Kapitel 45


Amber

Sie hat Henry im Raum gespürt, doch hat sich nicht anmerken lassen, dass sie wach war. Was nicht sonderlich schwer zu spielen ist, da Amber sich schwach fühlt. Raven hat sie hart erwischt. Ihr ganzer Körper schmerz fürchterlich. Ihr Gelenk brennt und pocht unaufhörlich. Jeder Atemzug bereitet ihr Qualen, da sich die gebrochene Rippe gegen den Lungenflügel pickst. Und ihr Bauch? Der ist blau und Violett angelaufen. Amber würde es nicht wundern, wenn sie Dutzende innere Blutungen hat und bald für immer die Augen schließt. Doch vorerst, muss sie hier raus.

Sie blickt zu Tom hinüber, der ebenso mit der Ohnmacht kämpft. Seine Stirn glänzt vor Schweiß, der ihm tropfenweise hinab läuft. Seine Atmung ist angestrengt und sieht ebenfalls qualvoll aus. Aber er ist wach. Das war er die letzten Stunden nicht und Amber hatte bereits Angst, dass es zu spät ist. 
Henry hat mit ihm geredet. Über was, hat Amber kaum verstanden, doch als er gegangen ist, war ihr Mann wütend. Gut so! Sie würden sich nicht brechen lassen. 

„Sieh mal was ich habe", flüstert sie in die Stille des Kellers und hält die kleine Nadel empor. „Ich hole uns hier raus."

Sie sieht, wie er leicht den Kopf schüttelt, doch sie lächelt ihn an, obwohl es sie verdammt viel kostet. Ihr ist nicht zum Lächeln zumute. Am liebsten würde sie sich in die Ecke verkriechen und bitterlich weinen. Denn so fühlt sich Amber. Doch sie ist stark. Sie muss stark sein. Erst wenn sie geflohen ist, kann sie sich ausruhen und endlich ihren Gefühlen erliegen.

Unter ächzenden Lauten richtet sie sich auf und greift nach der Kette, an dem ein altes Schloss hängt. Sie steckt die Nadel hinein und stochert herum, obwohl sie nicht weiß, wie das funktioniert. In den Filmen klappt es ja auch immer. Ein bisschen links, hoch, runter und meistens macht es Klick und man ist frei. Doch es ist viel schwerer als erwartet.

Minutenlang stochert sie in dem Loch herum und je länger sie braucht, desto frustrierter wird Amber. Was ist, wenn es nicht klappt? Wenn alles umsonst war? 

„Verdammt", flucht sie laut, als sie abermals abrutscht.

Seufzend lehnt sie ihren Kopf an die kühlen Fliesen. Ihr Arm tut bereits von der permanenten Anstrengung weh. Sie ist mindestens seit Stunden dran und hat nichts erreicht. 

„Verdammt", haucht sie leise.

Doch sie muss es schaffen. Henry würde irgendwann wieder kommen oder noch schlimmer. Raven. Denn mittlerweile hat sie mehr Angst vor ihm als vor ihrem Mann. 

„Ich schaffe das", murmelt sie und hebt abermals die Hand mit der Nadel. „Ich muss es schaffen."

Nach weiteren Minuten oder Stunden, Amber konnte es nicht sagen, da ihr jegliches Zeitgefühl fehlte, klickt es plötzlich. Wie erstarrt hält sie inne, als sie spürt mit der Nadel etwas getroffen zu haben. Langsam atmet sie aus und versucht, abermals gegen den Mechanismus zu drücken. Als ein weiteres Klicken ertönt, hätte sie fast gejubelt. Die Manschette löst sich von ihrem Gelenk und fällt klirrend auf den Boden.

„Ich habs", jubelt sie und wendet sich zu Tom. „Ich bin frei."

Er sieht sie an, doch Amber merkt, wie nahe er der Ohnmacht bereits wieder ist. Sie erhebt sich unter Anstrengung und eilt zu der Werkbank, um sich eines der Messer zu schnappen.

„Wir kommen hier raus", spricht sie mehr zu sich selbst, als sie an Tom ran tritt und seine Fesseln durchtrennt. Anschließend nimmt sie ihm den Knebel aus dem Mund und ein Seufzen entgleitet seiner Kehle.

„Amber", haucht er und klingt dabei so unfassbar schwach.

„Nicht reden", fordert sie. „Ich hole dich hier raus. Du darfst nur nicht ohnmächtig werden. Verstanden. Sonst schaffe ich das nicht."

Sie berührt sein Gesicht und spürt, wie er unter ihren Händen glüht. Verdammt, er hat Fieber und das nicht gerade wenig.

Sie schnappt sich ihre Kleidung, die auf dem Boden liegen und wirft sie sich schnell über, um nicht nackt durch die Kälte zu fliehen, ehe sie wieder zu Tom tritt, der sich gerade so auf dem Stuhl halten kann.

„Na los. Hilf mir", fordert sie ihn auf.

„Verschwinde", haucht er ihr zu. „Lass mich hier."

Sie legt sich einen seiner Arme um die Schulter und schüttelt den Kopf.

„Nein. Entweder wir beide oder keiner. Ich lass dich nicht hier."

