Kapitel IV / Geheimnisse...
Nach ungefähr einer halben Stunde hatten wir alle Fotoalben durchgeschaut. Die Bilder zeigten Momente aus meiner frühsten Kindheit bis ins tiefste Teenageralter und somit heute. Und die einzigen Menschen, die drauf waren, waren meine Eltern, mein Bruder und ich. Keine Bilder von meinen Großeltern oder anderen Verwandten. Ich hätte schwören können, dass ich mal Fotos von Verwandten gesehen hatte.
„Sag mal, sind deine Eltern von dir besessen oder hast du keine Verwandten?"
„Ganz ehrlich? Ich habe keine Ahnung. Ich hätte schwören können, dass ich Fotos mit meinen Verwandten gesehen hatte." Ich fing an alle Bilder wieder in die Fotoalben zu stecken. Alec half überraschenderweise auch.
„Habt ihr nicht im Keller oder im Dachboden andere Bilder? Von deinen Vorfahren oder so?"
„Weiß nicht, aber wir können mal schauen." Mit diesen Worten stand ich auf und ging in Richtung Treppe. Alec machte es mir nach und folgte mir stumm. Die Treppe, die zum Dachboden führte, war ganz verstaubt, da wir sie nie nutzten.
„Ich hole mal schnell ein paar Lampen. Du kannst dich sonst mal umsehen." Kurze Zeit später war ich wieder auf dem Dachboden und sah wie Alec inmitten vielen Kisten und alten Möbeln in ein paar Kisten stöberte. Seine Haare fielen ihm ins Gesicht und er hatte einen nachdenklichen Gesichtsausdruck. Fasziniert von ihm, ging ich lautlos zu ihm rüber. Als ich mich ihm gegenüber setzte schreckte er auf und sah mich verdutzt an.
„Also, dass ich hässlich bin, weiß ich, aber so hässlich nun auch wieder nicht." Das brachte ihn zum Lachen. Ein echtes Lachen. Kein herablassendes Grinsen. Seine tiefe Stimme ließ mir wohlige Schauer über den Rücken laufen und verstehen, wieso alle Mädchen, ihm vor die Füße liegen. Amüsiert sah er mich an.
„Das du hässlich bist, das ist mir nie durch den Kopf gegangen. Glaub mir. Ich war nur gerade am Nachdenken und deswegen, habe ich nicht gehört wie du reingekommen bist." Ich blickte auf meine staubigen Socken, damit er nicht merkte, wie sehr er mir damit schmeichelte.
„Okay, na gut, dann fangen wir mal an."
*
Nach weiteren erfolglosen Stunden nervte mich diese ganze Sucherei. Meine Eltern hatten wohl alle Fotos von anderen Familienmitgliedern, entweder weggeworfen oder wirklich gut versteckt.
„Weißt du was? Ich glaube wir werden hier nichts finden. Die Fotos hast du dir wahrscheinlich eingebildet."
„Aber es kann nicht sein. Ich weiß noch, dass ich die Fotos gesehen habe."
"Tja, dann sind sie wohl weg." Ich sah mich im Chaos um und verzweifelte regelrecht. Kisten und Blätter waren überall verteilt und wir saßen mittendrin. Als ich meine Uhr schaute, sah ich das es schon spät geworden war. Draußen wurde es dunkler und die Sonne verschwand langsam im Horizont. Die Kisten lagen mitten im Raum. Dokumente waren auf den Boden zerstreut und Staub wurde immer wieder umher gewirbelt. Langsam stand Alec auf und streckte sich. Darauf legte er seine straffe Bauchmuskulatur zur Schau und ich konnte nichts anderes tun, als darauf zu starren. Als Alec wieder zu mir sah, wandte ich schnell den Blick ab.
„Ich glaube wir sollten für heute Schluss machen."
„Ja, wahrscheinlich ist es besser so."
„Ich helf' dir noch beim Aufräumen. Ist das okay?"
„Natürlich."
