5. Wandernder Krieger
Das Dunkel der Nacht wich Stück für Stück dem Licht des Tages. Azrean stand im Ausguck des Forts, den Blick auf die fernen Baumkronen gerichtet. Die Blätterdächer bildeten einen natürlichen Teppich, über den die Sonnenstrahlen krochen.
Die Tiere im Wald begrüßten den neuen Tag mit ihrer morgendlichen Symphonie. Früher einmal hatte er es genossen, diesen Geräuschen zu lauschen. Jetzt war jeder Morgen eine Erinnerung an vergangene Tage. Eine, die ihn gefährlich nah an den Abgrund trieb, vor dem Sam ihn zu bewahren versuchte. Ihm war klar, warum er ihn fortschickte. Aber was machte es für einen Unterschied? Seine Sonne war verbrannt. Es gab nichts, woran er sich hätte orientieren können. Anweisungen zu befolgen war einfach. Keine Entscheidungen treffen, nur funktionieren.
Leider war das nicht das, was sein Freund sich für ihn wünschte. Sam war fest entschlossen, ihn zu retten. Bei dem Gedanken schnaubte er. Dazu war es längst zu spät. Er war gefangen in der ewigen Nacht, die ihn nun schon seit zwei Jahren umgab. Es gab kein Entrinnen. Kein Licht, dass ihn wieder in den Tag führte. Nicht, dass er geführt werden wollte. Es war okay so.
Reglos stand er da und beobachtete das Farbenspiel am Himmel. Die Symphonie des Waldes veränderte sich mit der Zeit. Einige Vögel verstummten, neue kamen hinzu. Jeder Ort hatte seine eigene, unverwechselbare Melodie.
Langsam erwachte auch das Lager unter ihm zum Leben. Das Versorgungsteam deckte die Tische und stellte die Speisen bereit. Ein Hauptmann hatte seine Gruppe zum Frühsport einbestellt. Lautstark bellte er seinen schlaftrunkenen Soldaten Anweisungen zu. Azrean konnte sich noch gut daran erinnern, wie es am Anfang seiner Karriere gewesen war. Das Leben im Heer war nicht einfach. Aber es war das Einzige, das er kannte. Seine Eltern hatten ihm geraten, Bauer zu werden. Innerlich schüttelte es ihn. Er konnte sich nicht vorstellen, Felder zu bestellen und zu hoffen, dass das Wetter ihm gewogen war. Lieber kroch er durch Matsch und kämpfte sich durch dichtes Gestrüpp. Niemand in seinem Heimatort hatte seine Entscheidung, sich dem Heer anzuschließen, gebilligt.
Bei einem Ausflug war er über Samael gestolpert. Zum ersten Mal hatte er jemanden kennengelernt, der seine Ansichten teilte. Sam war ein Vollblutkrieger. Von dem jungen Mann beeindruckt, war er ihm zum Ausbildungslager gefolgt. Schnell hatte sich eine tiefe Freundschaft zwischen ihnen entwickelt, die durch die harten Ausbildungsjahre gestählt worden war. In ihm hatte er eine neue Familie gefunden. Jemand, der nicht versuchte, ihn zu ändern. Der ihn unterstützte. Lange Zeit war Sam der Einzige gewesen - bis Lien in sein Leben getreten war.
Bilder drängten vor sein geistiges Auge. Bilder, die er nicht sehen wollte. Gemeinsam mit den aufwallenden Gefühlen drückte er sie beiseite.
„Az." Die ruhige Stimme wurde vom Wind zu ihm getragen.
Samael stand unter ihm und sah nach oben. Einige Augenblicke lang kreuzten sich ihre Blicke. Es bedurfte keiner Worte, um einander zu verstehen. Ein kaum merkliches Nicken, dann entfesselte Azrean seine innere Magie und zersprang.
Sein alter Freund starrte der glühenden Aschewolke hinterher. Sie hatte die Form eines großen Vogels. Erst als die Konturen mit dem Morgenlicht verschwammen, wandte Sam den Blick ab. Es ist besser so, sagte er sich und machte sich an die Arbeit.
Ohne Ziel vor Augen trieb Azrean durch die Luft. Wohin auch immer der Wind ihn trug, es war ihm egal.
