Kapitel IX / Gerüchte & Streit

Benommen, von der Situation auf dem Dach, flüchtete ich so schnell wie möglich zum Klassenzimmer. Ich konnte nicht glauben, was fast passiert wäre. Alec wollte mich küssen. Mich! Ich konnte es immer noch nicht fassen. Ich hätte meinen ersten Kuss fast an Alec verloren und ich weiß nicht, ob es mir gefallen hätte oder nicht...
Als es gerade in die Stunde läutete, wurde mir bewusst, dass ich eigentlich schnell machen wollte und sprintete die Gänge runter. Sie waren leer und nur ein paar Zuspätkommer rannten rum. Eilig rannte ich zur Tür und riss sie auf, was alle dazu bewog mich anzuschauen.
"Miss Rose, darf ich fragen wieso Sie zu meinem Unterricht zu spät kommen?" Mrs. Brown, meine Geschichtslehrerin, sah mich erwartend an, doch das Einzige, das ich herausbekam, war genau das Falsche.
"Tut mir leid, ich wurde abgelenkt." Das Tuscheln der Anderen, dass zwar schon da gewesen war, aber gerade noch unauffällig, wurde lauter und ich wurde möglichst unauffällig gemustert. Ich war ein bisschen verwirrt, doch ich achtete nicht darauf und setzte mich so schnell an meinem Platz. Es lag wahrscheinlich daran, dass ich sonst so gut wie nie zu spät kam.
In Geschichte saßen Skye, Adrian und ich zusammen. Das war eine der wenigen Stunden, in denen wir drei zusammen waren. Als ich mich hingesetzt habe, beugte ich mich zu Skye, die zu meiner Linken saß.
„Habe ich was verpasst?", flüsterte ich ihr zu. Skye warf mir ihren typischen Skye-Blick zu, der nie etwas Gutes bedeutete.
„Ob du etwas verpasst hast? Nö. Aber wir. Und jetzt sind wir ganz gespannt darauf, dass du uns alles erzählst, nicht war, Adrian?" Ich sah zu ihm hinüber. Auch er musterte mich.
„Skye hat schon recht, die Geschichte würde mich auch interessieren." Ich verstand immer noch nicht. Skye plapperte aber schon weiter.
„Ich hätte dich nicht für so ein Mädchen gehalten, Amber Rose!" Sie zwinkerte mir zu.
„Du bist doch hier sonst immer die Brave." Ich sah sie verwirrt an. Sie bemerkte es nicht, sondern schwatzte einfach weiter.
„Und zuerst legst du dich auch noch mit ihm an, heulst mir die Ohren voll, was für ein mieser Typ er ist. Wirklich, eine ganz ausgekochte Masche." Sie stieß mir anerkennend den Ellbogen in die Seite. Langsam verstand ich, was sie meinte.
„Du redest von Alec", stellte ich fest. Sie nickte begeistert.
„Und, wie war's?" Ehe ich sie fragen konnte, was sie meinte, wurden wir von Mrs. Brown unterbrochen.
„Zuerst zu spät kommen und dann noch in meinem Unterricht schwatzen? Das dulde ich nicht. Miss Rose, ich hätte bis morgen gerne einen Aufsatz über die Entstehung der Technologie. Zweiseitig." Ich wurde ein bisschen rot.
„Sicher, Mrs. Brown."
Sie nickte zufrieden und führte den Unterricht weiter. Selbst Skye wagte nicht mehr zu sprechen, aber sie warf immer wieder bedeutungsvolle Blicke auf Alec's freien Stuhl. Er war nicht aufgetaucht. Die vielen Blicke, die auf mir hangen wie Fliegen auf Honig waren mir unangenehm. Und ich begriff einfach nicht, was sie alle hatten. Erst als Skye den Stoff meines Shirts in die Hand nahm, es zwischen den Fingern rieb und mich bedeutungsvoll ansah, begriff ich.
