Kapitel 4
Amber
Als sie das nächste Mal aufwacht, befindet sie sich alleine im Raum. Stöhnend setzt sich Amber auf und greift sich an den Kopf. Er pocht unangenehm und fühlt sich warm an. Ein Grummeln in ihrem Magen, lässt sie blitzschnell aufspringen und eilig sprintet sie die Treppen hinunter, um ins Badezimmer zu gelangen. Gerade rechtzeitig beugt sich Amber über die Toilettenschüssel und übergibt sich. Hustend und würgend entleert sich das Frühstück vom heutigen Morgen. Oder ist bereits ein neuer Tag angebrochen?
Seufzend bleibt sie eine Zeitlang am Boden sitzen, um das Kreisen ihres Kopfes zu bändigen. Nachdem Amber das Gefühl hat, die Kontrolle über ihren Körper zurückerlangt zu haben, erhebt sie sich, um am Waschbecken ihr Gesicht zu waschen.
„Geht es wieder?"
Heftig zuckt sie zusammen, als Toms Stimme von der Tür zu ihr dringt. An der Türzarge lehnend betrachtet er sie besorgt, die Arme vor der Brust verschränkt. Er trägt dasselbe Shirt wie zuvor, also ist doch kein Tag vergangen. Schnell schnappt sie sich ein Handtuch, um ihr Gesicht zu trocken.
„War wohl etwas zu viel von den Pancakes", schmunzelt Amber.
„Man kann nie genug von Pancakes haben. Sie geben meinem Frühstück einen höheren Sinn!", grinst Tom zurück, doch der besorgte Ausdruck verschwindet nicht gänzlich. „Möchtest du mir unten Gesellschaft leisten?"
Sie nickt und legt das Handtuch beiseite, ehe sie auf ihn zugeht. Er hat sich nicht von der Tür wegbewegt, daher versperrt er ihr unweigerlich den Weg. Erst als sie direkt vor ihm steht, wird Amber der Größenunterschied deutlich bewusst. Sie war immer schon klein und zierlich und die meisten überragen sie. Doch ihm reicht Amber gerade so bis zur Brust, auf die sie nun blickt. Seine Hand legt sich auf ihre Stirn, daher sieht sie abermals zu ihm auf.
„Dein Fieber scheint gesunken zu sein", spricht Tom mehr zu sich selbst. „Das ist gut."
Seine Finger in ihrem Gesicht lassen ein seltsames Kribbeln auf ihrem Körper entstehen, dass Amber nicht zuordnen kann, da sie dies zuvor noch nie verspürt hatte. Doch ehe sie es einordnet, verlassen seine Finger ihre Haut und eine Kühle bleibt zurück.
„Komm mit. Ich könnte Hilfe beim Kochen gebrauchen", spricht er lächelnd. „Wenn du magst."
Wenn gleich ihr Magen bei der Vorstellung von Essen abermals zu rebellieren beginnt, nickt Amber. Ablenkung war schon immer die beste Medizin. Tom dreht sich grinsend um und steigt die Treppe vor ihr hinunter. Vorsichtig folgt sie ihm und betritt nach ihm die Küche.
Gemeinsam steht Amber mit Tom in der Küchenzeile, von Eric keine Spur, was sie nicht weiter stört, da sie nicht weiß, was sie von ihm halten soll. Er scheint ein Problem mit ihrer Anwesenheit zu haben.
Während sie Gemüse kleinschneidet, mariniert Tom das Hähnchenfleisch. Draußen tobt der Sturm immer noch, doch mittlerweile hat es aufgehört zu Regnen. Nur die Reste der dunklen Gewitterwolken befinden sich am Himmel und verfinstern den Mond.
„Wie geht es deinen Verletzungen?", fragt Tom abrupt.
Amber hält in der Bewegung inne. „Ähm. Ganz gut. Tut kaum weh", lügt sie.
Er wendet sich ihr zu und hebt wissend eine Augenbraue. Doch anstelle ihrer Lüge aufzudecken, bettet er die marinierte Hähnchenbrust in eine Auflaufform, ehe er das fertig geschnittene Gemüse dazu gibt und alles mit Brühe und Kräutern würzt.
„Jetzt müssen wir nur noch warten", erklärt Tom, als das Hähnchen im Ofen zu garen beginnt. „Möchtest du etwas trinken? Ein Bier? Rotwein? Weißwein? Eine Coke?"
„Ich glaube, ich bleibe erstmal bei alkoholfreien Getränken", antwortet Amber ihm, während sie sich auf einen der Barhocker setzt. „Eine Coke wäre nett. Danke."
Tom stellt ein Glas vor sie: „Lass mich wenigstens deine tiefen Wunden nochmal desinfizieren."