Stundenlang ließ er sich treiben. Erst, als der endlose Wald am Horizont eisigen Bergen wich, formte sich ein Plan in ihm. Dort lagen die Gärten des ewigen Eises. Einst waren die Eisinseln die Heimat seines Volkes gewesen. Damals, als seine Art noch nicht gejagt worden war. Es hatte nie viele Phönixe gegeben, jetzt konnte man sie fast an einer Hand abzählen.
Ein weiterer Grund, warum es sich lohnte, Krieger zu sein. Er würde nicht kampflos sterben. Wieder wanderten seine Gedanken zu Lien. Goldgelbe Augen, die vor Lebensfreude sprühten. Wallende, hellrote Haare mit blauen Spitzen. Ihre Züge waren von Sanftmut und Weichheit gezeichnet. Nichts Kantiges hatte ihr Gesicht hart wirken lassen. Sie war das Gegenteil von ihm gewesen. An ihm gab es unzählige Ecken und Kanten, scharfe Züge. Die Lebensfreude war geradezu aus ihr heraus gesprudelt. Er hatte ihr stundenlang zusehen können. Er war ihr Fels in der Brandung gewesen, sie sein Ruhepol.
Mit jedem Tag, der verging, vermisste er sie mehr. Das hätte nicht passieren dürfen. Warum hatte er es nicht kommen sehen? Zorn wallte in ihm auf, ließ die Luft um ihn herum flimmern.
Einem Blitz gleich, schoss er auf die Eisinseln zu. Dort wich er einigen eisigen Zacken aus und hielt auf ein bekanntes Tal zu. Kurz bevor er in den Boden krachte, entflammte der Aschevogel. Die Flammen formten sich zu einer Gestalt, die schnell feste Züge annahm.
Schwer atmend stand Azrean in dem verlassenen Tal. Der Schmerz wütete in ihm. Die Bilder wollten sich nicht länger einschließen lassen. Je mehr an die Oberfläche drängten, desto mehr schwand seine Kontrolle über seine Glut. Ein Feuersturm tobte in ihm. Er musste sich abreagieren.
Nachdem er sich vergewissert hatte, dass er alleine war, gab er die Zügel aus der Hand. Während sich das vereiste Tal in ein Flammenmeer verwandelte, erfüllte ein herzzerreißender Schrei die Luft.
Stundenlang wütete das Feuer. Stundenlang schrie er seinen Schmerz hinaus und weinte. Goldene Tränen rannen seine Wangen hinab. Als sie auf den Boden trafen, erwachte das Eis zum Leben. Kleine Eisblumen wuchsen daraus empor.
Als sich Ruhe über das Tal senkte, kauerte Azrean in einem Meer aus eisigen Blumen. Kraftlos ließ er sich auf die Seite fallen und schloss die Augen.
Ein leises Fiepen holte ihn aus einem tiefen Schlaf. Sein Gesicht fühlte sich klebrig an, als hätte ihn jemand eingepinselt.
Das Fiepen wurde lauter, drängender. Träge streckte er seine Hand danach aus. Prompt wurde sie abgeschleckt. Das Fiepen stoppte, dafür wurde sein Gesicht eingesabbert.
Eine feuchte Nase stupste ihn an. Immer wieder, bis er sich dazu durchrang, die Augen zu öffnen.
Dunkelheit umgab ihn. Am Himmel leuchteten zahllose Sterne und neben ihm ragte ein massiger Schatten auf. „Hey, mein Großer."
Gnesh stupste ihn weiter an. Dabei gab er ein Brummen von sich, das schwer nach Nörgeln klang.
Beruhigend tätschelte er ihm den Kopf. „Ich steh schon auf."
Offenbar ging es dem Biest nicht schnell genug, denn es bohrte seinen Schädel in Azreans Rücken. Sobald er stand, sah er sich um. Er war noch im eisigen Tal, umgeben von einem Feld an im Sternenlicht glänzenden Blumen. Dass sie da waren, war nicht weiter verwunderlich. Die Anzahl hingegen verschlug ihm die Sprache. So viele hatte er noch nie auf einem Haufen gesehen.
Phönixtränen hatten eine heilende Wirkung. Wenn sie auf den Boden trafen, nahmen sie eine feste Form an. In seinem Fall waren es Blumen aus Eis. Es bedurfte eines Phönix, die heilende Kraft aus dem Gefäß zu befreien.
