06 | Schmetterlinge
Pünktlich zum Wochenende das neue Kapitel für euch :) Ich bin gespannt, wie es euch gefällt.
Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie mit dem Rest ihrer riesigen Bubble-Waffel in der Hand neben Carlos her schlenderte. Er hatte seine bereits aufgegessen, doch sie kämpfte nach wie vor mit der mächtigen Füllung aus Früchten, Eis und Schokoladencreme. Seit sie so viel für die Uni tun musste, hatte sie verstärkt Verlangen nach Süßem und musste sich eingestehen, dass sie nicht die Disziplin besaß, stark zu bleiben. Also gab sie nach und hoffte, dass sie nicht übermäßig viel zunahm. Die Zeit mit Carlos war einfach zu schön, um sie sich von solchen Dingen madig machen zu lassen. Sie hatte in seiner Gegenwart jegliches Zeitgefühl verloren. Carlos beobachtete sie, als sie ein paar weitere Früchte mit etwas Eis auf den Plastiklöffel schob.
Irgendwie war ihnen die Kontrolle über das Gespräch entglitten. Anders konnte sie es sich nicht erklären, dass sie sich über Alex' Frauengeschichten unterhielten. Er hatte Carlos vor ein paar Stunden per WhatsApp darüber informiert, dass er eine Überraschungsparty für irgendein Mädchen organisiert hatte. Da es jedoch einen Frauenüberschuss gab und Alex verzweifelt zu sein schien, hatte er kurzerhand ein paar seiner Jungs eingeladen.
„Ich habe das Gefühl, er verliert langsam seinen Verstand wegen ihr", kommentierte Carlos kopfschüttelnd. „Wirst du denn hingehen?", wollte sie wissen. „Nur, wenn du mitkommst." Er musterte sie erwartungsvoll. Sie biss sich unsicher auf die Unterlippe.
„Ich weiß nicht..." Sie zögerte. „Warum nicht?", wollte er wissen. „Ich kann doch nicht einfach auf der Party für eine Fremde auftauchen, noch dazu mit dir." Er runzelte skeptisch die Stirn. „Warum das denn nicht?", fragte er verständnislos. „Ich bin Cassies kleine Schwester. Ich denke, sie wäre wenig begeistert, wenn ich auf der Party ihrer Freunde auftauche, ohne, dass sie mich mitgebracht hat."
„Wieso sollte sie? Ich dachte, ihr habt ein gutes Verhältnis zueinander", hakte er nach. Willow nickte. „Haben wir auch, aber ich möchte nicht, dass sie glaubt, dass ich jetzt hinter ihrem Rücken mit ihrem Freundeskreis rumhänge", versuchte sie, ihren Standpunkt deutlich zu machen, doch es fiel ihr schwer, die richtigen Worte zu finden. „Du hast ihr nicht erzählt, dass wir uns treffen?", fragte er. Sie schüttelte den Kopf. „Noch nicht."
„Du könntest es nachholen, bevor wir auf die Party gehen", grinste er. „Versteh mich nicht falsch, aber ich glaube, ihr wäre das nicht Recht." Er runzelte die Stirn. „Aber zu ihren Partys lädt sie dich doch auch immer ein."
„Weil es ihre Partys sind; sie lädt mich als ihre Schwester ein. Aber bei der Party von Alex für dieses Mädchen geht es ja um ihre Freunde, zu denen ich sonst keinen Kontakt habe. Verstehst du?" Er lächelte.
„Nein, aber wenn dir das so wichtig ist, akzeptiere ich deine Meinung", erwiderte er. Natürlich war sie sich bewusst, dass, falls sich wirklich etwas zwischen Carlos und ihr entwickelte, sie auf kurz oder lang die Karten auf den Tisch legen und Cassie davon erzählen musste. Doch noch war es viel zu früh, eine Auseinandersetzung mit ihrer Schwester zu riskieren.
„Ich verbringe eben einfach lieber Zeit mit dir allein." Sie war selbst ein wenig überrascht über ihre Offenbarung. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem zufriedenen Lächeln. „So ist das also", grinste er und beugte sich ihr ein Stück entgegen.
