03 | Geschwisterliebe

Meine Lieben, ich hoffe, euch gefällt die Geschichte bis hierher. Dieses Kapitel möchte ich diggi187 widmen. Sie hat den witzigsten Kommentar zum letzten Kapitel geschrieben ("Carlos ist mehr so der Typ für das Heftchen in der neuen Gzuz Box."). Ich musste wirklich lachen :)

Willow legte schwer seufzend den dicken Wälzer zur Seite und überflog die eben geschriebene Zusammenfassung für ihr Seminar über Literatur im mittelalterlichen England. Sie hatte eine ganze Weile daran gearbeitet, den Text mehrfach umgeschrieben und daran herumgefeilt, bis er ihr endlich gefallen hatte. Wahrscheinlich würden sich nur wenige ihrer Kommilitonen so viel Mühe geben wie sie. Sie hoffte, dass ihre Dozentin ihren Einsatz wenigstens zu würdigen wusste, auch, wenn es sich dabei nur um eine Studienleistung handelte, für die es am Ende keine Note gab.

Sie nippte an ihrer Tasse Brombeertee, verzog jedoch das Gesicht, denn er war mittlerweile abgekühlt. Sie warf einen Blick auf die Uhr und überlegte, in ihr Lieblingscafé zu fahren, um den Kopf freizukriegen. Automatisch schlich sich ihr letzter Besuch wieder in ihr Gedächtnis. Sie setzte ein mürrisches Gesicht auf, als sie automatisch auf ihr Handy schaute. Natürlich hatte Carlos sich noch immer nicht gemeldet. Sie schüttelte verärgert den Kopf. Wie hatte sie auch glauben können, dass er anders war als die Männer, die sie sonst kennenlernte?

Ihre Begegnung war bereits eine Woche her, doch auch, wenn es sein Vorschlag gewesen war, miteinander auszugehen, ließ er nichts von sich hören. Das Interesse an einer Verabredung war eindeutig von ihm ausgegangen, weshalb sie zögerte, sich zuerst bei ihm zu melden. Außerdem fand sie, dass der erste Schritt eindeutig Männersache war. Es nervte sie, dass sie sich über ihn den Kopf zerbrach und darüber spekulierte, welche Motive er haben könnte, sie nicht anzurufen. Wenn er kein Interesse an ihr hatte, wieso hatte er sie dann nach ihrer Nummer und einem Treffen gefragt?

Selbst, wenn er gute Gründe dafür hatte, war sie der Meinung, dass, wenn er sie wirklich sehen wollte, er zumindest eine kurze Nachricht schicken konnte. Sie schüttelte ihren Kopf, um die Gedanken rund um ihn zu verdrängen, schnappte sich ihr Smartphone und klickte sich ins Telefonbuch, um ihre Schwester anzurufen.

Sie hatte Cassie einige Wochen nicht gesehen. Möglicherweise hatte sie spontan Zeit, sich mit ihr auf einen Kaffee zu treffen und ein wenig zu quatschen. Während des Freizeichens presste sie das Smartphone ans Ohr, strich sich die Locken nach hinten und stand auf. Es dauerte eine Weile, doch dann nahm Cassie den Anruf entgegen.

Eine Dreiviertelstunde später betrat Willow das kleine, schnuckelige Café, in dem sie sich mit Cassie verabredet hatte. Ihre Schwester saß bereits an einem der viereckigen weißen Holztische und studierte die kleine Getränkekarte. Als Willow zu ihr an den Tisch trat, schaute sie zu ihr auf und schenkte ihr ein Lächeln. „Hey... Da bist du ja."

Sie begrüßten sich kurz mit einer Umarmung, dann setzte sich Willow ihr gegenüber. „Schön, dich zu sehen", lächelte sie. „Tut mir leid, ich hatte so viel zu tun in der Uni, dass ich kaum Zeit für andere Dinge finde."

