Kapitel 1


Eric


„Mit über 80km/h streift der Sturm Arthur durch Vancouver und Umgebung. Die Menschen werden gebeten ihre Häuser bei Möglichkeit nicht zu verlassen. Es ist mit schweren Sturmschäden zu rechnen."

Die Nachrichtensprecherin ist leise im Hintergrund zu hören, während Eric mit einer Tasse schwarzen Kaffee am Fenster steht und den näherkommenden Sturm beobachtet. Draußen beginnt es bereits zu Dämmern. Die Wipfel der nahen Bäume wiegen sich im Wind.

Er nippt an dem heißen Getränk und geht nochmal die Liste in seinem Kopf durch, ob alles für den Sturm gesichert ist. Die Autos sind in der Garage, das Carport ist leer. Die Stühle und Tische auf der Terrasse wurden in den Schuppen gestellt. Die Pferde sind im Stall... Er verschluckt sich fast, als sein Blick nach draußen über die Koppel gleitet. Der schwarze Hengst springt fröhlich und unbeschwert galoppierend auf der Wiese herum und ungläubig, ob seine Augen ihn täuschen, blickt Eric durchs Fenster.

„FUCK", flucht er laut.

Sie waren doch alle im Stall. Wie konnte er aus seiner Box entkommen?

„TOM", brüllt er lautstark durch das Haus und stellt die Tasse abrupt auf der Theke ab.

Dabei schwappt das schwarze Gebräu über den Rand und hinterlässt eine kleine Pfütze auf der anthrazitfarbenen Arbeitsfläche. Ein Poltern ertönt von oben, ehe sein bester Freund, oberkörperfrei, die Treppe nach unten eilt. Ein weißes Handtuch liegt lässig über seinen breiten Schultern, an dem er sich mit beiden Händen festhält. Die Jeans tief auf seiner Hüfte sitzend, blickt er ihn fragend an.

„Was brüllst du so?", möchte Tom wissen. „Ich wollte gerade unter die Dusche."

„Das kannst du verschieben. Der Hengst ist ausgebrochen", erklärt Eric ihm, ehe er sich an seinem Freund vorbei drängt und in den Flur eilt.

Verwirrt folg ihm Tom. „Was? Wir haben den Stall doch zugemacht?"

Eric nickt, da er sich dessen ebenfalls sicher ist, und schlüpft in die Regenjacke, während er Tom, seine zuwirft. Gemeinsam treten sie in den kälter werdenden Wind hinaus. Dunkle Wolken bauschen sich am Himmelszelt und Blitze durchzucken den Horizont, gefolgt von tiefem Donnergrollen.

Eilig laufen sie über das satte Grün zur Koppel und überwinden den einfachen Lattenzaun. Die Tür des Stalles, der sich im hinteren Bereich befindet, steht weit offen, während der schwarze Hengst wiehernd über die Wiese galoppiert.

„Lass uns versuchen ihn hinein zu treiben", setzt sich Eric brüllend über die Lautstärke des Sturms hinweg.

Die Bäume knarzen, als der Wind drastisch an Fahrt auf nimmt und die Äste sich an Angrenzende reiben. Tom nickt und läuft auf die linke Seite, um den Hengst in Richtung Stall zu treiben. Er hingegen bedrängt das Pferd direkt von vorne. Doch der Rappe hat sie schon lange bemerkt und versucht, Haken schlagend auszuweichen. Abermals wird der Nachthimmel von grellen Blitzen erhellt, ehe ein lautes Donnern den Sturm direkt über ihnen ankündigt.

„Wir sollten uns beeilen", brüllt Tom zu ihm hinüber, da der Hengst langsam in Panik verfällt.

Die ersten Regentropfen treffen Erics Wangen und Minuten später öffnet sich die Wolkendecke und durchnässt sie bis auf die Haut. Der Rappe rennt auf der Koppel ängstlich umher und sein zu anfangs witziges Spiel, wird ernst.

Ein lautes Krachen zerreißt den Himmel, als ein Blitz im Wald nebenan in einen Baum einschlägt. Panisch steigt der Hengst und sein Wiehern wird vom Donner verschluckt. Tom weicht eilig zurück, um nicht von den niedersausenden Hufen erschlagen zu werden.

„Fuck", brüllt Eric für sich selbst, ehe er zum Stall zurückblickt, um einen anderen Plan zu versuchen.

Daher wendet er sich ab und läuft in die offen stehende Scheune, indem die restlichen Pferde ruhig in ihren Boxen stehen. Geschwind schnappt Eric sich ein Seil, das er zu einem Lasso bindet und begibt sich wieder in den nassen Sturm. Tom hat mittlerweile den Hengst so weit beruhigt, dass Eric sich ungesehen an ihn schleichen kann. Flink schwingt er mit einem Wurf die Schlinge, was bei dem Wind gar nicht so leicht ist, um den Hals des Tieres.

„Ruhig Großer", spricht er auf ihn sanft ein.