Ich trug das Trikot von Alec. Auf meinem Rücken stand ganz groß „Alec Jones" und seine Sportnummer, die 16. Das wusste ich nur, weil ich ihn einmal Football spielen gesehen hatte. Und dann war sie irgendwie hängen geblieben. Die Nummer war aber nicht das Problem, das Problem war, dass nur Sportler solche T-Shirts anhatten. Und die Sportler gaben diese T-Shirts dann ihren Freundinnen weiter, die sie dann tragen durften, wenn sie sie nicht anhatten. Mir schoss das Blut ins Gesicht und ich versuchte, meine Haare ins Gesicht fallen zu lassen, damit es niemand bemerkte. Sie hielten mich für Alec's Freundin. Sie dachten, ich wäre mit ihm zusammen! Und wahrscheinlich hatten sie sich zusammengereimt, dass ich vorhin mit ihm geknutscht hatte und deshalb zu spät gekommen war. Und meine Wortwahl hatte sie darin natürlich nur noch bestätigt.
Das Blut schoss mir mittlerweile sogar in die Ohren und ich wäre am liebsten im Boden versunken. Ich war so eine Idiotin. Wieso hatte ich das nicht gleich bemerkt? Als es endlich zur nächsten Stunde läutete, war ich die Erste, die aus dem Klassenzimmer stürzte, den Kopf wahrscheinlich immer noch hochrot.
„Amber! Warte doch mal."
Ohne darauf zu reagieren, lief ich weiter und erreichte den Schulparkplatz. Ich stieg in mein Auto, fuhr mir durch die Haare und ließ meinen Kopf mit einem frustrierten Laut, auf das Lenkrad fallen. Wie kann man nur so dumm sein? Ich hätte mir das doch denken können! Auf einmal wurde die Beifahrertür aufgerissen und eine aufgebrachte Skye kam zum Vorschein. Sie sah mich verärgert an und setzte sich auf den Beifahrersitz. Wenige Sekunden später wurde die Hintertür aufgemacht und Adrian setzte sich auf die Rückbank. Er sah, im Gegensatz zu Skye, nur neugierig aus, jedoch darauf bedacht die Situation, falls nötig zu entschärfen.
„Was fällt dir eigentlich ein, einfach so zu gehen?!", fauchte mich Skye wütend an. Adrian griff Skye von hinten unters Kinn, drehte ihren Kopf in seine Richtung und sagte: „Skye. Beruhige dich. Bitte. Ich wette, dass Amber uns alles erklären wird, aber es bringt niemandem etwas, wenn du herumschreist." Sie schauten sich tief in die Augen und Adrian atmete tief ein, was Skye augenblicklich nachmachte. So wie es aussah, waren sie sich in den letzten Tagen nähergekommen. Schließlich sah Skye wieder zu mir, doch sie sah viel ruhiger als vorher aus.
„Okay, Amber. Kannst du uns endlich erklären was hier vor sich geht?" Sie sahen mich beide besorgt an und ich fühlte mich auf einmal sehr schlecht. Sie waren meine besten Freunde und ich hatte sie fast vernachlässigt. Ich schaute die beiden an und hielt es nicht mehr aus.
„Es gibt da ein paar Sachen, die ihr Wissen müsst. Aber lasst mich bitte ausreden, denn sonst weiß ich nicht, ob ich mich, wenn ich unterbrochen werde, noch traue, es euch zu erzählen..."
Ich schaute zu Adrian, doch der nickte mir nur aufmunternd zu, während Skye still blieb. Ich atmete tief ein und fing an zu erzählen.
„Also... Wo soll ich denn nur anfangen? Ihr wisst doch, dass Alec letztens zu mir kam, um an dem Projekt zu arbeiten, oder? Na ja, ... Wir haben zuerst angefangen zu reden und haben dann entschieden die Familienalben durchzusehen. Leider hatten wir keinen Erfolg, da es nur Fotos von meinem Bruder, meinen Eltern und mir gab. Ich konnte mich noch erinnern, dass ich irgendwo Fotos von Verwandten gesehen hatte und ging dann mit Alec zu unserem Dachboden, um zu suchen, doch nach unzähligen Stunden fanden wir immer noch nichts." Ich machte eine kleine Pause, um ihre Gesichtsausdrücke zu deuten, doch sie schauten mich nur neugierig an. Mit einem kleinen Nicken deuteten sie mir weiterzumachen.