„Das ist schon okay", sagte Cassie grinsend. „Ich habe ja momentan selbst sehr viel zu tun. Ich nehme es dir nicht übel." „Erzähl", forderte Willow. Cassie lachte. „Du hast es aber eilig." „Ich kann es kaum erwarten, mich endlich ein wenig abzulenken", offenbarte Willow frustriert. „Klingt, als hättest du ein paar nervige Tage gehabt", stellte Cassie fest. „Nervig ist noch untertrieben", seufzte Willow und warf einen flüchtigen Blick auf die Karte. „Liegt es an der Situation mit Mum oder an der Uni?", hakte Cassie aufmerksam nach. Willow schüttelte den Kopf. „Zuhause ist alles in Ordnung. Aber die Uni vereinnahmt mich derzeit so sehr, dass ich das Gefühl habe, gar kein Leben mehr zu haben", meckerte Willow.

„Das liegt daran, dass du dir die Zeit nicht einfach nimmst. Dich jetzt mit mir zu treffen, ist schonmal ein guter Anfang", lächelte Cassie. „Ich weiß, und ich habe mir auch vorgenommen, mir mehr Auszeiten zu gönnen – sobald ich die wichtigen Prüfungen hinter mich gebracht habe." Cassie nickte. „Das verstehe ich. Und wer weiß, vielleicht hast du dann ja auch endlich etwas mehr Kopf, um jemanden kennenzulernen." Willow seufzte innerlich. Sie wusste, dass ihre große Schwester es nur gut meinte, doch momentan schien es einfach niemanden zu geben, der das Potenzial für eine Beziehung mitbrachte.

Ohne es zu wollen, kehrten sie gedanklich zu Carlos zurück. Es wurmte sie, dass auch er sich nicht bei ihr meldete und sich damit in die Reinfälle der letzten Zeit einreihte. Sie wusste nicht, weshalb sie davon ausgegangen war, dass er anders war, aber möglicherweise hatte sie sich in ihm getäuscht. Diese Erkenntnis schmerzte. Es musste einen Grund dafür geben, dass die Männer glaubten, so mit ihr umgehen zu können.

„Ich glaube, das mit den Männern lasse ich erstmal", winkte sie also lächelnd ab, um ihren Frust vor Cassie nicht allzu offensichtlich zu zeigen. „Ich sage ja auch nicht, dass du aktiv nach einem passenden Deckel suchen sollst, aber du bist eine hübsche Frau, die ordentlich was im Köpfchen hat. Du bist also ein Jackpot für die Männer und es gibt sicher auch jemanden da draußen, der das erkennt", sagte Cassie zuversichtlich. „Ja, bestimmt", sagte Willow und atmete innerlich erleichtert auf, als die Kellnerin an ihren Tisch trat, um ihre Bestellung aufzunehmen. Sie bestellte einen entkoffeinierten Milchkaffee, Cassie einen Latte Macchiato.

„Erzähl, wieso ist es bei dir so stressig?", hakte sie schnell nach, ehe Cassie das eigentliche Thema wieder aufgreifen konnte. Ihre Schwester seufzte schwer. „Ich weiß nicht, ob ich mich mit der Idee, eine eigene Show auf die Beine zu stellen, vielleicht übernommen habe. Malia und ich haben unglaublich viele Ideen, aber es kostet wahnsinnig viel Zeit, darüber zu sprechen und zu überlegen, wie wir sie umsetzen können. Ich verdiene zwar momentan gut, aber mir fehlen die finanziellen Möglichkeiten dazu", erzählte Cassie frustriert. „Und wenn du John fragst, ob er dir aushelfen kann? Ich meine, er weiß schließlich, dass das einer deiner Träume ist und wie sehr es dir zugesetzt hat, dass du aufgrund deiner Verletzung die Rolle absagen musstest", gab Willow nachdenklich zurück und hoffte, dass Cassie mittlerweile über diese große Enttäuschung hinweg war. Ihre Schwester lächelte.