Ehe Amber nicken kann, steht er bereits mit einem Verbandskasten vor ihr. Geschickt und zärtlich tupft Tom mit Desinfektionsmittel über den Schnitt an ihrer Wange, ehe er ein Pflaster drauf klebt. Anschließend betrachtet er ihr Knie und wiederholt die Prozedur.
„Eric und du, seid ihr eigentlich ...", beginnt sie neugierig zu fragen, doch mitten im Satz wird ihr bewusst, wie intim diese Frage ist, daher spricht Amber sie nicht zu Ende.
„Was? Ein Paar? Schwul?", kichert Tom und lässt sie erröten.
„Ähm. Ja", murmelt sie verlegen.
„Nein", lacht Tom. „Aber die Frage muss dir nicht peinlich sein. So abwegig ist sie jetzt nicht. Zwei alleinstehende, sich nahestehende Männer, leben in einem Haushalt ohne Frau."
Er zuckt mit den Schultern und erhebt sich, nachdem er ihr Knie verarztet hat.
„Aber keine Sorge, wir sind hetero. Durch und durch", zwinkert er ihr zu und lässt Amber erröten.
„Nein... Ich hatte nicht deswegen gefragt. Nicht, dass ihr hässlich ... Also", stottert sie verlegen und abermals dringt ein dunkles Lachen aus Toms Kehle.
„Alles gut. Das war ein Scherz", schmunzelt er. „Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen."
Doch sein grinsen, sagt ihr etwas anderes. Tom genießt sichtlich, dass ihre sonst so blassen Wangen, rot glühen. Was hatte sie sich auch dabei gedacht, sofort die erste Frage in ihrem Kopf, laut auszusprechen.
„Ich kenne Eric seit der Schulzeit", erzählt Tom ihr und aufmerksam spitzt Amber die Ohren, begierig, mehr über die beiden Männer zu erfahren. „Er war der seltsame, schweigsame Neuzugang und wurde neben mir platziert."
Ein Schmunzeln legt sich auf seinen Lippen, als er unweigerlich an die Vergangenheit zurückdenkt.
„Eric war ein Außenseiter und hatte keine Freunde", verrät Tom lächelnd.
„Wenn er nur teilweise so grimmig war wie heute, kann ich es durchaus verstehen. Außerdem sieht er nicht gerade nett aus", antwortet Amber grinsend.
„Eric war ein schmächtiger zehnjähriger Junge, der kaum seinen Rucksack heben konnte", lacht Tom. „Aber ja. Grimmig war er früher schon."
„Was?", fragt Amber verwundert. „Niemals!"
Sie kann sich gar nicht vorstellen, dass dieser große, muskulöse und grimmig dreinblickende Mann ein schlaksiges Kind war. Wie denn auch?
„Oh doch", lacht Tom, als neben ihnen ein Wecker klingelt.
Er springt vom Hocker und öffnet den Backofen, aus dem es herrlich riecht.
„Das Hähnchen ist fertig", bestätigt Tom. „Würdest du Eric holen? Er ist oben. Dritte Tür links."
Nickend verlässt Amber die Küche und eilt die Treppen empor. Zählend bleibt sie vor der dritten Tür stehen, ehe sie zaghaft an das Holz klopft.
„Ja!", ertönt es von drinnen.
Langsam öffnet sie diese und späht in den Raum hinein. Dahinter erscheint ein lichtdurchflutetes Zimmer, mit bodentiefen Fenstern und dunklem Mosaikparkett. Der Innenraum erinnert an eine Mischung aus Bibliothek und Büro, aber nicht, das, was sie erwartet hatte. Neugierig betritt Amber den Raum. Eric sitzt hinter einem massiven Schreibtisch und blickt erst auf, als sie durch die Tür tritt. Doch ihr Blick schweift zu ihrer linken. An der Wand Reihen sich, bis zur Decke gehende, Regale, vollgestellt mit unzähligen Büchern.
„Wow", haucht sie ehrfürchtig, ehe sie diese entlang schlendert. „Hast du die alle gelesen?"
Wertschätzend streichen ihre Fingerspitzen über die Buchrücken. Einige sind alt und mit Lederband oder Leinen versehen, andere neue Werke bestehen aus Pergament und Pappe. Ihre Augen huschen über die unzähligen Namen. Von alten Romanen bis klassischen Krimis ist alles dabei.
„Nicht alle", antwortet Eric. „Mein Latein ist etwas eingerostet."
Irritiert wendet sie sich ihm zu und erhascht wie einer seiner Mundwinkel zuckt. Ansonsten sitzt er wie versteinert, mit verschränken Armen, in seinem schwarzen Lederstuhl und beobachtet jede ihrer Regungen.