Ich fand es irgendwie gar nicht mehr so schlimm, mit Alec zusammen zu arbeiten. Wir standen auf und begannen die Dokumente wieder zusammenzufügen. Wir türmten sie auf, doch plötzlich fielen die Kisten hinter mir, in sich zusammen. Wir zuckten zusammen, als wir einen dumpfen Schlag hörten. Aus eine der Kisten war eine alte Schatulle herausgefallen. Sie war aus Ebenholz und in die Seiten waren komische Inschriften geschnitzt. Es sah wie ein Schlachtfeld im 18. Jahrhundert aus. Leichen lagen verstreut übereinander und die Überlebenden flehten um Gnade. Die Generäle gingen über die Leichen, als wären sie nichts. Als wäre ihr Tod nichts wert. Neugierig fragte mich Alec: „Was ist das?"
„Ich weiß es nicht. Ich habe es noch nie gesehen." Ich untersuchte sie von allen Seiten, doch wie es aussah, konnte man sie nicht öffnen.
„Kannst du es öffnen?" Alec war hinter mir getreten und schaute meine Bemühungen amüsiert zu. Ich sah es und meinte spitz: „Glaubst du, du kannst das besser?"
„Ich glaube es nicht, ich weiß es." Grinsend nahm er mir die Schatulle aus der Hand und schaute sich die Schnitzereien an. Seine gesamte Aufmerksamkeit galt jetzt der Schatulle in seinen Händen. Es war faszinierend, wie konzentriert er sein konnte. So etwas sah man nicht alle Tage. Bevor ich mich versah, sprang der Deckel der Schatulle auf. Beeindruckt sah ich zu ihm auf, doch der grinste mich nur überlegen an. Verwirrt fragte ich ihn: „Wie hast du das gemacht?" Er zeigte auf die Schnitzerei. Ich folgte seinem Finger und sah einen kleinen Spalt zwischen den Leichen und den Lebenden.
„Was ist das?"
„Diese Schnitzerei repräsentiert die Kriege, die die Menschheit über sich ergehen lassen muss. Die Reichen zertrampeln die Armen, als wären sie nichts. Als wären sie unwürdig. Wie Bauern auf einem Schachbrett."
„Und was ist mit dem Spalt?"
„Wenn man denn Fingernagel in den Spalt legt, löst sich ein Mechanismus, der den Deckel öffnet."
„Und das weißt du weil...?"
„Ich mag Mystik und Geheimnisse." Dabei schaute er mich mit seinen unergründlichen Augen an. Mit einem Mal wusste ich, dass er nicht nur die Schatulle meinte.
Ich drehte mich schnell weg und konzentrierte mich auf die Schatulle. Oder versuchte es zumindest. Unmittelbar wurde mir seine Nähe bewusst und ich rückte unauffällig ein bisschen weg. Er bemerkte es zu meinem Missfallen und fasste sich ans Herz.
„Autsch, das tat weh."
„Was denn?", fragte ich unschuldig.
„Das du weggerückt bist. Und leugne es ja nicht, ich habe es gesehen." Mit diesen Worten drängte er sich gegen meinen Rücken und schlang seine Arme um mich. Sein Atem kitzelte meine Wange und ließ mich erschaudern. Sein Mund war jetzt an meinem Ohr und er flüsterte mit seiner rauen Stimme: „Weißt du? Jetzt bin ich verletzt. Ich glaube das solltest du jetzt wieder gut machen und ich habe da schon eine Idee."
Ich ermannte mich in Gedanken und löste mich behutsam von seinen starken Armen. Was tat der Typ bloß mit mir? Ich tat so, als würde mich nur die Schatulle interessieren.
„Schauen wir doch mal, was da drin ist..."
So behutsam wie möglich hob ich den Deckel. In dieser unscheinbaren Schatulle waren Bilder und Briefe, die vor Jahren geschossen und geschrieben worden waren. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Alec das Foto schockiert anstarrte. Ich blätterte durch die anderen Fotos und fand schließlich das Foto einer Gruppe schwarz gekleideter Männer und Frauen. Sie standen straff, als wären sie im Militär und erwarteten jeden Moment ihren Kommandanten. In der Mitte der zweiten Reihe fand ich die zierliche Figur meiner Mutter.