„Der Gedanke ist süß, aber ich kann ihn unmöglich nach so viel Geld fragen. Es wäre mir einfach unangenehm; immerhin hat er schon das Studio für mich gekauft. Ich habe mich bereits entschieden, einen Kredit aufzunehmen. Dafür muss ich allerdings erst diesen bescheuerten Business Plan schreiben, denn ohne den werden sie mir das Geld nicht geben", erklärte Cassie. Willow schmunzelte. „Es ist schon verständlich, dass die Bank wissen möchte, wofür genau du dir Geld von ihnen leihen willst", grinste sie. „Ich weiß, aber diese Schreiberei raubt mir den letzten Nerv. Ich habe das eben noch nie gemacht und weiß gar nicht, wie man sowas schreibt. Zum Glück hat Alessa Ahnung davon und hilft mir, aber trotzdem ist es nicht so leicht, wie es sich anhört."

„Kann ich mir vorstellen", sagte Willow. „Aber ich bin mir sicher, dass du das hinbekommst. Und wenn ich dir irgendwie dabei helfen kann, ruf mich bitte an." Cassie lächelte. „Du bist süß, aber kümmer du dich erstmal um deine Uni." „Hallo? Ich bin multitaskingfähig", platzte es aus Willow heraus, als die Kellnerin die Getränke an den Tisch brachte. Cassie nickte ihr dankend zu, ehe sie sich wieder ihrer kleinen Schwester zuwandte. „Deshalb höre ich auch seit Wochen nicht wirklich was von dir und bekomme dich kaum zu Gesicht", stichelte sie amüsiert, bevor sie etwas Milchschaum von ihrem Latte Macchiato löffelte.

„Ich meine es ernst, Cassie. Wenn du dir schon von John nicht helfen lassen willst, dann wenigstens von mir", betonte Willow und schob sich den kleinen Keks in den Mund, der auf der Untertasse des Milchkaffees gelegen hatte. „Er hilft mir schon genug, indem er mir gut zuredet, wenn ich wieder kurz davor bin, aufzugeben", erwiderte Cassie lächelnd. „Er ist schon ein echt toller Freund", kommentierte Willow. „Ich weiß", sagte Cassie zufrieden. „Weiß er das mit dem Kredit?", hakte Willow nach. „Ja, und er war ganz und gar nicht begeistert. Er hat sich jetzt in den Kopf gesetzt, stattdessen einen Deal mit einem Sponsoren an Land zu ziehen, damit ich die Show finanzieren kann", erzählte Cassie. „Das wäre doch super", stellte Willow fest. „Ja, auf jeden Fall, aber ich will mich nicht darauf verlassen, dass es klappt. Am Ende bin ich sonst nur enttäuscht", sagte Cassie und nippte an ihrem Latte Macchiato. „Ich drücke dir auf jeden Fall die Daumen", gab Willow zurück. „Danke. Und jetzt erzähl mir, wie es Mum geht."

Willow fühlte sich befreit, als sie zwei Stunden später gemeinsam mit Cassie das Café verließ. Es hatte gutgetan, sich mit ihr zu unterhalten, sich auszutauschen und für eine gewisse Zeit weder an die Uni noch an ihre Männerenttäuschungen zu denken. Sie nahm sich fest vor, sich häufiger Zeit für sich selbst zu gönnen. Vielleicht konnte sie daraus sogar so etwas wie ein festes Ritual entwickeln und dafür sorgen, dass sie sich regelmäßig entspannte.

„Wo steht dein Auto?", fragte Cassie, als sie die wenig befahrene Straße erreichten. „Ich bin mit dem Bus gekommen", antwortete Willow frustriert. Cassie runzelte die Stirn. „Willst du jetzt in deiner ganzen Perfektion auch noch die Umwelt retten?"

„Nein. Mein Auto springt nicht mehr so gut an, aber ich habe momentan keine Kohle für eine Reparatur. Du weißt ja, wie schnell sowas ins Geld gehen kann", seufzte Willow niedergeschlagen. „Ich dachte, du jobbst in dieser kleinen Boutique", sagte Cassie überrascht. „In der letzten Zeit war ich nicht oft da, weil ich so viel zu tun hatte, und das Geld, das ich zur Seite gelegt habe, möchte ich erst in wirklichen Notsituationen ausgeben", erzählte Willow. „Wieso fährst du nicht zu Carlos in die Werkstatt?"

