11. Ohne Ehrgefühl

Sie öffnete gerade die Tür zu Azreans Haus, da wurde sie von hinten gepackt. Erschrocken versuchte sie, sich umzudrehen und ihren Angreifer zu erkennen. Schwärze legte sich über ihre Augen. Jemand riss ihre Arme nach hinten und fesselte sie. Die Seile saßen zu fest und schnitten in ihre Handgelenke.

„Was soll das?", flüsterte sie und zerrte an ihren Fesseln. Sie verstand die Welt nicht mehr. Az hatte ihr gesagt, im Lager wäre sie sicher. Dass es hier keine Überfälle gab. Er hatte sich geirrt.

Dreckiges Lachen war die Antwort. Da es mehrere Stimmen waren, wusste sie zumindest, dass es eine Gruppe war. Wie feige. Und ungerecht. Warum suchten sie sich ausgerechnet sie aus? Hatte sie nicht schon genug durchgemacht? Sie war fast gestorben! Da verdiente sie doch wenigstens etwas Gutes!

Einer ihrer Peiniger hob sie hoch und trug sie durch die Gegend. Dabei bohrte sich seine Schulter in ihren Bauch, sodass ihr furchtbar schlecht wurde.

Ohne Vorwarnung wurde sie zu Boden geworfen. Als sie vor Schmerz aufschrie, lachten die Unbekannten.

„Ein Mädchen ist eben nicht dazu gemacht, Schmerzen auszuhalten", feixte einer. Isa erkannte ihn als den Anführer der Rekruten, die sie schon am Mittag belagert hatten. Nun bereute sie es, Gnesh dazu überredet zu haben, sich eine Auszeit zu nehmen. Mit dem Biest an ihrer Seite hätten sich die Männer das sicher nicht getraut.

Einer der Rekruten zog sie an ihren Haaren auf die Beine. Da ihre Hände hinter ihrem Rücken gefesselt waren, konnte sie sich nicht abstützen. Vor Schmerz traten ihr Tränen in die Augen. Sie verbat es sich, zu weinen. Sie hatte nicht geweint, als die Grobiane sie auf dem Weg zu den Gärten des ewigen Eises überfallen hatten. Jetzt würde sie es auch nicht tun. Zwar wusste sie nicht, warum diese Männer ihr das antaten. Was sie wusste, war, dass sie keine Schwäche zeigen durfte. Das hatte Samael ihr erklärt. Wenn dich jemand einschüchtern will, bleib stark. Die Starken und Selbstbewussten werden nicht schikaniert. Es war einer der Ratschläge, die er ihr beim Training gegeben hatte. Daran klammerte sie sich. Wenn dir jemand wehtun will, wird er es tun. Egal was von dir verlangt wird, bleibe dir treu. Möchte jemand von dir Informationen erzwingen, gib sie ihnen nicht. Denn danach hast du keinen Wert mehr für sie. Du musst stark sein, Isa. Lass sie nicht sehen, dass dein Herz blutet. Sie werden es gegen dich verwenden. Das waren Azreans Worte. Sie hatte ihn während einer Übungsstunde gefragt, ob sie den Überfall durch die Diebe hätte verhindern können.

Eine Faust grub sich in ihren Magen und trieb ihr die Luft aus den Lungen. Ein zweiter Schlag folgte, als ihre Haare losgelassen wurden. Daraufhin schlug ihr Körper schmerzhaft auf dem Boden auf. Sie glaubte, Sternchen zu sehen.

„Erkennst du an, dass es Unsinn ist, eine von uns sein zu wollen?" Die geraunten Worte ließen sie schaudern. „Eine Frau gehört ins Haus. Und in das Bett eines Mannes." Die anderen lachten dreckig.

Jemand umfasste ihr Kinn. Schmerz fraß sich durch ihre Gedanken. Sie wollte, dass das aufhörte. Sofort!

Ein Anderer riss an ihren Stiefeln. „Du hast diese Uniform nicht verdient!"

