Kapitel V / Geschichten und Briefe...
Während wir langsam die Treppen runtergingen, sahen wir, wie der Gesichtsausdruck meines Vaters von erfreut zu ernst wechselte.
„Darf ich wissen mit wem ich das Vergnügen habe?"
„Dad, das ist Alec Jackson. Er ist der Junge, mit dem ich das Biologie-Projekt mache." Ich wusste nicht, wieso ich nicht „machen muss" sagte, aber das kam mir einfach nicht mehr richtig vor. Mein Vater sah ihn kalt an. Ich hatte ihn noch nie so erlebt. Das war nicht seine Art. Und vor mir stand nicht der fröhliche, immer lächelnde Vater, den ich kannte.
„Ähm. Guten Abend, Mr. Rose. Es ist mir eine Freude sie kennenzulernen." Nervös streckte Alec die Hand aus, die er vorhin mir gegeben hatte und schaute in die wütenden Augen meines Vaters. Anders als bei meiner Mutter schien Alec keineswegs locker und höflich zu sein. Ich hatte ihn noch nie so verspannt gesehen. Es war, als wäre er ein Rekrut, der zur Musterung antreten musste und mein Vater wäre der ranghöhere Offizier.
Zunächst machte mein Vater keinerlei Anstalten, Alec's Hand zu ergreifen, erst nach einem langen Blick in meine Richtung, griff er schließlich nach der dargebotenen Hand. Er schüttelte sie mit einem starken Griff und zu meinem Entsetzen sah ich das die Knöchel seiner Hand schon fast weiß wurden. Alec jedoch, sah so aus als würde er einem einfachen Händedruck bekommen. So hatte Dad sich noch nie verhalten. Ich sah ihn streng an. Er aber hob nur die Augenbrauen.
„Die Freude ist ganz meinerseits", meinte er kalt. Die einfache Floskel hörte sich aus seinem Mund an, als wäre Alec irgendein Terrorist, der unbedingt gefasst werden musste. Für einen kurzen Moment waren es still und die Stille lastete unangenehm auf jedem von uns. Als meine Mom und mein Bruder hereinkamen und die unangenehme Situation unterbrachen, war ich mehr als froh. Ich wäre am liebsten zu ihr rüber gelaufen und hätte mich wie ein kleines Kind in ihre Arme geworfen.
„Oh. Hallo William", sagte sie sichtlich erfreut.
„Ich wusste nicht das du schon hier bist." Sie ging auf meinen Vater zu und gab ihm einen Kuss. Mein kleiner Bruder kam neugierig herüber und beäugte uns mit seinen großen Hundeaugen. Ich stieß ihm die Finger in die Seiten und er fing an, sich vor Lachen zu krümmen.
Ich hatte noch nie jemanden erlebt, der so kitzelig war, wie er. Erst, als er beinahe keine Luft mehr bekam und japsend auf dem Boden lag, ließ ich ihn los. Er rappelte sich auf und stellte sich hinter mir. Als ich den Kopf hob, sah ich, wie Alec uns mit einem Lächeln beobachtete. Ich lächelte zurück.
Mein Vater räusperte sich und unterbrach somit den Moment. Ich schaute zu meinen Eltern, die sich gerade festhielten und uns anschauten. Meine Mutter lächelte, doch mein Vater sah immer noch wütend aus.
„Alec, oder? Ich glaube..." Unvermittelt unterbrach meine Mutter meinen Vater. So wie es aussah hatte sie Alec erst an diesem Moment bemerkt. Aus diesem Grund sagte sie erfreut: „Alec! Eine Freude dich wiederzusehen. Willst du nicht zum Essen bleiben? Wir haben etwas zu feiern und du bist herzlich eingeladen." Ich hielt die Luft an. Die Luft war so dick, dass man sie hätte schneiden können. Keiner rührte sich. Auch Alec nicht.
„Ich... Äh... Danke für das Angebot Mrs. Rose, aber ich muss leider Ablehnen. Ich muss nach Hause, sonst macht sich meine Mutter noch Sorgen." Für einen winzigen Moment war ich verwirrt. Er hatte doch gesagt, dass seine Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren! Dann fiel mir ein, dass er vermutlich adoptiert worden war, denn es gab in der Nähe, soweit ich wusste, kein Waisenhaus. Ihm war nicht wohl in seiner Haut. Das sah ich genau. Und er stotterte. Er war der coolste und angesagteste Junge der Schule und stotterte. Mein Vater hatte ihn vollkommen aus dem Konzept gebracht.
„Oh, schade. Na ja, dann ein anderes Mal", meinte meine Mutter ein bisschen enttäuscht. Bevor irgendjemand noch etwas sagen konnte, rief ich in die Runde: „Ich begleite dich nach draußen." Bloß raus hier. Irgendwas, ging hier gewaltig schief.