Langsam nähert er sich dem Pferd, dessen dunkle Augen ängstlich geweitet sind. Die Nüstern blähen sich auf, als Eric ihn an sich zieht, und vorsichtig seinen langen, schlanken Hals tätschelt.

„Ruhig", flüstert er dem Hengst in die aufgestellten Ohren, ehe er ihn behutsam Richtung Stallung zieht.

Folgsam trabt er hinterher und ist sichtlich froh, als sie den Stall betreten und das nasse, kalte Wetter somit ausschließen. Eric schiebt ihn zurück in seine beheizte Box und bemerkt beim Schließen des Gatters, das kaputte Schloss.

„Na toll. Kein Wunder, dass er draußen war," brummt er vor sich her.

Tom ist ihm gefolgt und sieht sich nun ebenfalls den defekten Riegel genauer an, der die Box geschlossen hält.

„Jepp. Ich hole mal das Werkzeug", seufzt dieser und stapft in den hinteren Teil des geräumigen Stalles.

Währenddessen trocknet Eric den Hengst etwas ab, ehe er ihn mit neuem Heu und Wasser versorgt. Tom erscheint mit Akkuschrauber und Schrauben und fängt an, das Schloss im Handumdrehen zu ersetzen.

„So, das müsste halten", nickt er und rüttelt kräftig am Gatter nachdem sie es verlassen hatten.

„Gut. Lass uns schnell wieder ins Haus, bevor es da draußen so richtig losgeht", murmelt Eric, während sein Blick gen Dach schweift.

Tom nickt und verräumt geschwind das Werkzeug. Nachdem sie die restlichen fünf Boxen kontrolliert hatten, indem die Stuten ruhig darin stehen und an ihren Heuballen knabbern, als wäre draußen nicht gerade Weltuntergangsstimmung, verlassen sie die Scheune.

Zügig verschließt Eric die Doppeltüren mit einem Schloss, während ihm der Regen gegen sein Gesicht peitscht und seine Knochen schlottern lässt. Der Herbst in Vancouver ist ein Mischwetter aus allem. Von Stürmen mit Orkangeschwindigkeit bis zu Regenschauern wie zu Monsunzeiten in der Wüste. Aber auch strahlender Sonnenschein bei herrlichstem Wetter bis zu 20 Grad ist nicht selten.

Das Schloss kontrollierend wendet sich Eric ab und folgt Tom über die Koppel Richtung trockenen und warmen Haus. Doch etwas lässt ihn innehalten.

Sein Blick schweift über das weitläufige Anwesen, dass einst Toms Onkel gehört hatte, ehe dieser sich mit seiner Frau auf eine nie endende Weltreise verabschiedet hatte. Er war ein mächtiger Mann in der Politik und ein ebenso hoher Richter, der sich gerne auf seinem Landsitz zurückgezogen hat. Doch er hat schon lange sein Amt niedergelegt und seinem einzigen Neffen seinen ganzen Besitz vererbt, nur um mit seiner Frau, die Welt zu bereisen. Nun ist das Anwesen für ihn und Tom ein sicherer Hafen, an dem sie sich zurückziehen und leben können.

Die Hand vor den Augen schirmt er den niederprasselnden Regen ab, als etwas Seltsames in der Ferne seine Aufmerksamkeit fordert. Ein Bündel Tücher knüllt sich im Rasen zusammen, die höchstwahrscheinlich nur vom Wind zugetragen wurde und ebenso wieder weiterfliegen wird. Doch das Knäuel rührt sich nicht und aus irgendeinem Grund beansprucht es weiter sein Interesse.

„Was ist das?", brüllt Eric in Toms Richtung, der ebenfalls skeptisch dreinblickt, ehe er mit den Schultern zuckt.

Misstrauisch laufen sie auf das Bündel zu und je näher sie kommen, desto mehr erkennt Eric, dass das zuvor gedachte Knäuel aus Tüchern, keines ist. Denn wirre, nasse Haare liegen um blasse Haut und ein zierlicher Frauenkörper erstreckt sich über das grüne Gras. Besorgt lässt er sich neben die bewusstlose Frau nieder und dreht sie vorsichtig auf den Rücken. Behutsam schiebt er ihr die durchnässten Strähnen aus dem Gesicht und überprüft ihre Atmung. Erleichtert stellt Eric fest, dass die junge Frau noch lebt.

„Scheiße", flucht Tom, der direkt neben ihm zum stehen kommt.

„Sie atmet. Hat aber einen schwachen Puls", erklärt er ihm. „Wir müssen sie sofort ins Trockene bringen. Sie ist eiskalt und ihre Lippen sind bereits blau."

Umsichtig hebt Eric den zarten Körper auf seine starken Arme und ist verwundert, wie wenig sie doch wiegt. Ihren Kopf an seine muskulöse Brust gebettet, wendet er sich dem Gebäude zu und eilt, dicht gefolgt von Tom, darauf zu.

