Beute aus. Fressen wird er erst in der Nacht. Er kann auch ruhig warten, denn die Korallen können ihm nicht fortlaufen. Wenn ihn nicht einer der blaugrauen Riesenzackenbarsche entdeckt, die gelassen über das Riff hinwegschweben, hat der Seestern nichts zu fürchten, die ausgesuchte Koralle aber umso mehr.
Kleine Fische huschen über das Riff, suchen nach Kleinstlebewesen, die sie fressen können, ohne selbst zur Mahlzeit zu werden. Winzige Ruderfußkrebse weiden Algen ab, immer auf der Hut vor den Korallen und den Anemonen. Putzergarnelen stelzen über die Blumentierchen hinweg auf der Suche nach Nahrungsresten, die zwischen den Tentakeln und Ästen hängengeblieben sind.
Ich blicke euphorisch umher, tauche ein in diese Farbenpracht, in welcher mir mein Körper blass und fahl erscheint, nehme soviel wie möglich davon in mir auf, um mich später an der Erinnerung erfreuen zu können. Mir ist bewusst, dass das, was ich hier sehe, nicht wirklich ist und ich in der Realität nicht die Fähigkeit besitze, so tief ins Meer zu tauchen und all dies mit eigenen Augen zu sehen. Das hier ist ein Traum oder eine Vision; das kann ich nicht immer eindeutig unterscheiden. Ein eindeutiges Indiz dafür ist, dass ich das Wasser atmen kann wie Luft, was mir in Wirklichkeit nicht möglich wäre.
Das stört mich aber nicht. Dieser Traum ist im Gegensatz zu den meisten, die ich nachts durchlebe, einmal wunderbar belebend und beruhigend zugleich und ich werde ihn auskosten, solange ich kann.
Etwas streift mich an der Seite; es brennt und juckt auf der Stelle. Erschrocken weiche ich zurück und sehe nach, was mich da berührt hat.
Es sind türkisfarbene, schwere, ölige Schlieren, die von oben kommen und sich auch hier unten kaum verteilen. Erst wenn sie ein lebendes Wesen berühren, verteilen sie sich, hüllen das Wesen, sei es Fisch, Anemone oder Koralle, völlig ein und überziehen es mit dem eigenen, grellen, unnatürlichen Schein, bis die eigentliche Farbe des Wesens nicht mehr zu erkennen ist.
Entsetzt sehe ich mich um. Immer mehr dieser Schlieren kommen von oben und verteilen sich über dem Riff, nehmen ihm immer mehr von seiner Vielfarbigkeit. Die Geschöpfe, welche von den Schlieren erfasst werden, scheinen zu schrumpeln und zu schwinden, bis bloße Skelette dessen übrigbleiben, was sie einstmals gewesen sind. Binnen kurzem ist das ganze Riff zerstört.
Und noch immer sinken weitere Schlieren herab, bis auch die tiefblaue Farbe des Meeres nicht mehr wahrzunehmen ist. Jetzt hüllen sie auch mich ein, überziehen mich immer weiter mit diesem grellen, türkisfarbenen Film. Ich will fortschwimmen, aber der Schleim auf meiner Haut behindert mich zu stark. Ich will schreien, aber die Schlieren dringen in meinen Mund ein und durchdringen mein Inneres. Ich will wenigstens noch atmen können, aber inzwischen sind auch meine Lungen damit überzogen.
Und schließlich ist auch mein Gehirn mit diesem ekligen Türkis gefüllt, bis ich nichts anderes wahrnehmen kann.
Schweißgebadet fahre ich auf, den begonnenen Schrei noch immer auf den Lippen. Es gelingt mir jedoch, ihn zu unterdrücken. Ich bin nicht erpicht darauf, dass meinem Vater wieder Berichte über meine Alpträume vorgelegt werden. Und dann wieder einmal bei einer Sitzung des Kronrates zur Sprache kommt, dass man endlich etwas mit dem zweiten Prinzen unternehmen muss, bevor es im Volk die Runde macht, dass er verrückt ist.