„Irgendwann fand ich, dass er schon langsam gehen sollte, also fingen wir an aufzuräumen, doch plötzlich fielen die Kisten hinter mir in sich zusammen und ein kleines Kästchen kam zu Vorschein..."
„In diesem Kästchen fanden wir Fotos und später auch ein paar Liebesbriefe, doch worin auch eine Art Geheimorganisation verwickelt zu sein schien... Eine Gewisse ISH, bei der, so wie es aussieht, meine Eltern Mitglieder waren. Außerdem gibt es auch ein Chris und eine Linda, die sozusagen eine verbotene Liebe hatten. Ich weiß nicht, was diese zwei mit meinen Eltern zu tun hatten, aber sie kannten sich wohl, denn sonst hätten sie diese Briefe nicht aufbewahrt." Skye und Adrian sahen sich an und dann wieder verwirrt zu mir.
„Und was hat das jetzt damit zu tun, dass du Alec's Trikot trägst?", fragte Skye verwirrt.
„Na ja... Ich habe die Liebesbriefe eigentlich alleine entdeckt, da es schon spät wurde und mein Vater Alec sozusagen ‚rausgeschmissen' hat. Und Alec hat mir versprochen mir mit dieser ganzen Sache zu helfen, also bin ich heute Morgen zu Alec gegangen, der mich zum Dach gebracht ha..."
„Warte, warte, warte... DU WARST MIT ALEC AUF DEM DACH??? Woher hatte er überhaupt Zugang?"
„Skye. Wollten wir sie nicht ausreden lassen?", fragte Adrian tadelnd.
„Ja stimmt. Tut mir leid Amber."
„Ich weiß nicht, woher er den Zugang bekam, doch er hat ihn. Auf jeden Fall waren wir oben und haben die Aussicht genossen. Ich habe ihm die Briefe gezeigt und gerade in diesem Moment klingelte es. Wir waren auf dem anderen Gebäude, also wollte ich schnell zusammenpacken und zum Klassenzimmer rennen, doch Alec hielt mich auf..." Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich das wirklich gemacht hatte...
„Er griff nach meiner Hand und führte mich zum Gelände des Gebäudes." Skye keuchte erschreckt auf und hielt sich die Hand vor den Mund.
„Er wollte doch nicht... Er hat doch nicht...", fragte Skye geschockt.
„Na ja... Wir sind auf das Gelände gestiegen und mich gefragt, ob ich ihm vertraute. Ich verneinte und dann fragte er, ob ich rechtzeitig in meine Stunde kommen wollte. Da hatte er mich. Ich... sah ihm in die Augen und sprang." Adrian und Skye schauten mich schockiert an und man sah, dass sie nicht wussten, was sie sagen sollten.
„Was ist dann passiert?", fragte Adrian überfordert und Skye sah mich mit großen Augen an.
„Ich landete sicher auf das andere Gebäude, doch mein Shirt zerriss bei der Landung. Daraufhin hat mir Alec sein Trikot gegeben und ich bin so schnell wie möglich zum Unterricht gerannt. Bei der Eile vergaß ich vollkommen, dass ich sein Trikot anhatte." Ich erwähnte nicht wie wir uns nähergekommen waren oder wie Alec versucht hatte mich zu küssen. Ich sah die beiden an, doch sie waren viel zu schockiert, um noch irgendwas zu sagen. Adrian stotterte und Skye machte die ganze Zeit vor Ungläubigkeit den Mund auf und zu.
„Leute, könnt ihr vielleicht auch etwas dazu sagen?", fragte ich ungeduldig.
