2. Kranker Wald
Ein alles einnehmender Schmerz riss Isa aus ihrem Schlummer. Diese Art entstand nur, wenn man gewaltsam von einem Baum oder dem Netz getrennt wurde.
Um Orientierung kämpfend, tastete sie nach ihrer Umgebung. Sie versuchte zu blinzeln, doch ihre Lider waren zu schwer. Was war das? Die Symptome erinnerten sie an Erschöpfung, aber das konnte nicht sein. Sie hatte bis eben geruht.
„Isa?" Eine vertraute Stimme drang zu ihr durch. „Isa, gib nicht auf."
Die Worte ergaben keinen Sinn. Sie kämpfte doch gar nicht. Warum sollte sie aufgeben? War das hier ein Streich? Den Gedanken verwarf sie sofort wieder. Es war verboten, Rankenwesen von Bäumen zu trennen. Nur im Notfall durfte die Vorsteherin so etwas anordnen.
Ihre Hände stießen auf Stoff. Als sie zugreifen wollte, entglitt er ihr.
„Wir sind gleich bei der heiligen Quelle, die sollte dir helfen."
Sie wollte fragen, was los war, doch weder ihre Lider noch ihre Zunge gehorchten ihr. Blind und stumm, wie sie war, wartete sie darauf, abgesetzt zu werden. Als es dann so weit war, spürte sie Wasser ihren Körper umschließen.
Allmählich kehrte die Kraft in ihre Glieder zurück. Ihre Haut kribbelte und ihr wurde heiß. „Was ist das?" Irritiert schlug sie die Augen auf.
Sie lag in dem Becken, das die Vorsteherin zur rituellen Reinigung nutzte. Das Wasser stammte aus einer nahen Quelle, die mit Magie versetzt war. Den normalen Mitgliedern des Tempels war es untersagt, dieses Bad zu benutzen. Dennoch war sie hier.
Eine erneute Hitzewelle durchfuhr sie. Keuchend klammerte sie sich an den Rand. Dabei fiel ihr Blick auf das Wasser. Sie erschrak. Schwarze Schlieren schwammen auf der Oberfläche. Was sie noch mehr verstörte, war, dass sie aus ihrem Körper kamen. Allmählich verblasste das Schwarz, bis es sich, nach schier endlosen Augenblicken, auflöste. Die Magie kämpfte gegen die ölige Substanz.
Isa traute sich nicht, das Becken zu verlassen. Wieso trug sie diese Schwärze in sich? War sie etwa krank? Infiziert mit der Seuche, die einen der Bäume getötet hatte? Was, wenn die Schwärze in ihr sich im Wasser ausbreitete und andere ansteckte, bevor die Magie sie neutralisierte?
In den folgenden Stunden verharrte sie im Becken und hoffte inständig, dass das magische Nass ihr half. Dabei kämpfte sie abwechselnd gegen Schwäche und Hitze.
Als die Vorsteherin am Abend kam, um nach ihr zu sehen, hing sie erschöpft über den Rand. Die ältere Rankenfrau kniete sich neben sie. Isas Haut war ganz blass und ihr zuvor dunkelbraunes Haar nun fast blond, das Gesicht eingefallen. Als wäre sie viel zu lange von den für sie lebenswichtigen Quellen abgeschnitten gewesen.
Sorge schlich sich in den Blick der Obersten. Sie hatte gehofft, dass der befallene Baum eine einmalige Sache war. Dass niemand sonst der Seuche anheimfiel. Isas Schicksal war grausam. Das junge Wesen lebte keine zwei Dekaden. Sie hatte noch unzählige Geschichten zu sammeln und weiterzugeben. Dieses Leben durfte so nicht enden. Aber was sollte sie tun? Die Lords verweigerten ihre Hilfe. Ihr Tempel war auf sich allein gestellt.
In einem Anflug von Mitgefühl strich sie Isa übers Haar. Dabei spürte sie eine Dunkelheit in ihr. Etwas, das sich mit aller Macht an Isa klammerte und ihr Leben verzehrte.
In dem Vorhaben, die junge Frau zu retten, ließ sie ein zweites Becken bringen. Auch das wurde mit Wasser aus der magischen Quelle befüllt. Das, in dem Isa lag, war mittlerweile nachtschwarz.
Sobald sie im neuen Becken lag, schickte die Vorsteherin einen Boten zu einer Magierin. Dieses Übel musste versiegelt werden.
Isa erholte sich nur schleppend. Ihr war, als befände sie sich unter einem schweren Schleier. Einer, der sie zu Boden drückte, wenn sie stehen wollte. Der ihr den Appetit und den Durst stahl.
Die Berater waren ratlos. So etwas hatten sie noch nie zuvor gesehen.
Als feststand, dass Isa nicht zu heilen war, durfte sie das Becken verlassen. Man gestattete ihr, den Baum ihres Ursprungs zu besuchen. Danach sollte sie sich in Isolation begeben. Die Angst, angesteckt zu werden, war bei den Anderen allgegenwärtig. Kaum jemand sprach mehr mit ihr, als wären allein ihre Worte ansteckend. Daher wunderte es sie, dass man sie in den Wald ließ.
Ihre Verwunderung löste sich in Luft auf, sobald sie den Baum sah. Er war schwarz.
„Nein!" Mit einem tonlosen Schluchzen rannte sie darauf zu. Das durfte nicht sein! Vor zwei Tagen war noch alles in Ordnung gewesen. „Was ist passiert?" Tränen rannen ihr über die Wangen. Ihre Kraft entwich ihr, ihre Glieder wurden schwer.