Ich lasse mich wieder in die Kissen zurücksinken, lausche dem rasendem Schlag meines Herzens und versuche mich wieder zu beruhigen. Es ist doch nur ein Traum gewesen. Einer von der Sorte, der mir zeigt, wie erstickend und erdrückend der Alltag im Palast für mich ist. Dass ich nicht der Kronprinz und nicht der designierte Erbe bin, entbindet mich nicht von allerlei Verpflichtungen und sogenannten Privilegien, von denen die meisten mir nur unangenehme Lasten sind.
Die beginnende Dämmerung sagt mir, dass es sich nur noch um Minuten handeln kann, bis meine persönliche Magd eintrifft, um mich für den Tag vorzubereiten. Wenn ich dann gewaschen, angezogen und gelabt worden bin, wird der Adjutant meines Vaters mich aufsuchen und mir meine Termine für den Tag vorlesen. Die Liste, von welcher er abgelesen hat, lässt er dann für mich liegen, damit ich nicht behaupten kann, das eine oder andere überhört oder vergessen zu haben.
Besagte Termine werden ohne Absprache und in der Regel auch ohne mein Wissen festgelegt. Nicht selten kommt es vor, dass ich mich nach der Bekanntgabe gleich wieder umziehen muss, weil ich mich für das Training mit den Rittern angekleidet habe, mir aber befohlen worden ist, mich für den offiziellen Besuch bei einem Adeligen bereit zu machen oder an einer Morgengesellschaft teilzunehmen, von der ich zuvor nichts gewusst habe.
Zwischen dem Wecken durch das Dienstmädchen und dem Verlesen der Liste lässt man immer mindestens zwei Stunden vergehen. Ich brauche keine zwei Stunden, um mich zu waschen und anzukleiden, aber man rechnet damit, dass Prinzen noch andere Bedürfnisse haben. Es hat seinen Grund, warum mein Vater Leibdiener hat, mein Bruder und ich aber Mägde, die natürlich Paria sind, Rechtlose, die sich nicht gegen die Behandlung auflehnen können, die sie im Palast erfahren.
Von meinem Bruder weiß ich, dass er dies auch weidlich ausnutzt. Mich widert die Vorstellung an, einer Person beizuliegen, die sich nicht wehren kann. Und die Dienstmädchen sind aus eben diesem Grund niemals eine Versuchung für mich gewesen. Bis vor kurzem jedenfalls.
Seit meinem fünfzehntem Lebensjahr ist diese Einteilung meines Morgens üblich, also seit vier Jahren. Und seit vier Jahren genieße ich diese geschenkte Zeit. Anstatt mich mit der Magd im Bett zu wälzen, wälze ich lieber dicke, schwere Folianten mit Abhandlungen über Magie, Alchemie, Geschichte und Biologie. Auch heute liegt wieder ein Buch auf meinem Tisch bereit, diesmal die Theorie über die Entstehung der Arten. Die meisten Gelehrten verlachen die diesbezüglichen Thesen des Drivan, mir scheinen seine Gedanken aber sehr einleuchtend und nachvollziehbar zu sein. Ich hoffe sogar, dass ich den Mann einmal persönlich treffen und mich mit ihm darüber unterhalten kann. Ich habe nicht nur viele Fragen an ihn, sondern auch etliche Anregungen und Vorschläge für weitere Forschungen.
Aber vor dem Lesen kommt die Morgenroutine, die ich erst einmal überstehen muss. Seit einigen Wochen habe ich Probleme damit. Keine der Mägde, die man mir gesandt hat, hat mich bisher besonders interessiert. Zumindest nicht in der Hinsicht, die man sich bei deren Auswahl gedacht hat.
Diese hier ist anders. Ihr gegenüber bin ich schüchtern, drücke mich davor, ihr Befehle zu erteilen und weiß nie, was ich ihr sagen soll. Ich will sie nicht wie eine Dienerin behandeln, kann sie aber auch nicht wie eine Gleichgestellte ansprechen. Infolgedessen weiß ich nicht einmal ihren Namen.