Als ihr klar wurde, dass sie planten, sie zu entkleiden, schrie sie. Sie rief nach allen, die sie kannte. Samael, Azrean, Gnesh und Basra.

„Sie werden sich nicht um eine dreckige Hure wie dich kümmern", höhnte einer. Noch immer lag etwas über ihren Augen und versperrte ihr die Sicht.

So sehr sie die Tränen auch unterdrücken wollte, sie liefen ihr nun frei die Wangen hinunter. Machtlos musste sie miterleben, wie die Männer ihr die Kleider vom Leib zerrten und schnitten. Dabei bedachten sie sie mit einer Reihe von Beleidigungen.

„Ihr seid feige", hauchte sie, als sie nichts mehr am Körper trug. „Und ehrlos."

„Schweig, Mädchen!", fuhr sie einer der Fremden an. „Du hast deinen Mund zu halten. Wir Männer genießen gerade die Aussicht."

Eine fremde Hand verirrte sich in ihr Haar, dann wurde ihr die Augenbinde entfernt. Isa blinzelte. Sie kauerte auf dem Boden, den Blick aufs Gras gerichtet. Sie wollte nicht in die Gesichter der Männer sehen und erkennen, wie sehr sie ihre Demütigung genossen.

Ein Schatten bewegte sich auf sie zu. Unter Anstrengung erkannte sie den Mann, den sie am Mittag im Training besiegt hatte. Ein sadistisches Lächeln zierte sein jungenhaftes Gesicht. „Wir haben noch eine Rechnung offen, Schlampe." Und dann trat er sie. Immer und immer wieder vergrub er seinen Fuß in ihrem Körper.

Verzweifelt zerrte sie an ihren Fesseln. Sie wollte sich befreien und wegrennen. Doch alles, was geschah, war, dass ihre Handgelenke noch wunder wurden. Sie schickte einen Hilferuf gen Himmel. „Azrean, Samael. Bitte. Irgendjemand. Rettet mich."

Auf einmal fegte ein Donnergrollen über den Ort, gefolgt von bösem Knurren.

Isas Peiniger starrte sie hasserfüllt an. „Eine Frau wird es niemals mit mir aufnehmen können. Du bist ein Nichts!" Er wollte noch einmal ausholen, da durchzuckten Blitze den Himmel.

Als das Leuchten nachließ, stand ein schwarzer Schatten vor dem Mann. Blitze wanderten über seine Haut und sein Mantel wehte in der Macht, die von dem Fremden ausging.

Isa sah zu ihrem unbekannten Retter auf. Der schubste den Mann zurück, dann wandte er sich ihr zu. „Alles okay?" An der sorgenvollen Stimme erkannte sie, wer es war.

„Samael." Sie wollte sich in seine Arme werfen, war aber zu schwach. Resignierend legte sie ihren Kopf auf den Boden. „Danke."

„Basra." Er zog seinen Mantel aus und half ihr beim Aufsetzen. Dann legte er ihn ihr um. Kurz darauf war sein Biest an ihrer Seite. „Pass auf Isa auf." Er hatte einige Rekruten zu grillen.

Die angehenden Soldaten hatten nicht erkannt, wer ihre Schikanen unterbrochen hatte. Zwei von ihnen griffen Sam von hinten an. Er schleuderte ihnen seine Macht entgegen. Spannung lag in der Luft und wartete nur darauf, von ihm genutzt zu werden.

Obwohl Rufe der Empörung und Beleidigungen durch die Luft hallten, war ein Geräusch deutlich zu hören. Das, wie er sein Schwert aus der Scheide zog. Es war ein unheilverkündendes Geräusch. In vielen seiner Schlachten hatte es erfolgreich seine Gegner demoralisiert. Auch jetzt verfehlte es seine Wirkung nicht. Als die ersten Rekruten sich auf ihn stürzten, war er bereit. Er nahm keine Rücksicht auf sie, als er sie abwehrte. Die hatten sie Isa auch nicht zukommen lassen. Er wirbelte herum und schwang sein Schwert so vertraut, als hätte er nie etwas anderes getan. Währenddessen grollte der Donner über ihm.