Das Verstörende an dem kleinen Feld war, dass ein Phönix nur weinte, wenn er tiefen seelischen Schmerz erlitten hatte. Es war die Art Schmerz, die einem die Luft zum Atmen nahm. Und den Willen zu Leben.
Von einem Gefühl der Leere erfasst, lehnte er sich an Gnesh. Das Wolfsfell war noch klamm.
„Du bist wahnsinnig, weißt du das?" Sein Biest musste ihm in halsbrecherischem Tempo gefolgt sein. Diese Tiere waren von Natur aus schnell, aber das war rekordverdächtig. Darüber hinaus musste er einen guten Kilometer durch einen Engpass im Meer geschwommen sein. Sein Herz erwärmte sich bei dem Gedanken. Gnesh war ihm treu ergeben. Sie beide waren noch übrig. „Danke, Gnesh."
Mit steifen Gliedern streckte er sich. So, wie er sich fühlte, hatte er lange geschlafen. Jetzt hatte er jedoch anderes zu tun. Er musste die Blumen verstecken. Zwar lebten auf diesen Inseln keine Phönixe mehr, dennoch kamen immer wieder Wesen her. Ob auf der Suche nach einem Abenteuer oder aus Gier, die Motive waren unterschiedlich. Eines hatte er den Abenteurern jedoch voraus: Er kannte sich aus.
Das Besondere an dem ewigen Eis war, dass es von außen nicht durchsichtig war, von innen schon. Zudem war es nicht kalt und resistent gegen die Glut der Phönixe. Manche behaupteten, dass es sich dabei gar nicht um Eis handelte, sondern um einen riesigen, kostbaren Stein.
Das Wissen um den Zugang zum unterirdischen Höhlensystem war den Phönixen vorbehalten. Dies war einst die Heimat seiner Art gewesen. Nachdem man die Jagd eröffnet hatte, waren die Inseln unbewohnt. Seine Eltern hatten ihn hergebracht, um ihm zu zeigen, wo er in Zeiten der Not Unterschlupf finden würde.
Durch einen versteckten Eingang betrat er den Berg. Gnesh folgte ihm auf den Fersen.
Um bei der herrschenden Dunkelheit etwas zu erkennen, zapfte er seine innere Glut soweit an, dass seine Haut ein schwaches Leuchten von sich gab. Eine Weile streiften sie durch die unterirdischen Höhlen, bis er auf eine stieß, die ihm geeignet schien. Sie war klein und lag ein wenig abseits. Ein weiteres Mal benutzte er seine magische Kraft, um eine Flamme zu schaffen. Diese legte er auf den Boden und befahl Gnesh bei ihr zu bleiben. Das Biest sollte in Ruhe trocknen. Er hatte genug getan.
Mit der aufgehenden Sonne trug er die letzten Blumen in Sicherheit. Kopfschüttelnd betrachtete er die Sammlung. In seinen Augen hatte die Natur einen eigenartigen Sinn für Humor. Sein Schmerz konnte anderen helfen. Die Zartheit der Gebilde ließ nicht im Mindesten darauf schließen, welches Ausmaß an Leid sie geschafften hatte.
Gnesh hatte sich neben der Flamme ausgebreitet. Hin und wieder gab er ein tiefes Seufzen von sich. Offenbar genoss er die Wärme. Azrean setzte sich neben ihn und nährte das Feuer.
--------------
~ Es folgt ein wenig Autoren-Senf ;) ~
Hallo meine Lieben,
nach langer Zeit gibt es hier eine neue Geschichte. Ich hoffe, der Anfang hat Euch bislang gefallen. Denkt bitte daran, die Kapitel mit einem Sternchen zu belohnen ;)
Wie ihr vielleicht schon mitbekommen habt, arbeite ich daran, nach "Unter Magiern" Eisblau und Feuerrot, auch Teufelsnacht und anschließend die Schattenseelen-Reihe auf Amazon zu veröffentlichen. Da bleibt leider nicht allzu viel Zeit, zum Schreiben neuer Geschichten. Also gibt's die Updates monatlich.
Ich freue mich schon darauf, Eure Kommentare zu lesen. Ob ihr bei diesen Helden ebenso mitfiebert, wie bei Ria, Gwen, Lia und Florence?
Liebe Grüße,
Eure Ama
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top