Ich weiß nur, dass sie klare, graue Augen hat, in denen sich die Farben ihrer Umgebung wiederspiegeln und einen geschwungenen Mund, der mich zum ersten Mal in meinem Leben darüber hat nachdenken lassen, wie es sein mag, von einer Frau geküsst zu werden. In ihrer runden, zarten Wange verbirgt sich ein Grübchen, welches manchmal zum Vorschein kommt und ein wenig von dem Geist hinter dem ausdrucklosen Gesicht ahnen lässt. Sie besitzt kleine, breite Hände mit schlanken, kräftigen Fingern, braun wie Marderfell, die ich viel lieber ergreifen möchte als die weißen, spinnenartig langen, schmalen Hände der Adelstöchter, die mir in Massen vorgestellt werden.
Ihr Körper bewegt sich frei unter dem lockeren Kleid und der formlosen Schürze, welche die Mägde tragen und ist nicht von mehreren Lagen Stoff eingehüllt und in enge Korsetts und Konventionen eingezwängt. Ihre Bewegungen sind schnell und zielgerichtet anstatt träge und unbestimmt und ihre Schritte leicht und ungezwungen. Sie spricht leise und klar, weder überakzentuiert noch „vornehm" näselnd, wie es zurzeit unter den höheren Töchtern üblich ist und mich nur abstößt.
Das meiste davon sind Eigenschaften, wie andere Dienstmägde auch aufweisen. Aus irgendeinem Grund jedoch sind sie mir bei ihr zum ersten Mal aufgefallen. Sachlich betrachtet hat sie nichts, was sie von den anderen Bediensteten unterscheiden würden, trotzdem sticht sie für mich aus der gesichtslosen Masse der Subalternen heraus. Und sie fasziniert mich wie keine Frau je zuvor, sei es Adelige, Bürgerstochter oder Dienstmagd.
Aber genau das ist der Grund, warum ich nicht mir ihr reden kann. Wenn ich ihr nur Befehle erteile, wird sie denken, dass sie für mich nur eine Magd unter vielen ist. Wenn ich sie vertraulich anspreche, wird sie das als Zeichen sehen, dass sie mir ins Bett folgen soll. Das Gleiche wird sie denken, wenn ich ihre Hand berühre, darum vermeide ich das unbedingt. Und frage mich gleichzeitig, ob es vielleicht einen noch schlechteren Eindruck auf sie macht, dass ich jedes Mal zurückweiche, wenn sie mir zu nahe kommt.
Ich möchte sie wie eine Gleichgestellte behandeln, wie eine Freundin oder Schwester. Wobei sich mein Körper noch ganz andere Dinge vorstellen kann, aber das kann und will ich nicht gegen ihren Willen mit ihr tun. Und ich habe keine Ahnung, wie ich sie bewegen kann, sich freiwillig mit mir abzugeben.
Ich habe sie mit anderen Mägden fröhlich scherzen hören und dabei gesehen, dass sie auch lachen kann. Mir zeigt sie immer eine ernste, ausdrucklose Miene, hinter der sie ihre Gedanken verbirgt. Mein Bruder nennt die Mägde Puppen, weil sie immer den gleichen Gesichtsausdruck haben, sich auf den Platz begeben, den er ihnen zuweist und nur nachplappern, was ihnen beigebracht worden ist.
Ich habe die Dienstboten niemals so gesehen und bei dieser einen Magd ist es mir gänzlich unmöglich, sie anders als einen eigenen, selbstbestimmten Menschen wahrzunehmen. Und ich will sie nicht die eingelernten Worte sagen hören. Ich möchte mit ihr über allerlei und nichts sprechen oder stumm neben ihr sitzen und ihre Gegenwart genießen, wie ich es bereits tue, wenn ich lesend am Tisch sitze und sie beinahe geräuschlos durch den Raum huscht und aufräumt. Oftmals verstreue ich absichtlich meine Kleider überall, damit sie länger zu tun hat und ich sie dabei beobachten kann. Dann wieder schäme ich mich dafür; es ist ja nicht so, als würde sie unter Arbeitsmangel leiden.