Ich ging vor und sah, wie Alec sich hastig von meinen Eltern verabschiedete und schließlich meinem Bruder die Hand schüttelte. Das fand ich irgendwie süß, denn er lächelte und mein Bruder war froh, dass ihm jemand Aufmerksamkeit schenkte. Danach schlenderte er mir hinterher, auch wenn ich bemerkte, dass er es ein bisschen eiliger hatte, als sonst. Ich wartete an der Tür auf ihn. Er nahm seine Jacke vom Stuhl und zog sie an. Er lächelte mir zu und trat an der Terrasse. Dann drehte er sich noch einmal um.
„Dein Vater hatte ja einen starken Händedruck", lachte er ein bisschen verlegen. Mein Herz machte einen Sprung in meiner Brust und, wenn es überhaupt noch ging, sagte ich noch verlegener: „Ja...tut mir aufrichtig leid." Plötzlich änderte sich Alec's Miene und sah sogar ein bisschen besorgt aus.
„Sicher, dass du recherchieren willst? Nach meiner Erfahrung gibt es Dinge, die man lieber nicht wissen sollte."
„Ich weiß. Aber Alec, ich muss es wissen. Ich muss wissen was das alles soll." Er seufzte und sah mich durchdringend an.
„Na gut. Aber sei vorsichtig. Stell nur indirekte Fragen und sei immer in der Defensive. Nur so hast du eine Chance, Antworten zu bekommen." Ich steckte mir die Hände in die hinteren Hosentaschen und sah auf meine Füße.
„Danke für deine Hilfe Alec."
„Das ist gar nichts. Ich hoffe nur, dass wir beide da nicht in was hineinlaufen, dass wir nicht selber lösen können."
„Ich auch, Alec, ich auch", murmelte ich ein bisschen niedergeschlagen. Ein bisschen unbeholfen, sah ich ihn an und wusste nicht recht, was ich machen sollte.
Er machte den ersten Schritt, denn er kam näher und umarmte mich. Es tat gut. Wirklich gut. Ich fühlte mich sicher. Geborgen. Erneut umfing mich der süßliche Duft nach Tannenharz und ich wollte, dass dieser Moment nie wieder zu Ende ging. Zögernd erwiderte ich seine Umarmung. Ich zwang mich, bald wieder loszulassen, auch wenn ich seine Nähe sofort wieder vermisste.
„Gute Nacht, Dornröschen."
„Gute Nacht." Mit diesen Worten schloss ich die Tür.
*
Ich ging langsam ins Wohnzimmer zurück. Meine Mutter streckte sich gerade und stöhnte erschöpft: „Was für ein Tag! Ich glaube ich brauche ein schönes, warmes Bad."
„Gönn dir das. Währenddessen mache ich uns ein leckeres Abendessen", meinte mein Vater liebevoll.
All die Kälte und die Wut waren aus seinem Gesicht verschwunden und er war wieder so, wie ich ihn kannte, auch wenn ich seinen eiskalten Blick nicht ganz vergessen konnte.
„Danke! Du bist wirklich ein Schatz. Amber, falls du irgendwann mal heiratest... Schaff dir so einen wie deinen Vater an." Sie zwinkerte mir zu, drehte sie sich um und tänzelte die Treppen hoch. Den Kopf schüttelnd drehte ich mich zu meinem Vater um. Dieser lächelte nur in sich herein und ging in Richtung Küche. Ich folgte ihm, während mein Bruder sich aus dem Staub machte. Wahrscheinlich ging er jetzt malen oder seine Kinderserie weiterschauen.
„Kann ich dir irgendwie helfen?"
„Du willst mir helfen?", fragte er überrascht.
„Natürlich", sagte ich, als wäre es das natürlichste der Welt. Misstrauisch sah er mich an und sagte schließlich: „Okay, was willst du?"
„Nichts. Darf ich denn keine Zeit mit meinem geliebten Vater verbringen?" fragte ich so unschuldig wie möglich zurück.
„Schon, aber immer, wenn du das sagst, willst du entweder Geld, mit deinen Freundinnen ausgehen oder eine Erlaubnis, von der du weißt, dass deine Mutter sie nie geben würde..."
„Okay, okay, okay. Ich glaube ich hab's verstanden. Und du wolltest nichts sagen!" Ich kniff ihm in die Seite und er sprang lachend zurück.
„Na schön junge Dame. Wenn du mir behilflich sein willst, musst du alles machen was ich sage. Und zwar genau wie ich es sage. Verstanden?"
„Aye, aye, Captain." Grinsend drehte er sich um und nahm verschiedene Kochutensilien aus den Schränken.
„Da wir etwas zu feiern haben, werden wir das Lieblingsgericht deiner Mutter vorbereiten."
„Klingt gut. Also... Was soll ich machen?"
„Schneid zuerst das Gemüse in kleine Stückchen." Ohne groß nachzudenken nahm ich Messer und das Tablett zum Schneiden und machte mich an die Arbeit. Es ging sogar richtig gut. Ich schnitt mich noch nicht einmal in den Finger. So. Jetzt heißt es indirekte Fragen zu stellen. Und Vorsicht. Keinen Verdacht schöpfen.
„Hey Dad. Kann ich dich was fragen?"
„Klar mein Schatz. Was willst du wissen?"