Sie hatte die Haare zusammengebunden und sah vollkommen emotionslos in die Kamera. Wie alle anderen auch. Keiner lächelte. In der letzten Reihe sah ich meinen Vater, genauso emotionslos reinschauen. Was war das bloß für ein Foto? Ich drehte es um. Was hinten stand, verwirrte mich mehr als mir lieb war.
Die neusten Rekruten und ihre Leiter.
Die Zukunft der ISH.
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Alec das Foto schockiert anstarrte. Bevor ich mich weiter wundern konnte, nahm Alec mir die Schatulle aus der Hand und sah sich die Fotos durch. Beim Bild der Gruppe, hielt er inne. Sein Blick wechselte von verwirrt zu schockiert. Sämtliche Farbe wich aus seinem Gesicht.
„Was hast du?", fragte ich besorgt. Meine Besorgnis wuchs, als ich bemerkte, dass er meinem Blick auswich. Er bemühte sich sichtlich, nicht so überrascht auszusehen, konnte aber den grüblerischen Ausdruck auf seinem Gesicht nicht ganz verstecken.
„Hast du diese Fotos schon mal gesehen?" Ich schüttelte den Kopf.
„Nein. Also, nicht soweit ich mich erinnere."
„Okay. Das ist wirklich sehr seltsam."
„Wenn du das schon seltsam findest, was denkst du, wie ich mich jetzt gerade fühle?"
„Und du bist dir sicher, dass du diese Schatulle oder diese Fotos noch nie gesehen hast?"
„Ja ich bin mir sicher", sagte ich bestimmt. Ich warf ihm einen misstrauischen Blick zu. Er wandte sich ab.
Ich schaute weiter und da sah ich ein Foto mit einem bekannten Gesicht drauf. Von einem Bild lächelte mir mein Vater entgegen. Aber er war nicht allein. An seiner Seite war eine Frau mit vollen, braunen Haaren, die ein Kind in den Armen trug. Sie schauten sich verliebt an. Auf der Rückseite des Bildes war eine Inschrift.
28 Mai 2002
Unser kleiner Engel ist endlich auf die Welt gekommen.
Sie könnte ihrer Mutter nicht ähnlicher sein.
Lucy hat die Geburt wie eine wahre Heldin überstanden. Ich hoffe mein kleiner Engel wird auch mal so stark wie ihre Mutter.
Wir werden sie Katherine Amber Smith nennen.
28. Mai 2002. Das war doch mein Geburtstag. Das machte doch gar keinen Sinn! Wer war diese Lucy und wer war dieses Mädchen in ihren Armen? Mein zweiter Vorname war Katherine, doch der Name des Mädchens war einfach andersrum als mein eigenes. Konnte es sein, dass Ich dieses Mädchen war? So viele Fragen schwirrten mir durch den Kopf, doch je länger ich nachdachte, desto verwirrter war ich.
„Und? Was machen wir jetzt?", fragte Alec nichtwissend. Als er sich umdrehte, versteckte ich das Bild hinter meinem Rücken.
Ich wusste nicht wieso, doch diese ganze Situation, ließ mich mulmig zurück. Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen und sagte mit fester Stimme: „Wenn meine Eltern nach Hause kommen, müssen sie mir erklären was das alles ist."
„Amber. Glaubst du nicht, dass deine Eltern es dir aus einem bestimmten Grund verschwiegen haben? Glaubst du nicht, dass es klüger wäre, erst herauszufinden was los ist? Bevor diese Bilder für immer verschwinden, meine ich..." Ich suchte in seinem Gesicht nach einem Zeichen, dass er nur scherzte, doch er schaute vollkommen ernst zurück.
„Du denkst, meine Eltern haben es aktiv vor mir versteckt?" Er antwortete nicht. Sein Blick sagte genug aus. Ich wollte Nein sagen, so rein aus Prinzip. Ich meine, wer würde einem Fremden mehr vertrauen als seinen eigenen Eltern? Nur so zur Sicherheit überdachte ich das Ganze noch einmal. Und mir ging auf, dass er recht hatte. Was er sagte machte Sinn.
„Du weißt das ich recht habe", fügte er sanft hinzu.