Im Haus angekommen, bringt er die junge Frau ins Wohnzimmer und bettet sie auf die Couch direkt am wärmenden Kamin. Zaghaft gleitet sein Blick über den kleinen, zierlichen Körper, der von durchnässten Sachen verhüllt ist. Ihre nackten Arme sind blass und von Schnitten und Blessuren bedeckt. Im warmen Licht des Ofens erkennt man ihre roten Haarsträhnen, die nass den schlanken Hals bedecken und auf ihrer sich leicht hebenden Brust zum Erliegen kommen. Rosige Wangen und zärtliche Sommersprossen lassen ihr sonst so puppenhaftes Gesicht echt wirken. Sie hat eine kleine, gerade Nase und volle Lippen. Ihre Lider liegen schwer auf ihren Augen, die immer wieder dahinter zucken. Auch in ihrem Gesicht hat sie Unmengen an Schnitte und Kratzer. Doch keine weitreichende Wunde, soweit Eric das erkennen kann.

Tom hat sich der jungen Frau zugewandt und betrachtet sie ebenfalls eingehend. Vorsichtig tastet er ihren Körper ab, ehe er sich an ihn wendet.

„Wir müssen ihr die nassen Klamotten ausziehen, damit sich ihr Körper erwärmen kann", ordnet er an. „Außerdem muss ich sie auf Verletzungen untersuchen, die gegebenenfalls unter dem Stoff versteckt liegen."

Nickend stimmt Eric zu. Tom hat früher ein Medizinstudium begonnen, daher vertraut er seiner Einschätzung blind.

„Was brauchst du?", fragt er ihn.

„Den Verbandskasten und trockene Kleider."

Tom beginnt der jungen Frau das Oberteil vorsichtig über den Kopf zu ziehen, ehe Eric sich umdreht und die Treppe nach oben eilt. Er ist selbst triefend nass, daher schnappt er sich ebenfalls ein Shirt aus seinem Schrank und wirft es sich eilig über, ehe er im Badezimmer den gewünschten Verbandskasten entwendet und mit beiden verlangten Sachen zurück ins Wohnzimmer geht.

Währenddessen hat Tom die junge, immer noch bewusstlose Frau bis auf ihre Unterwäsche ausgezogen. Erschrocken über ihren Anblick reicht ihm Eric die geforderten Sachen. Schnitte und dunkelviolette Blessuren ziehen sich über den zarten, blassen Körper und lassen ihn zweifeln, ob die Verletzungen von nur einer Nacht stammen. Ihr Brustkorb hebt sich leicht und Eric erkennt einen bereits am verheilenden Schnitt auf ihrem Oberkörper.

„Die Wunden sind nicht alle von heute Nacht", knurrt er bedrohlich, während Tom der jungen Frau, dass trockene Shirt über den Körper zieht und er sie mit einer Decke bedeckt.

„Sie hat viele kleine Verletzungen an ihren Armen, Beinen und einige an ihrem Körper. Darunter violette Flecke und Schnitte. Ihr Knie ist aufgeschrammt, aber nichts bedrohliches", brummt sein Freund. „Doch du hast ein scharfes Auge. Unter den offensichtlichen frischen Wunden sind bereits verheilte alte Läsionen."

Eric blickt von der jungen Frau zu seinem Kumpel, der sich langsam erhebt.

„Wurde sie misshandelt?", knurrt er gefährlich, während seine Hände sich zu Fäusten ballen.

„Kann gut möglich sein. Sicher bin ich mir aber nicht", antwortet Tom ruhig, so wie es seine Art entspricht. „Sie ist vor Erschöpfung zusammengebrochen, deshalb sollte sie sich ausruhen. Morgen sehen wir weiter", erklärt Tom und Eric nickt stumm.

Er vertraut seinem Freund blind, daher steht er nur am Kopfende, mit verschränken Armen, der gemütlichen Couch und betrachtet den zierlichen Körper, der unter der Decke leicht zu beben beginnt.

Erschöpft wendet er den Blick ab und dreht sich dem alten Sekretär zu, auf dem Karaffen mit bernsteinfarbener Flüssigkeit verstaut sind. Eric schnappt sich ein Glas und gießt sich einen Schluck des überaus schmackhaften Whiskeys ein. Der Alkohol rinnt seine Kehle hinunter und wärmt die kalten Knochen von innen heraus.

Erics Blick gleitet nach draußen, wo sich der Sturm mittlerweile zu seinem Höhepunkt neigt. Die Baumwipfel, der Bäume in der Ferne, neigen sich gefährlich im Wind. Grelle, spektakuläre Blitze erhellen den dunklen Himmel, während sich das Grollen des Donners direkt über einem befindet.

„So. Ich werde erstmal eine heiße Dusche nehmen und du mein Freund, solltest dies auch tun, ehe wir alle noch krank werden", schlägt ihm Tom vor.

Das Poltern von nassen Schuhen ertönt, als er die Treppe nach oben eilt. Kopfschütteln betrachtet Eric weiter das Treiben, da er sich nicht vorstellen möchte, welchen Dreck sein Freund gerade im Haus hinterlässt. Genüsslich nippt er an seinem Bourbon, ehe er sich ebenfalls entschließt, seine Kleidung gegen Trockene zu tauschen.

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