Sie befördert ihre letzten Kraftreserven, um ihn auf die Beine zu hieven und versucht, den Schmerzensschrei ihres Körpers zu verdrängen. 

„Bitte Tom. Gib nicht auf", fleht sie, da sie ihn nicht vom Stuhl hochbekommt.

„Verschwinde", knurrt er sie leise an.

„NEIN", schreit Amber zurück und lässt ihn los nur um sich vor ihm zu stellen.

Abermals nimmt sie sein Gesicht in ihre Hände und zwingt ihn, sie anzusehen.

„Ich gehe nicht ohne dich", spricht sie langsam und mit Nachdruck. „Hör, auf dich aufzugeben, Tom. Ich brauche dich. Bitte."

Eine Träne gleitet über ihre Wangen und landet auf seinem Oberkörper, der von Henry gefoltert wurde. Aber die Schnitte würden heilen und Narben würden zurückbleiben. Ein Körper regeneriert sich, was bleibt, ist die Erinnerung an die Qualen und den Schmerz. 

„Steh auf", fordert sie laut und deutlich.

Abermals schlingt sie seinen Arm um ihre Schulter und dieses Mal hilft er ihr, indem er sich mit einem gequälten Laut emporhebt. 

„Mein Bein", knurrt Tom. 

Stimmt. Henry hat es gebrochen. Sogar jetzt hört sie noch das Knacken des Knochens. Er muss immense Schmerzen haben, doch nun pumpt Adrenalin durch seine Venen und lässt ihn zumindest bei Bewusstsein. 

„Wir schaffen das", brummt Amber und setzt einen Fuß vor den anderen.

Gemeinsam schaffen sie es zur Stahltür, wenngleich im Schleichtempo und enormer Anstrengung. Zwar hilft ihr Tom und bewegt sich mit, aber sein Gewicht liegt schwer auf ihr und Amber hofft, nicht unter ihm zusammenzubrechen. Langsam öffnet sie die Tür und ist erleichtert, dass sie nicht abgesperrt ist. Leise schleppen sie sich die Treppen empor, müssen aber nach jeder zweiten Stufe eine Pause machen, da das Heben des Beines Tom an seine Grenzen bringt.

„Du schaffst es nicht mit mir, Amber", brummt er abermals. „Du musst mich hierlassen oder wir sterben beide."

Sie ignoriert ihn, denn das, was sie sagen würde, hätte nichts geändert. Amber würde lieber sterben, als ihn zurückzulassen. Doch ihm dass zu sagen, würde nichts bringen.

„Wir haben es gleich geschafft", haucht sie, als sie die letzten beiden Stufen zur Kellertür erreichen.

Doch der schwierigere Teil kommt erst. Sie müssten das Gelände verlassen. Jedoch stirbt sie lieber bei dem Versuch zu fliehen, als angekettet im Keller.

Tom brummt was kurzzeitig, wie ein Lachen klingt und Amber irritiert zu ihm aufblicken lässt. Tatsächlich umspielt ein gequältes Lächeln seine Lippen und erleichtert seufzt sie. Henry hat ihn nicht gebrochen. Die Wunden werden heilen und Tom könnte ein normales Leben führen. 

„Dein Optimismus gefällt mir", flüstert er und lässt Amber ebenfalls grinsen.

Mit neuem Mut öffnet sie langsam die Kellertür und tritt den Gang hinaus. Leise schleichen sie über den Teppich. Biegen mehrmals ab. Immer öfter machen sie Pausen, damit sich Tom kurz sammeln kann. 

Als sie sich weiter Richtung Eingangshalle schleppen und noch keinem begegnet sind, hofft Amber, dass das Glück auf ihrer Seite ist.

„Los! Weiter", fordert sie leise, als sie, um die nächste Ecke biegen.

„Was?"

Panisch dreht sich Amber um, als eine Stimme hinter ihnen ertönt. Das Hausmädchen mit dem Veilchen am Auge sieht sie entsetzt an. Den Mund leicht geöffnet, unschlüssig ob sie nach Hilfe rufen sollte.

„Warte", schneidet Amber ihr die nächsten Worte ab. „Bitte."

Flehend sieht sie das Mädchen an. Sie ist jünger als Amber und um einiges dünner. Sie scheint aus Mexiko zu stammen, zumindest laut dem dunklen Teint zu urteilen. 

„Hat Henry das getan?", fragt Amber weiter, als das Hausmädchen sich immer noch nicht rührt. Wenigstens schreit sie nicht. Sie nickt.

„Dann bitte hilf uns hier raus und ich verspreche dir, er wird dir nie wieder etwas tun", flüstert Amber.

„Sie wird uns nicht helfen", flüstert Tom, der sich kaum noch auf den Beinen halten kann.

„Bitte!"

Das Hausmädchen scheint zu überlegen, ehe sie nickt und eine Erleichterung Amber durchströmt.

„Kommt mit", flüstert sie und winkt die beiden durch eine unscheinbare Tür, die hinter den Holzverkleidungen versteckt ist. Amber ist der Geheimgang nie aufgefallen. 