„Du wolltest mir schließlich noch Spanisch beibringen", erinnerte sie ihn. Er schmunzelte. „Jetzt auf einmal willst du Spanisch lernen? Ich dachte, du schämst dich, vor mir zu reden", sagte er amüsiert, wissend, dass sie dieses Argument nur vorbrachte, um nicht länger über die Party und ihre für ihn nicht nachvollziehbaren Erklärungen reden zu müssen.
„Gerade deshalb solltest du den Moment nutzen. Wer weiß, wann er wiederkommt", feixte sie und schenkte ihm einen tiefen Augenaufschlag. Dabei breitete sich das verräterische Kribbeln in ihrem Bauch aus. Carlos lachte. „Wenn das so ist, habe ich offenbar keine andere Wahl."
Kurz darauf fand sie sich mit ihm nahe einem Gehweg an der Alster wieder. Die Sonne war bereits untergegangen und es hatte sich merklich abgekühlt, also hatte sie sich ihren Cardigan übergezogen.
„Ich habe doch gesagt, dass ich dafür nicht geboren bin", protestierte Willow und hob abwehrend die Hände, doch Carlos schüttelte unbeeindruckt den Kopf.
„Alles eine Sache der Übung. Du hast einfach jahrelang nicht gesprochen. Normal, dass du Fehler machst", kommentierte er mild lächelnd. „Also, sprich mir nach. Gracias por esta noche", wiederholte er geduldig, nicht, ohne das gerollte R dabei besonders zu betonen. Sie schmunzelte. Es war wirklich süß, wie geduldig er war. Bis heute wusste sie nicht, wie sie überhaupt ihren Spanischkurs überstanden hatte, ohne rigoros durchzufallen, wenn sie bis heute nicht einmal in der Lage war, das für die spanische Sprache typische gerollte R auszusprechen. Nach wie vor hatte sie das Gefühl, dass sich ihre Zunge dabei verknotete.
„Gracias por esta noche", wiederholte sie bemüht. Er lächelte. „War das besser?"
„Nicht wirklich. Du musst die Zunge lockerlassen, damit es nicht so hart klingt."
„Ich hab's dir gesagt", sagte sie frustriert.
„Du musst deine Zunge hinter den Schneidezähnen vibrieren lassen", erklärte er nochmal. „So... Rrrrr."
Sie seufzte lautlos.
„Ich bin ein Sprachspasti", sagte sie trocken. Er lachte.
„Bist du nicht. Vorhin hat es doch auch geklappt, zumindest ein bisschen."
„Dein Engagement in allen Ehren, aber ich bin keine geborene Latina."
Er grinste.
„Ich gebe dich noch nicht auf. Also... Rrrrr."
„R", probierte sie es, scheiterte jedoch erneut.
„Okay, vielleicht bist du doch ein Sprachspasti", kommentierte er.
„Wieso wirst du jetzt gemein, Carlos?", fragte sie beleidigt.
„Weil du dir keine Mühe gibst", stellte er fest. Es stimmte. Sie wollte die kleine Spanischstunde schnellstmöglich hinter sich bringen; nicht, weil sie nicht gern Zeit mit ihm verbrachte, sondern, weil es ihr vor ihm unangenehm war, ausgerechnet in seiner Muttersprache zu schwächeln. Sie hatte zwar selbst vorgeschlagen, sich von ihm etwas beibringen lassen, damit jedoch nur Zeit schinden wollen, um nicht auf diesen Geburtstag gehen zu müssen.
„Ich gebe zu – meine Motivation ist nicht mehr ganz so groß wie vorhin", räumte sie ein. Er lächelte.
„Es muss dir vor mir nicht unangenehm sein, dass du nicht so gut Spanisch sprichst", sagte er aufmunternd.
„Nicht so gut? Neulich hast du noch gesagt, meine Aussprache wäre super und es würde an meinem Lehrer liegen", entgegnete sie eingeschnappt. „Hätte ich gewusst, wie fies du sein kannst, hätte ich mich heute mit Cassie getroffen."
Er grinste noch immer.
„Bereust du, dass du dich stattdessen mit mir verabredet hast?"