Willow schaute ihre Schwester aus großen Augen an. Bei der Erwähnung seines Namens wurde ihr gleichzeitig heiß und kalt. „Welcher Carlos?", fragte sie irritiert. „Na, welcher Carlos wohl? Johns Freund. Er arbeitet doch in einer Autowerkstatt. Wusstest du das nicht?", erwiderte Cassie lächelnd. „Nein, wusste ich tatsächlich nicht", antwortete Willow matt. „Wir bringen unsere Autos immer dort hin. Ich bin mir sicher, dass er sich das auch erstmal so anschaut, ohne dir was dafür zu berechnen", entgegnete Cassie zuversichtlich. Für einen Moment war Willow überfordert mit der Situation. Die Vorstellung, einfach so auf seiner Arbeitsstelle aufzutauchen, obwohl er sich bei ihr nicht gemeldet hatte, erschien ihr seltsam.

„Ich kann doch nicht einfach erwarten, dass er das umsonst macht", sagte sie unbeholfen. Cassie lächelte. „Er ist wirklich hilfsbereit, zuverlässig und loyal und ich bin mir sicher, dass er es sich zumindest erstmal anschaut. Und vielleicht kann er auch noch was am Preis machen", ergriff sie Partei für ihn. „Du scheinst ihn ja sehr zu schätzen", stellte Willow fest. „Das tue ich; er ist wirklich ein cooler Kerl. Ein Idiot in Bezug auf Frauen, aber ein guter Freund", sagte Cassie. Willow runzelte hellhörig die Stirn. „Wieso ein Idiot?", hakte sie neugierig nach.

„Ich glaube, er ist beziehungsunfähig. Jedenfalls wechseln die Mädchen an seiner Seite recht häufig, wenn er es überhaupt lang mit einer aushält. Die Beziehungen, die er hat, halten jedenfalls nur kurz. Warum genau weiß ich nicht, denn ich finde, er ist ein echt angenehmer Zeitgenosse, aber ich habe ihn schon häufiger mit oder über seine Freundinnen sprechen hören. Beziehungen sind nicht sein Ding. Doch das ändert nichts daran, dass er im Herzen ein guter Kerl ist", grinste Cassie. Noch während Willow ihre Worte verarbeitete, zog Cassie ihr Smartphone aus der Tasche, tippte darauf herum und hielt es sich ans Ohr. Willow runzelte skeptisch die Stirn.

„Wen rufst du an?", fragte sie und bemühte sich dabei, weniger aufgeregt zu klingen, als sie eigentlich war. „Na, Carlos. Ich frage ihn, wann du mal mit deinem Auto vorbeikommen kannst."

„Das musst du nicht", sagte Willow panisch. „Mach dir nicht ins Hemd, Willow. Wozu hat man denn sonst Freunde?", fragte Cassie lächelnd. „Ich kann da auch selbst anrufen", probierte Willow, ihre Schwester von ihrem Vorhaben abzubringen. Die verdrehte die Augen, bevor sich ihre Lippen zu einem Strahlen verzogen. „Hey Carlos, ich bin's, Cassie."

Willow fuchtelte wild vor ihrem Gesicht herum und bedeutete ihr, aufzulegen. „Ich weiß doch gerade gar nicht, wie ich Zeit habe", zischte sie unbeholfen, doch Cassie ignorierte sie. „Mir geht's gut, ich hoffe, dir auch", flötete sie an Carlos gewandt. „Hör mal, ich habe eine kurze Frage. Ich stehe hier gerade mit Willow und sie hat mir erzählt, dass ihr Auto nicht mehr so gut startet. Meinst du, sie könnte die Tage mal bei dir in der Werkstatt vorbeikommen, damit du es dir mal ansehen kannst?"

Wie findet ihr, dass Cassie ihn angerufen hat? Würdet ihr an Willows Stelle hinfahren oder einen Rückzieher machen? Und könnt ihr verstehen, dass sie sich nicht bei ihm gemeldet hat? Fragen über Fragen 😄

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