„Das Einzige, dass ich dazu sagen kann, ist, dass das absolut krank ist. Wer springt denn schon freiwillig von einem Dach?", murmelte Adrian verzweifelt. Schuldbewusst senkte ich denn Kopf und versuchte mein Gesicht hinter meinen Haaren zu verstecken.
„Das ist doch wohl nicht dein Ernst, oder, Amber? Bitte sag mir, dass er es war, der dich dazu gebracht hat zu springen!", Skye weinte beinahe, als sie mich an den Schultern packte und leicht schüttelte.
„Wenn ich das sagen würde, wäre das gelogen", sagte ich niedergeschlagen.
„Bist du etwa nicht glücklich? Geht es dir wirklich so schlecht?"
„Nein! Mir geht es gut! Das war nur das erste Mal, dass ich mich lebendig gefühlt habe! Ich war sonst immer nur in meinem Zimmer und habe Bücher gelesen, in denen die Figuren die Abenteuer erlebt haben, ... Ich glaubte es war mal an der Zeit, dass ICH einmal etwas spannendes erlebe...", presste ich verzweifelt heraus.
Ich hatte Angst, dass sie mich verurteilen würden, für das, was ich getan hatte. Skye seufzte und lehnte sich wieder zurück.
„Hör zu, Amber, du bist meine beste Freundin und das wirst du auch immer bleiben. Auch, wenn ich mir jetzt Sorgen um dich mache. Irgendwie kann ich dich schon verstehen. Alec ist schließlich der heißeste Junge der Schule, wer könnte ihm schon etwas abschlagen? Andererseits steht das alles in einem krassen Gegensatz zu der Amber, die ich kenne. Du warst nie besonders risikofreudig. Und es macht mir Sorgen, dass Alec den Adrenalinjunkie in dir weckt." Ich biss mir auf die Lippe.
„Das ist ganz anders, als du dir das vielleicht vorstellst...", widersprach ich. Aber Skye hatte sich in Rage geredet und ließ sich nicht mehr so einfach stoppen.
„Es wäre ja nicht so, als würde ich dir eine Affäre mit Alec missgönnen, oder so. Ich will nur nicht, dass dir etwas passiert!" Ich verdrehte die Augen.
„Skye! Hör mir doch einfach mal zu! Ich bin nicht in Alec verknallt!" Sie lächelte mich an und ich sah, dass sie sich verletzt fühlte.
„Amber, du kannst ehrlich mit uns sein! Wir sehen doch, wie du Alec ansiehst! Es ist vollkommen..."
„Hör zu, Skye, so bringt das nichts. Wenn du mir einfach nicht glaubst, dann kann ich noch so ehrlich zu dir sein. Also, wenn du nur weiterhin darüber reden willst, dass es vollkommen in Ordnung ist, wenn ich mich in Alec verknallt habe, dann kannst du jetzt aussteigen. Ich habe noch Hausaufgaben." Sie sah mich erschrocken an. Eigentlich hatte ich nicht so harsch sein wollen, aber ich war gestresst. Erstens, weil sie mir eine Romanze andichtete, die ich nicht hatte.  
Zweitens, weil sie schon irgendwie recht hatte und es in meinem Bauch kribbelte, wenn ich Alec sah. Und drittens, weil es mir immer noch entsetzlich peinlich war, dass ich Alec's Trikot trug. Ich öffnete schon den Mund, um mich zu entschuldigen, aber Skye stieg schon aus.
„Gut, dass wir die Fronten geklärt haben, Amber...", meinte sie eisig.
„Komm, Adrian." Mein bester Freund wurde eher aus meinem Wagen gezerrt, als das er freiwillig ausstieg. Er warf mir einen verständnisvollen Blick zu, dann viel die Tür hinter ihm zu und ich sah, wie die Beiden davonmarschierten und Adrian auf die wütende Skye einredete. Ich atmete tief durch, dann startete ich den Motor und fuhr aus dem Parkplatz. Vielleicht hätte ich doch bei meinen Büchern bleiben sollen.

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