Sie legte grüblerisch die Stirn in Falten und tat so, als müsse sie einen Moment über ihre Antwort nachdenken. Wenn er sticheln konnte, konnte sie das schließlich auch.
„Nee. Immerhin hast du den Eintritt und die Waffel bezahlt – und die war echt lecker", erwiderte sie dann. Er lachte. „Du bist eine richtige Hexe", kommentierte er. Sie strich sich verlegen eine Haarsträhne hinters Ohr, als er sie eindringlich von der Seite anschaute. „Und du ein gemeiner Penner."
Sein erneutes, kehliges Lachen klang wie Musik in ihren Ohren. Er war so attraktiv in diesem Moment, dass sich dieses wohlig-warme Kribbeln immer weiter in ihr ausbreitete.
Willow warf einen Blick auf die bunten Lichter auf der anderen Alsterseite. Für Romantiker war dies sicherlich eine traumhafte Kulisse. Sie setzten sich und schauten einen Moment schweigend aufs Wasser hinaus. Selbst dieser stille Moment fühlte sich keineswegs unangenehm an; es war eher so, als würden sie die Ruhe miteinander genießen. Willow fühlte sich wirklich wohl in seiner Gegenwart. Auch, wenn ihre Körper eine Handbreite trennte, übertrug sich seine Wärme auf sie. Ihr Blick fiel auf seine schönen Hände, auf denen sich in der Dunkelheit seine Tattoos abzeichneten. Ihre Finger kitzelten bei der Vorstellung, jetzt all ihren Mut zusammenzunehmen und sanft darüber zu streichen.
„Tut mir leid, dass ich dich vorhin so aus der Reserve gelockt habe, aber du triggerst mich einfach."
Erst jetzt bemerkte sie, dass er sie anschaute. Sie brauchte einen Moment, zu verstehen, worauf er hinauswollte.
„Womit?", fragte sie kopfschüttelnd.
„Mit deiner Art", sagte er offen.
„Jetzt bin ich also selbst schuld, dass du fies zu mir bist?"
„Ich mag es, dich zu ärgern", gestand er amüsiert. Sie warf die Hände in die Luft.
„Unglaublich."
„Gewöhn dich schon mal dran", sagte er.
„Wieso sollte ich? Ich habe nicht vor, mich nochmal mit dir zu treffen", gab sie ernst zurück.
„Lüg nicht so schamlos, du Hexe", forderte er und brachte sie mit seinem Lächeln zum Schmelzen.
„Ich meine es ernst", beteuerte sie.
„Als ob", grinste er. „Eine wie du ist doch froh, wenn einer wie ich Zeit mit ihr verbringt."
Willows Herz zog sich mit einem Mal schmerzhaft zusammen. Carlos hatte einen wunden Punkt getroffen, ohne es zu wissen. Sie schluckte betreten. Auch, wenn er im Gegensatz zu den anderen einen dummen Witz gemacht hatte, taten seine Worte nicht weniger weh. Plötzlich ertrug sie seine Nähe nicht mehr.
„Was ist?", fragte er, als sie sich erhob, um etwas Abstand zwischen ihn und sich selbst zu bringen.
„Nichts. Ich muss nur noch was für die Uni erledigen", behauptete sie. Er runzelte skeptisch die Stirn.
„Jetzt?"
„Ja, ist mir gerade eingefallen. Ich muss noch eine E-Mail verschicken", log sie.
„Es ist kurz vor elf", warf er mit einem Blick auf die Uhr ein.
„Eben. Und ich hätte sie schon vor ein paar Stunden senden müssen, also-"
Er schüttelte lächelnd den Kopf, dann stand auch er auf.
„Komm. Ich bring dich nach Hause."
Während sie nebeneinander herliefen, schlang sie fröstelnd die Arme um ihren Körper. Das plötzliche Schweigen nach einem so schönen Abend war bedrückend, doch Willow konnte nicht aus ihrer Haut. Seine Worte hatten sie in der Zeit zurückgeworfen, in eine Phase ihres Lebens, in der-.
„Ist es wegen dem, was ich eben gesagt habe?"