Sie folgen ihr, wenngleich sie nur sehr langsam vorankommen. Es ist ein Gang den das Personal nutzt, wie früher in den alten Schlössern. Das Henry so etwas in seinem Haus hat, hätte Amber vermuten müssen. Er hasst das Personal und wollte sie nie sehen. Daher schlafen die meisten auch zu mehreren Personen in kleinen Hütten, am Rande des Anwesen. Da viele illegal hier sind, bliebt ihnen nie eine andere Möglichkeit. Ohne gültige Personalien wären sie abgeschoben oder verhaftet worden. 

Niemand kommt ihnen auf ihrem Weg entgegen, daher tippt Amber, dass es früher morgen sein muss. 

Sie schleichen, durch die Küche, weiter in den nächsten Gang. Das Dienstpersonal hat ihr nie getraut, da sie Henrys Frau ist. 

Nur Maria! An die Gärtnerin zu denken bereitet Amber schmerzen. Er hat sie getötet, obwohl sie nicht wusste, dass sie auf der Ladefläche des Trucks lag. Nur deswegen musste sie sterben. Weil sie Amber nahe stand.

Jeder hatte Angst vor Henry, doch Maria hatte den Mut, sich mit ihr zu unterhalten und hat ihr in den drei Jahren den Rücken gestärkt. Und dafür hat sie mit ihrem Leben bezahlt!

Amber ermahnt sich. Jetzt an Maria zu denken zerrt an ihr. Sie würde später um die Gärtnerin trauern. Wenn sie in Sicherheit ist.

Es dauert gefühlt Stunden, als sie das erste Mal einen leichten Wind auf ihrem Gesicht spürt. Amber seufzt und schließt die Augen. Es fühlt sich so unreal an und dennoch ist es das beste Gefühl seit langem.

„Ihr müsst zwischen die Bäume, bis zum Zaun. Da ist ein kleines Loch, durch das ihr euch quetschen könnt", spricht das Hausmädchen, dessen Name sie nicht mal kennt.

„Danke. Für alles", flüstert Amber und tritt mit dem schwächer werden Tom hinaus.

Es ist noch dunkel, doch eine leichte Morgendämmerung beginnt am Horizont.

„Halt dich an dein Versprechen", flüstert sie und verschwindet bereits wieder im Inneren.

Amber nickt, obwohl sie nicht mehr zu sehen ist, ehe sie Tom weiter Richtung Bäume schleppt. 

Von Minute zu Minute wird es schwerer. Tom stöhnt bei jedem Schritt, während sie ihren eigenen Schmerz kaum mehr spürt.
Als Tom jedoch plötzlich einknickt, kann sie das Gewicht nicht mehr halten und landet hart auf dem Waldboden.

„Nein. Tom. Bitte", haucht Amber.

Ihr ganzer Körper ist taub. Die Schmerzen sind verschwunden und sie spürt, dass die Ohnmacht an ihr nagt. Sterne tanzen vor ihren Augen. Mühselig dreht sie sich auf die Seite und betrachtet Tom, der mit geschlossenen Augen und schwer atmend neben ihr auf dem Bauch liegt. Schweiß perlt über seine Stirn. Er ist am Ende seiner Kräfte, ebenso Amber.
Kurz schließt sie die Augen. Wie es beginnt, soll es enden? Nahe an ihrem Ziel zusammenbrechen?
Doch dieses Mal würden weder Tom noch Eric sie retten. Sie greift hinüber und erwischt seine Hand. Leicht übt sie druck aus und ist froh als er ihn erwidert. Amber öffnet ihre Augen und sieht in seine dunkelbraunen Iriden. 

Langsam stemmt sich Tom empor, als hätte er neue Kraft geschöpft.

„Komm", haucht er.

Amber schiebt ihre Hände in die weiche Erde und drückt sich schwerfällig empor. Die Sterne werden mehr und immer wieder sieht sie die Dunkelheit vor sich. Tom hat es bereits ins Sitzen geschafft und lehnt an einem Baum. Die Augen abermals geschlossen, während seine Hand seinen Oberschenkel umklammert. Doch er ist wach, das zeigt sein Kontrolliertes ein und ausatmen. 

Amber kniet sich vor ihm, spürt selbst, was für schmerzen er haben muss: „Wir schaffen das", flüstert sie und beugt sich vor, um ihm einen Kuss auf die Wange zu geben.

Die Hitze seiner Haut lässt sie schlucken. Das Fieber ist weiter gestiegen. Angst breitet sich in ihr aus. Er darf nicht sterben, nicht kurz vor ihrem Ziel.

Die ersten Sonnenstrahlen dringen durch die Baumreihen und Amber erkennt den Zaun nur wenige Meter vor sich. Sie hatten es fast geschafft.

Das Rascheln von Blättern ertönt und Schritte, die über den Waldboden rennen, kommen Näher. Panisch blickt sich Amber um und Angst breitet sich in ihr aus. Sie verliert das Gleichgewicht und fällt auf den Hintern, als er sich nähert.

„Dummes Mädchen", haucht Raven und ist bereits über ihr.

Seine große Hand legen sich um ihren Hals und drücken schmerzhaft zu.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top