„Man sieht dir nicht gerade an, dass du witzig sein kannst, aber der war gut!", kichert Amber. Doch als Eric nur eine Augenbraue hebt und sie mit ernster Mine betrachtet, ist sie sich nicht sicher, ob dieser Mann überhaupt dazu in der Lage ist, Witze zu machen. „Es sollte doch ein Witz sein, oder?"
Anstelle ihre Frage zu beantworten, beobachtet er sie weiterhin. Aus diesem Kerl soll man schlau werden!
Kopfschüttelnd inspiziert sie die Buchrücken und ist perplex, auch einige deutsche Autoren zu finden. Darunter der Thriller Schriftsteller Sebastian Fitzek oder Erich Kästner, ein bekannter Kinderbuchautor. Sprachlos blättert sie durch das Drama „Die Schule der Diktatoren". Es erstaunt Amber, dass das komplette Werk auf Deutsch geschrieben ist. Gebannt hält sie es in Erics Richtung, der mit den Schultern zuckt, ehe er sich erhebt und langsam den Schreibtisch umrundet.
„Ein interessantes Buch von Kästner, der die wiederkehrende Manipulierbarkeit der Menschheit und den Missbrauch politischer Macht thematisiert", erklärt er trocken, als würde er nicht gerade zugeben eine deutschsprachige Arbeit gelesen zu haben.
Mit erhobenen Augenbrauen stellt sie es zurück ins Regal, als ihr Stephen Kings Werke ins Auge fallen. Nicht nur dass, bemerkt Amber. Nein! Die Bücher sind alphabetisch nach Autoren geordnet, was sie schmunzeln lässt. Der Mann überrascht sie.
„Faszinierend, nicht wahr?"
Amber zuckt heftig zusammen, da sie nicht bemerkt hatte, wie Eric direkt hinter sie getreten ist. Wie konnte er sich nur so leise an sie heranschleichen, obwohl sie doch aufmerksam ist. Blitzschnell dreht sie sich um und stößt fast mit der Nase gegen ihn. Urplötzlich wird ihr seine Anwesenheit deutlich bewusst. Groß, breit, muskulös und mit einer dunklen Aura, die ihn umgibt, steht er nur wenige Zentimeter vor Amber. Ihre Nase kaum eine Buchlänge, von seiner Brust entfernt, zieht sie seinen männlichen Duft nach Zedernholz ein.
Ihr Herz klopft wild gegen ihre Rippen, als Eric seine Hände nach ihr ausstreckt und ein Buch über ihr aus dem Regal zieht.
„Ich denke, dass ist eher etwas für dich", grinst er und hält ihr einen Bestseller vor die Nase von Mona Kasten „Save Me".
Amber muss ihren Kopf in den Nacken legen, um ihn ins Gesicht zu sehen. Feine grüne Farbtupfen sind in diesem Azurblau gesprenkelt und lassen diese wie das türkise Meer aussehen, von dem sie lediglich Bilder gesehen hat.
„Du stehst auf die bösen Jungs. Habe ich recht?", möchte er süffisant wissen und reißt sie aus ihrem Schmachten heraus.
Niemals steht sie auf Typen wie Eric. Die kennt Amber zu Genüge aus dem echten Leben.
„Da muss ich dich leider enttäuschen", grummelt sie zurück und überfliegt den Klappentext über die BadBoy Liebesgeschichte. „Ich stehe auf Männer, die ihre Frauen achten und ehren. Sie auf ihren Händen tragen und jeden ihrer Wünsche von den Lippen lesen. Nicht auf so ungehobelte Ärsche wie James Beaufort oder dich."
Kurz scheint Eric verwirrt, ehe ein kehliges Lachen seine Lippen verlässt: „Du lügst!"
Empört schnauft Amber: „Ich lüge nicht!"
„Oh doch und weißt du, woher ich das weiß?"
„Interessiert mich nicht", brummt sie.
Eric grinst: „Deine kleinen Äuglein haben regelrecht geleuchtet, als du den Klappentext durchgelesen hast. Du kannst es dir gerne ausleihen und den Bad Boy anschmachten, der das Liebe Mädchen ignoriert und zerstört."
Sie würde es sich ausleihen, aber erst, wenn Eric es nicht mitbekommt. Grimmig stellt sie es ins Regal zurück und zerrt blind ein Buch von King heraus.
„Ich lese lieber das", antwortet sie gelangweilt. „Ist eher nach meinem Geschmack. Aber wenn du möchtest, kannst du es gerne lesen. Wenn du es nicht schon getan hast. Du weißt verdammt viel über das Buch."