Mitten in meine Überlegungen hinein öffnet sich die Tür und ich lausche den leisen Schritten, die sich nähern. Sie ist es wieder; ich höre ihren Schritt mühelos aus vielen anderen heraus. Erleichtert atme ich auf. Jeden Morgen, kurz bevor sie eintritt, ergreift mich die Panik, der Haushofmeister könnte sie ausgetauscht haben. Ich traue mich nicht, ihm zu sagen, dass er sie auf ihrem derzeitigen Posten belassen soll, denn er würde hinter meinem Wunsch etwas anderes vermuten und nicht nur mich und sie belauern, sondern auch meinen Vater davon informieren, dass sein zweiter Sohn endlich erwachsen wird.
Als erstes hat sie wie immer das Feuer angeschürt. Leises Klappern verrät mir, dass sie nun den Tee auf den Tisch stellt und das Plätschern darauf deutet darauf hin, dass sie das Waschgeschirr vorbereitet. Dann wird es still. Sie scheint jeden Morgen zu überlegen, ob sie mich wecken soll oder lieber schlafen lassen. Manchmal warte ich, bis sie sich ein Herz fasst und mich anspricht. Heute habe ich dazu keine Lust.
„Guten Morgen", sage ich daher und setze mich auf.
Sofort blickt sie zu Boden und knickst. „Guten Morgen, Eure Hoheit."
Vielleicht ist es der Alptraum, der mich daran erinnert hat, wie schnell das Leben vorbei sein kann, vielleicht sind es meine Überlegungen an diesem Morgen. Jedenfalls formt sich die Frage, die mich schon lange umtreibt, auf meinen Lippen und rutscht heraus, bevor ich sie zurückhalten kann: „Wie heißt du eigentlich?"
Sie zuckt zusammen, als ich ihr diese persönliche Frage stelle. Verständlich, ich habe das noch keine Magd gefragt. Aber sie gibt mir Antwort, wenn auch noch leiser als sonst: „Anemone, Eure Hoheit."
Anemone? Habe ich etwa darum von Seeanemonen geträumt? Oder ist das nur Zufall?
„Schöner Name", bringe ich heraus und spüre, dass ich rot werde. Etwas Banaleres konnte mir wirklich nicht einfallen.
Ich stehe auf und gehe zum Waschgeschirr. Sofort dreht sich Anemone um; sie weiß, dass ich es hasse, wenn sie mich beim Waschen beobachtet. Sie ahnt aber nicht, dass ich nur Angst vor der Reaktion meines Körpers auf ihre Anwesenheit habe.
Nachdem ich mich gewaschen habe und in Tunika und leichte Hosen geschlüpft bin, kommt sie an den Tisch und schenkt mir den Tee ein. Ich schäme mich noch immer meiner dämlichen Bemerkung wegen und traue mich kaum, sie anzusehen. Stattdessen beobachte ich ihre Hände, welche die Teekanne sicher halten und mir die Tasse hinschieben. Und danach all das andere bereitstellen, was ich zum Frühstück brauche, Besteck und Teller, Brot, Käse, Trauben, Ei, Milch und Hafer.
Es dauert eine ganze Weile, bis mir auffällt, das etwas anders ist als sonst. Etwas an ihr hat sich verändert und das hat nichts damit zu tun, dass ich sie nach dem Namen gefragt habe.
Ein eigenartiger Schimmer liegt auf ihrer Haut, der vorher nicht da war. Und dessen Farbe, so schwach sie ist, mir auf fatale Weise bekannt vorkommt.
Plötzlich stelle ich ihr ein zweites Mal an diesem Morgen eine Frage, die nicht zum üblichen Ablauf gehört:
„Warum leuchtest du blau?"
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