„Woher wusstest du, dass Mom die Liebe deines Lebens war?" Er sah mich überrascht an und seufzte.
„Ich wusste es nicht. Zuerst war es ein Gefühl, aber dann... Jede Kleinigkeit war ein Geschenk. Jeder gestohlene Moment, jeden gestohlene Blick den wir uns zuwarfen..."
„Also war eure Liebe sozusagen verboten?"
„Sozusagen..." Fasziniert sah ich ihn an. Dieser Teil der Geschichte, kannte ich nicht. Komisch, denn sie hatten mir die Geschichte, schon um die tausend Mal erzählt. Und ich hatte um die tausend Mal danach gefragt.
„Und was genau hat dir an ihr so gefallen?"
„Sie war attraktiv, hübsch, witzig, offenherzig, ehrlich, liebenswürdig, intelligent, aber gleichzeitig war sie wie ein Magnet, der allen Ärger anzog..." Er fing an zu lachen. Ich lächelte, als ich sah wie sehr mein Vater meine Mutter liebte.
„Wo habt ihr euch denn kennengelernt?"
„In einer Bar am Pier. Ich arbeitete dort und eines Tages kam deine Mutter rein und verzauberte mich. Sie setzte sich hin und wollte etwas trinken. Ein Mann setzte sich neben sie und wollte ihr etwas anbieten. Sie wollte aber nicht und er fing an sie zu belästigen. Er griff nach ihr, doch ich sprang in die Mitte und beschützte sie. Am Schluss wurde ich vermöbelt und in ein Krankenhaus eingeliefert, aber deine Mutter konnte entwischten. Ich dachte, ich würde sie nie wiedersehen, doch sie kam in das Krankenhaus und bedankte sich bei mir. Seitdem beschützten wir uns gegenseitig." Verträumt starrte er den Herd an und schwelgte in Erinnerungen.
„Wann habt ihr euch denn kennengelernt?"
„Vor ungefähr... achtzehn Jahren", sagte er nachdenklich.
„Und hattest du andere Freundinnen vor Mom oder sogar Kinder?" Er runzelt die Stirn. Der Blick, den er mir zuwarf, war beinahe misstrauisch.
„Wieso denn so viele Fragen?"
„Nur so... Aber sag schon. Ich sag's auch nicht weiter." Nach einigen Augenblicken unangenehmen Schweigens antwortete er: „Nein. Deine Mutter war und ist die einzige Frau in meinem Leben. Und Oliver und du seid meine einzigen Kinder." In diesem Moment musste ich mich richtig beherrschen, um meine Überraschung zu verbergen. Was hatte das zu bedeuten? Wenn er nur meine Mutter hatte, wer war dann die Lucy von dem Foto? Wieso hat er mich angelogen? Was hat er zu verbergen?
*
In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Zu viele Fragen schwirrten in meinem Kopf. Ich konnte nicht glauben, dass mich mein Vater angelogen hatte. So leise wie nur möglich stand ich auf und ging zu dem Bilderrahmen in der Ecke meines Zimmers. Als wir hierher gezogen waren, hatte ich einen Spalt in der Wand entdeckt und einen alten Safe gefunden.
Ich hatte niemandem davon erzählt und klammheimlich einen Bilderrahmen davor gehängt. Aus Witz hatte ich ein Bild von Pierce Brosnan als James Bond hineingeklebt. Ich fand, das passte irgendwie. Als ich den Safe fand, hatte ich nur ein paar unbedeutende Dokumente gefunden und weggeworfen, doch heute war die Schatulle in dem Safe. Ich nahm sie vorsichtig raus und legte sie auf's Bett. Ich sah mir die Bilder erneut an, auf der suche nach versteckten Hinweisen und war immer verwirrter. Als nächstes nahm ich mir die Briefe vor. Die meisten stammten von vor über 18 Jahre. So wie es aussah waren es Liebesbriefe.
15 Juli
Meine geliebte Linda
Es sind schon zwei Wochen vergangen. Zwei qualvolle Wochen, in denen ich deine Haare nicht streicheln konnte, nicht den Hauch deines Parfüms einatmen konnte. Ich habe unsere Situation überdacht. Egal, was passiert, egal, wie sehr SIE mich hassen wird, ich muss in deiner Nähe sein. Ich muss dich sehen. Schon auch nur daran zu denken, dass ich dich nicht wiedersehen könnte, erfüllt mich mit einer Leere, die ich bis jetzt nicht gekannt habe. Aber ich habe eine Lösung gefunden.
Ich kann meine Welt nicht hinter mir lassen, aber ich kann dich zu einem Teil von ihr machen. Du kennst die Regel: "Keine Details in Briefen", aber ich werde dir bald alles erklären. Ich muss dich sehen. Die gewohnte Stelle, in drei Tagen, 19 Uhr.
Wenn alles gut geht, dann werden wir niemals wieder so weit von einander entfernt sein.
Ich liebe dich.
Wer waren diese Leute und wieso hatten meine Eltern diese Briefe? Wer war Linda? Wer war Chris? Und vor allem wer war Lucy?
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