Die Vorsteherin trat neben sie. „Sie hat dich angesteckt, Isa."
Um Atem ringend, ließ sie sich zu Boden sinken. Die Krankheit schwächte sie zu sehr.
Jemand hob sie hoch und trug sie zurück in ihren Raum. Sie nahm das nur am Rande wahr. Ein weiterer Baum war tot. Der Baum, aus dem sie hervorgegangen war. Zwar hatten sie nicht so menschliche Beziehungen wie Eltern und Kind, aber dieser Baum war ein Teil von ihr gewesen. Er hatte seine Lebenskraft mit ihr geteilt, bis sie stark genug gewesen war, auf eigenen Beinen zu stehen. Und jetzt war er tot.
„Hier." Marna tauchte in der Tür auf und stellte eine Schale auf den Boden. Weiter traute sie sich nicht in Isas Nähe. Solange niemand zu sagen vermochte, wie die Ansteckung funktionierte, hielt man es für sinnvoll, die Infizierte zu meiden.
In der Schale war Wasser aus der heiligen Quelle. Es war das Einzige, was die Krankheit in Schach hielt. Artig trank Isa sie leer.
Seit sie denken konnte, hatte sie vom Leben jenseits des Heiligen Hains geträumt. Sie hatte sich vorgestellt, wie es wäre, über den endlosen Ozean zu segeln oder die Nachtlande zu bereisen. Angeblich gab es dort weder Sonne noch Mond. Keinen Tag und keine Nacht. Das wollte sie mit eigenen Augen sehen. Stattdessen hockte sie in einer steinernen Kammer im Tempel der Erinnerung. Ihre Träume? Begraben unter den Schlieren der Seuche. Sollte es so enden? War sie bereit, zu vergehen, ohne zumindest einen nahen Ort gesehen zu haben? Die Schönheit der Gärten des ewigen Eises oder Nascav, die Stadt der Meerwesen?
In diesem Moment beschloss sie, nicht einfach so abzutreten. Sobald sie kräftig genug war, war es Zeit, sich wenigstens einen Traum zu erfüllen. Sie würde reisen. Ihre erste Station hatte sie bereits ausgemacht. Die Gärten des ewigen Eises. Die Strecke war nicht allzu weit, dorthin sollte sie es schaffen.
Als die Vorsteherin am folgenden Tag nach ihr sah, teilte sie ihr ihren Entschluss mit.
Die ältere Rankenfrau atmete erleichtert aus. „Das ist gut." Auf Isas fragenden Blick hin, erklärte sie: „Die anderen bekommen Angst vor der Krankheit. Sie fordern, dass du gehst."
Schwer schluckend wandte Isa sich ab. „Ihr verbannt mich aus dem Tempel?"
„Nein, Isa." Die sanfte Stimme der Vorsteherin änderte in ihren Augen nichts an der Tatsache, dass sie gehen musste. „Ich werde dir einen Brief mitgeben. Vielleicht kannst du die Lords erreichen."
Zorn keimte in ihr auf. Sie schickten sie fort, weil sie sie fürchteten. Dann verlangten sie auch noch, dass sie ihr Leben opferte, um einem der Lords noch einmal die Bitte um Hilfe zukommen zu lassen. Nein, dachte sie, so selbstlos bin ich nicht.
Zwar hatte sie geplant zu gehen, aber das war etwas anderes. Ihre gesamte Existenz hatte sie in den Dienst des Tempels gestellt. Sie hatte den Heiligen Hain nie verlassen, weil man ihr gesagt hatte, es wäre zu gefährlich. Vor allem für eine künftige Beraterin und Vorsteherin. Jetzt hatte sie genug. „Gib mir dein Schreiben. Aber ich verspreche nicht, es sofort zum Lord zu bringen."
Die Vorsteherin seufzte. „In Ordnung. Du sollst auch nicht zum Lord, sondern zu einem seiner Regimente. Das Heer weiß vielleicht mehr als er."
Isa schwieg. Sie wollte sich nicht mit ihrer Obersten streiten. Die Rankenfrau hatte keine leichte Bürde zu tragen.
„Das Netz ist in dir, Isa."
Schwer schluckend drehte sie sich um, doch die Vorsteherin war bereits verschwunden. Zurück blieben eine volle Schüssel mit Wasser, eine kleine Reisetasche und ein Brief. Das Netz ist in dir. Diese Worte sagte ihr Volk zum Abschied. Wenn ein Mitglied der Gemeinschaft auf Reisen ging. Meist, um neue Geschichten zu sammeln.
In der Tasche befand sich nicht viel. Ein Mantel, zwei Flaschen mit Wasser aus der heiligen Quelle und ein kleines Messer. Dazu noch etwas Geld.
Jetzt war es offiziell. Man hatte sie nicht nur verstoßen, sondern zum Sterben in die Welt geschickt und ihr gesagt: Wenn du eh schon drauf gehst, kannst du für uns um Hilfe bitten. Und das alles mit zwei mickrigen Flaschen magischen Wassers. Das bedeutete, am dritten Tag war sie ohne Heilmittel.
Mit dem Gefühl, verraten worden zu sein, stahl sie sich in den Vorratsraum. Dort lagerten die Behälter. Sie würde länger leben als drei Tage. Das versprach sie sich.
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