Eric schnauft abwertend: „Diese Bücher sind alle gleich. Schüchternes, braves Mädchen verliebt sich in bösen, ungehobelten Schulrüpel. Mehr muss man nicht wissen."
Amber hebt ihre Augenbrauen: „Du hast es gelesen und die anderen Bad Boy Storys auch."
Eric beugt sich zu ihr herunter und ist ihr plötzlich verdammt nah, dass sie seinen Atem auf ihrem Gesicht spürt. Seine Hände stemmen sich zu beiden Seiten ihres Kopfes und alles in Amber schreit, zu fliehen. Doch mutig bleibt sie stehen, obwohl ihr das Herz heftig gegen die Rippen schlägt und ihr Körper zu beben beginnt.
„Die Frauen in diesen Büchern wollen uns Typen immer nur retten und hoffen, dass sie die eine ist, die es schafft", brummt Eric. „Mehr ist es nicht."
Grimmig sieht sie zu ihm empor, bereit ihm etwas zu erwidern, als Erics Blick sich auf ihre Lippen legt, die sie sich mit der Zungenspitze befeuchtet. Ein Verlangen funkelt in seinen eisigen Augen auf, dass Amber ihre nächsten Worte hinunterschlucken lässt. Eine Gänsehaut gleitet ihre Arme empor und lässt sie erschaudern.
Erics Blick wandert hinunter über ihren Hals und bleibt auf ihrem Körper hängen, der in das große T-Shirt, gehüllt ist. Sie sollte Angst und ekel verspüren. Doch ein neues Gefühl breitet sich in ihre aus. Eines, dass sie noch nie gefühlt hat.
Erregung!
Ihre Haut fängt unter seinem Blick zu prickeln an, während in ihrem Bauch ein flattriges Kribbeln entsteht. Ambers Hände zittern und die Innenflächen schwitzen. Diese Gefühle lassen ihr Herz wild gegen ihre Rippen schlagen. Warum fühlt sie sich so in seiner Nähe? Sollte Angst nicht eine natürliche Reaktion für sie sein? Ein Instinkt, der sie beschützt?
Langsam reckt er seine Hand nach ihr und berührt den Saum des Shirts direkt über ihrem nackten Oberschenkel. Stromschläge breiten sich auf Ambers Haut aus und ein seltsames Pochen zwischen ihren Beinen, lässt sie die Luft anhalten. Fast schon zärtlich streicht einer seiner Finger über ihre Taille und hinterlässt eine Spur aus Feuer auf der Haut unter dem Shirt. Seine Fingerspitzen berühren hauchzart ihre nackten Arme, an denen sich sofort die feinen Härchen aufstellen. Ambers Herz pumpt immer schneller ihr Blut durch die Adern, während seine Finger über ihren Hals wandern, ehe sie an einer Stelle verweilen. In dem Moment, als er den rasenden Puls an ihrem Hals spüren muss, hebt er seinen Blick.
Ruckartig lässt er von ihr ab und weicht einen Schritt zurück, als hätte er sich an ihr verbrannt. Und trotzdem spürt Amber noch seine Finger, wie sie ihre nackte Haut berühren und ein Brennen zurückgelassen haben.
„Ich hoffe du magst Clowns", haucht er ihr zu, „nicht das du nachts schreiend aus einem Alptraum erwachst."
Irritiert sieht sie ihn an, als ihr das Buch in ihren zitternden Händen wieder einfällt. Sie hatte sich „Es" von Stephen King aus dem Regal gezogen. Ausgerechnet Clowns. Sie hasst diese gruseligen Kreaturen. Doch das würde sie ihm niemals sagen.
„Ganz im Gegenteil, stehe ich auf Horrorgeschichten", lügt sie ihn tapfer an und ist froh, dass ihre Stimme nicht zittert.
„Ach wirklich?", fragt er flüsternd und eine Gänsehaut jagt abermals über ihren Nacken. „Wir können ihn gerne heute gemeinsam anschauen. Ist zurzeit auf Netflix."
Hart schluckt sie die Angst hinunter. Verdammt wie soll sie da wieder rauskommen.
„Vielleicht lese ich auch erst das Buch", antwortet sie schulterzuckend. „Die sind tausendmal besser als die Filme."
„Ich wusste, dass du ein kleiner Angsthase bist", grinst Eric.
Mutig reckt sie ihr Kinn. Niemand nennt sie eine Angsthase: „Na gut. Dann lass und heute Abend einen Horrorfilm anschauen."
Hoffentlich wird es nicht so schlimm. Sie würde einfach die Augen zumachen, wenn es gruselig wird.
„Klasse. Ich freue mich!"
Und Amber sich erst. NICHT!
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