Ich versuchte den Gedanken abzuschütteln, aber ich konnte nicht wirklich gut denken. Er war mir zu nah und ich konnte seinen Blick auf mir spüren. Eine Wolke von seinem Aftershave hüllte mich ein. Der süßliche Geruch nach Tannenharz machte meine Gedanken noch träger, als sie sowieso schon waren. Ich wollte ihm zustimmen, einfach, um weiterhin mit ihm hier sitzen zu können und ihn nicht wieder zu dem arroganten Mistkerl mutieren ließ, den er sonst immer raushängte.
„Na gut." Er war immer noch viel zu nah.
„Und was mache ich jetzt?"
„Versuchs mal mit indirekten Fragen über ihre Vergangenheit. Vielleicht sagen sie etwas das dir weiterhelfen könnte."
„Aha. Also willst du mich jetzt mit meinen Grübeleien alleine lassen?" Auch wenn ich es vor kurzem noch furchtbar gefunden hatte, Zeit mit Alec zu verbringen, mochte ich es doch gerade ganz gerne. Und wenn ich eine überhaupt nicht wollte, brauchte ich seine Hilfe.
„Ahh. Jetzt plötzlich willst du, dass ich dir helfe?" Mit einem Mal war der arrogante Kerl von vorher wieder da. Beinahe hätte ich einen Rückzieher gemacht, aber ich beschränkte mich darauf, ihn böse anzuschauen. Er sollte ruhig merken, dass ich diese Seite von ihm überhaupt nicht mochte. Wenn Blicke töten könnten, wäre Alec jetzt also wahrscheinlich tot. Er kam mir noch ein bisschen näher. Als seine Lippen meine Wange streiften, stockte mir der Atem.
„Wie wäre es mit einem „Bitte"?", murmelte er in mein Ohr. Sämtliche Gedanken in meinem Kopf kamen zum Stillstand. Dann fingen sie an, so schnell in meinem Kopf zu rotieren, dass sie zu einem unscharfen Brei verschwammen. Einerseits wollte ich sofort nachgeben, alles tun, was er verlangte und andererseits, wollte ich ihm auf keinen Fall zeigen, dass er mich mit Leichtigkeit um den kleinen Finger gewickelt hatte.
Plötzlich hörten wir wie die Tür des Eingangs aufgemacht wurde und jemand ins Haus trat. Alec trat sofort von mir weg und zwischen mir und ihm klaffte Leere, die ich am allerliebsten sofort wieder geschlossen hätte. Und gleichzeitig wollte ich so weit wie möglich weg von ihm, wollte ihn aus dem Haus werfen und ihn nie wiedersehen. Was machte er mit mir.
Klar denken konnte ich immer noch nicht. Zu klar war die Erinnerung an seinem Atem, nahe an meinem Ohr, zu klar die Erinnerung an den Geruch von Tannenharz.
„Ich bin Zuhause! Amber, bist du da?" Die Stimme gehörte meinem Vater. Es war schon sechs Uhr! Alec war schon seit vier Stunden hier! Meine Güte!
„Bitte Alec!" Das Grinsen wurde zu einem verschmitzten Lächeln. Seine Augen blitzten vor Schalk und er schien zufrieden damit, dass er mich dazu gebracht hatte, ihn anzuflehen. Der Ausdruck auf seinem Gesicht ließ mich bereuen, was ich gesagt hatte und ich zog es beinahe wieder zurück. Doch dann veränderten sich seine Gesichtszüge und er sah nicht mehr wie der Herzensbrecher aus, sondern wie der Alec, der mir vom Autounfall seiner Eltern erzählt hatte. Sofort vergab ich ihm alles das er getan hatte und alles, dass er je tun würde. Wie konnte er so mit meinen Gefühlen spielen?
„Na gut. Aber du musst mir versprechen, dass Kriegsbeil zu begraben. Ab jetzt sind wir Freunde."
Er streckte seine Hand aus und hielt sie mir hin. Ich zögerte, doch die sich nähernden Schritte meines Vaters brachten mich dazu, sie zu nehmen. Sie war nicht schwitzig oder zu trocken. Sie fühlte sich warm in meiner an und für einen Moment wollte ich sie nicht mehr loslassen.
„Abgemacht."
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