Erst als jeder einzelne von ihnen auf dem Boden lag, senkte er seine Waffe. Mit einer Handbewegung beschwor er Blitze herauf, die über das Schlachtfeld zuckten und jeden Rekruten brandmarkten. Anschließend schickte er einen der vom Spektakel angelockten Soldaten los, um einen Capitan zu holen. Dieser sollte sich um die Männer kümmern, bis er es wieder Zeit dafür fand. So glimpflich würden sie nicht davonkommen.

Nachdem das geklärt war, ging er zu Isa. Bei ihrem Anblick zog sich sein Herz zusammen. Die junge Frau, die fast noch ein Mädchen war, hatte sich in Basras massiger Gestalt vergraben.

Er vergewisserte sich, dass sein Mantel ihren Körper bedeckte, dann hob er sie hoch. Vorsichtig trug er sie zu seinem Haus. Dort angekommen, legte er sie auf sein Bett. Nachdem er eine Lampe entzündet hatte, wandte er sich zu ihr um.

Isa hatte sich auf der Seite zusammengerollt und zitterte am ganzen Körper. Blitze wanderten über seine Haut, als er den Raum verließ, um ihr eines seiner Hemden zu organisieren. Sein Mantel war nur eine Notlösung gewesen. Wie konnten die Rekruten es wagen, sich an seinem Gast zu vergreifen?

Basra lag vor der Tür zum Schlafzimmer und starrte in Richtung Bett. Seine eigensinnige, sture Basra. Sogar Az mied sie, weil sie launisch war. Isa hingegen schien das Herz seines Biests erobert zu haben. Sonst hätte sie Isa nicht mit ihrem Körper geschützt, sondern ihm beim Angriff geholfen. Das wäre ihre typische Reaktion gewesen. Biester konnten nicht gezähmt werden. Sie wählten sich einen Begleiter und blieben aus Treue bei ihm. Nicht, weil er ihr Herr war. Er fand die gängige Bezeichnung als unpassend. Basra war nach wie vor ihre eigene Herrin.

Als er eintrat, lag Isa unverändert auf seinem Bett. Tränen liefen ihre Wangen hinunter. Betroffen streckte er seine Hand danach aus. Doch kaum berührte er sie, zuckte sie zusammen. „Hey, schon gut. Ich bin es, Sam."

Sie blinzelte ein paar Tränen aus den Augen. Als sie ihn erkannte, malte sich Erleichterung auf ihren Zügen ab. „Ich habe nicht geträumt."

„Nein." Er legte eine Hand an ihre Wange und wischte die Tränen fort. „Entschuldige, dass ich nicht früher da war."

Sie schüttelte ihren Kopf. Als sie zusammenzuckte, bemerkte er, dass sie einen Schnitt im Nacken hatte. Sein Groll wuchs. Diese junge Frau war völlig wehrlos gewesen. Wer ihr das angetan hatte, besaß keine Ehre. „Basra?"

Sie grummelte.

„Hol mir bitte eine Versorgungstasche." Er musste ihre Wunden reinigen und verbinden. Nicht, dass sie sich entzündeten.

Er hörte, wie sie sich aufrappelte und die Tür aufstieß. Dann war sie fort.

Ein leises Schluchzen kam von Isa. „Ich habe versucht, stark zu sein. Wie ihr es mir gesagt habt", flüsterte sie erstickt. „Aber es hat nichts gebracht."