Carlos' leise Stimme riss sie aus ihren schlechten Erinnerungen. Es war faszinierend, dass er derart viel Einfühlungsvermögen besaß und gemerkt hatte, dass er mit seiner Äußerung etwas angerichtet hatte. Der schmerzhafte Stich bohrte sich tiefer in ihr Herz. Einerseits wollte sie sich ihm öffnen, andererseits war die Angst vor einer weiteren Enttäuschung zu groß.
„Hey..."
Erst, als er sie unsanft herumwirbelte, bemerkte sie, dass er inzwischen stehengeblieben war. Sein Griff tat weh, auch, wenn er überhaupt nicht fest war. Es war mehr ein innerlicher Schmerz.
„Ich muss einfach nur dringend diese E-Mail verschicken, sonst bestehe ich am Ende des Semesters den Kurs nicht", log sie.
„Du musst mich nicht belügen", sagte er.
„Mache ich nicht", erwiderte sie.
„Ich habe in meinem Leben schon unendlich viele Menschen kennengelernt. Ich durchschaue die meisten schnell. Du bist da keine Ausnahme", gab er zurück und schaute eindringlich in ihr Gesicht.
„Ich möchte nicht darüber reden", räumte sie ein, als sie erkannte, dass sie ihm tatsächlich nichts vormachen konnte. Er sah sie eine gefühlte Ewigkeit einfach nur an und fesselte sie mit seinem aufmerksamen Blick.
„Du musst nicht reden", sagte er auf einmal. „Ich weiß mehr als genug."
Sie runzelte überrascht die Stirn. Als er auf einmal unerwartet seine Hand an ihre Wange legte, zuckte sie zusammen. Er schüttelte lächelnd den Kopf.
„Ganz egal, warum sie dich scheiße behandelt haben – ich mag genau das an dir."
Seine Worte lösten ein unbeschreibliches Gefühl in ihr aus. Ihr Herz füllte sich mit derselben Wärme, die seine Berührung auf ihrer Haut hinterließ. Es war unglaublich, wie seine Worte sie beruhigten. All der Schmerz der Vergangenheit verblasste auf einmal, zumindest ein wenig.
„Genau genommen mag ich alles an dir", korrigierte er sich. Sie senkte verlegen ihren Blick zu Boden, doch er zwang sie, ihn wieder anzuschauen. Plötzlich war es, als würde die Welt um sie herum aufhören, zu existieren. Er sagte kein Wort mehr, schaute ihr einfach nur tief in die Augen und sie versank in seinen. Ihr Herz schlug schneller, ihr wurde augenblicklich etwas wärmer und das nervöse Kribbeln wurde intensiver. Plötzlich trennten nur noch wenige Zentimeter ihre Gesichter voneinander und sie schluckte, als sein Blick auf ihre Lippen fiel. Die angenehme Hitze, die von ihm ausging, hatte sie mittlerweile vollkommen erfasst. Ihre Wangen brannten und als er die letzte Distanz zwischen ihnen überbrückte, hielt sie unmerklich den Atem an. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als er endlich seine Lippen auf ihre presste. Sie waren ein wenig rau und schmeckten nach einer Mischung aus Corona und süßsaurer Zitrone. Im ersten Moment war sie überfordert mit seiner unerwarteten Offensive, doch als er seine Hand an ihre Wange legte und sich von ihr löste, wich sie nicht zurück. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen, als er sie ein weiteres Mal küsste. Sie genoss das wohlige Brennen, seufzte leise in den dritten Kuss hinein und gewährte seiner Zunge Einlass, die über ihre Lippen strich, ehe sie in einem leidenschaftlichen Kuss versanken.
Ich hoffe, euch hat der erste Kuss gefallen und ihr seid genauso schockverliebt wie ich es beim Schreiben war - und das, obwohl sie vorher flüchten wollte. Warum eigentlich? Und könnt ihr verstehen, dass ihre Stimmung auf einmal umgeschlagen ist? Oder findet ihr das übertrieben?
ScheckieBrown hat übrigens im letzten Kapitel statt Waffelstand folgendes gelesen: "Erstmal Waffenstand gelesen und dachte mir so dafuq 😂" - Finde, sowas wär doch mal spannend für ein Date; eine Verabredung am Waffenstand - zusammen Knarren anschauen klingt auf jeden Fall aufregend. Haha.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top