Ihre Verzweiflung traf ihn tief. Sie sollte nicht leiden. Seufzend strich er ihr die kurzen Haare aus dem Gesicht. Ihre Peiniger hatten ihre ungezähmte Mähne abgeschnitten. Sanft hob er ihr Kinn an. Als sich ihre Blicke kreuzten, sagte er bestimmt: „Keiner von denen hätte sich wehren können, wären sie an deiner Stelle gewesen. Es gibt viel Übel in dieser Welt. Die Männer, die dir das angetan haben, werden dafür bestraft." Er würde diese Strafe selbst in die Hand nehmen. Der Angriff auf Isa war mehr als nur das Verprügeln einer zierlichen Frau. Es war eine Kampfansage an ihn. Da sie seine Regeln gebrochen hatten, mussten sie dafür büßen.

Ihre aufgeplatzten Lippen öffneten sich. „Sie tun mir nicht mehr weh?"

„Versprochen."

Er ließ sie kurz allein, um eine Schale mit Wasser und ein Tuch zu besorgen. Nur wenig später kehrte Basra mit einer Tasche zurück. Darin befanden sich Salben, Tinkturen und Verbände.

Nachdem er alles vorbereitet hatte, wandte er sich schweren Herzens an Isa. „Ich muss mir deine Verletzungen ansehen. Kannst du dich hinsetzen?" Er half ihr beim Aufsetzen. Das war der leichte Teil. Damit sie nicht auf falsche Gedanken kam, suchte er für seine nächsten Worte ihren Blick. Sie sollte sehen, dass es ihm ernst war. „Du musst den Mantel ausziehen. Wenn deine Wunden versorgt sind, gebe ich dir was anderes zum Anziehen."

Isa erstarrte. Sie hatte in genug Geschichten gesehen, wann eine Frau nackt war. Aber das waren ganz andere Situationen gewesen. Gab es für sie überhaupt eine Wahl? Wenn sie wollte, dass er ihr half, musste sie ihm vertrauen. Bisher hatte er nichts getan, um ihr zu schaden.

Ihr zartes Nicken zauberte ihm ein Lächeln aufs Gesicht. „Ich werde vorsichtig sein, versprochen."

Darauf bedacht, ihr nicht wehzutun, half er ihr aus seinem Mantel. Was darunter zum Vorschein kam, ließ ihn die Fäuste ballen. Große, goldene Flecken bildeten sich auf ihrem Oberkörper. Es gab kaum eine Stelle, die nicht betroffen war. An einigen Stellen wich das Gold bereits einem tiefen Braun. Dort waren besonders schwere Verletzungen. Das Blut von Rankenfrauen war nicht rot, sondern goldbraun. Die Farbe des Blutes der Bäume.

Er verbrachte fast eine Stunde damit, all ihre Verletzungen einzucremen und die Schnitte zu verbinden. Anschließend half er ihr in sein Hemd. Es fiel so weit um ihre zarte Gestalt, dass es nicht auf die Wunden drückte. Sobald sein Werk vollbracht war, half er ihr beim Hinlegen. Ihr fielen die Augen zu, noch bevor ihr Kopf auf dem Kissen lag.

Behutsam strich er ihr durchs Haar und über die sich verfärbenden Wangen. Es war gut, dass sie schlief. Er wandte sich ihren Handgelenken zu. Sie hatten sie so eng gefesselt, dass Isa Probleme hatte, ihre Hände zu benutzen. Das war nicht gut. Er war kein Arzt, aber er hatte schon genug ähnliche Verletzungen gesehen, um zu wissen, dass diese fatale Auswirkungen haben konnten.

Da er sie nicht unbeobachtet lassen wollte, holte er sich seine Arbeit ins Schlafzimmer. Bevor er sich den Schreiben widmete, verfasste er eines an die Vorsteherin des Tempels der Erinnerungen. Sie wusste bestimmt, wie Rankenfrauen heilten.

Im Verlauf der Nacht stellte sich heraus, dass es gutwar, bei ihr zu bleiben. Sie träumte schlecht und drehte sich immer wieder aufihre Wunden. Als er ihr Wimmern und Schreien nicht mehr aushielt, legte er sichzu ihr. So konnte er wenigstens verhindern, dass sie sich folterte.

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