Kapitel 9

Vanessa

Nachdem Niklas mich vor meiner Haustür abgesetzt hatte, den ersten Gang einlegte und davon brauste, konnte ich nicht anders, als ihm hinterherzuschauen. Obwohl ich viel getrunken hatte, lichtete sich zunehmend mein Kopf und das angenehme Prickeln vom Alkohol ließ nach. Nach einigen Minuten drehte ich langsam meinen Kopf Richtung Haus, dessen Fenster bis auf eines im Dunkeln lagen. Es war das Büro meines Vaters, das mir entgegen strahlte. Mist, das hieß also, dass er noch wach war. Sollte ich warten bis er ins Bett ging oder es riskieren und mich in mein Zimmer schleichen? Ich schluckte, als mir sein wütender Blick von heute Mittag in den Kopf schoss. Nein, es war womöglich besser, ihm für einige Zeit aus dem Weg zu gehen.

Erschöpft setzte ich mich auf die erste Stufe vor der Haustür und stützte meinen Kopf in meine Hände. Niklas hatte mich für einen kurzen Moment meine Probleme vergessen lassen. Wie oft er wohl unter der Woche so spät noch trainierte? Seit langem besaß ich keinen Menschen mehr bei dem eine leichte und lockere Stimmung herrschte. Vielleicht sollte ich die Woche noch einmal auf dem Sportplatz vorbeischauen? Gleich darauf verwarf ich den Gedanken wieder. Nein, egal mit wem ich was machte, am Ende wandte sich jeder von mir ab, ob ich nun wollte oder nicht. Niklas würde dabei keine Ausnahme sein. Irgendwann wäre auch er von mir genervt.

Ein lautes Quietschen riss mich aus meinen Gedanken.

„Vani? Was machst du hier draußen?" Mein Bruder hatte sein Fenster geöffnet und sah mich verdutzt an. „Es ist schon weit nach Mitternacht!"

Mit dem Zeigefinger bedeutete ich ihm leiser zu reden, damit er meinen Dad nicht aufscheuchte. Genervt verdrehte ich die Augen, schloss im nächsten Moment das Fenster und ließ mich wieder allein. Er wusste ebenso gut, wie unser Vater reagierte, wenn er sauer war. Nach fünf Minuten hörte ich dumpfe Schritte, die immer lauter wurden bis Joint die Tür hinter mir aufzog. „Komm rein, Vani."

Wortlos schüttelte ich den Kopf. Es war einfach noch zu früh. Frustriert atmete mein Bruder aus und ich dachte schon, dass er wieder verschwinden würde, da setzte er sich neben mich auf die Stufe. „Was ist los, Kleine? Ist es wegen dem Vorfall auf der Party neulich?" Erstaunt sah ich ihn an. Er wusste davon? Im nächsten Moment nickte ich mit dem Kopf. Natürlich wusste er davon, wir wohnten in einer kleinen Stadt, da sprach sich so ein Skandal wie ein Lauffeuer herum.

„Weißt du, zuerst wollte ich die Gerüchte nicht glauben, aber dann habe ich mich daran erinnert, wie sehr du dich in den letzten Jahren verändert hast." Wieder schwieg ich. Er war nicht da gewesen, als ich beschloss nicht wie jeder andere zu sein. Nicht zu allem Ja und Amen sagen zu müssen. „Warum hast du dich bloß mit diesem Jungen eingelassen, Vani? Es weiß doch jeder, dass er Frauen behandelt wie den Müll vor seiner Haustür.", vorwurfsvoll sah mich Joint aus seinen dunklen Augen an. „Du musst bei solchen Typen vorsichtig sein. Ich kann dich nicht vor jeden beschützen." Ok, das reichte. Er brauchte mich nicht zu beschützen. Ich kam auch ohne männliche Hilfe im Leben klar. Wut breitete sich in mir aus.

„Das sagt ja genau der Richtige."

„Was hast du gerade gesagt?" Joint versteifte sich merklich. Trotzdem sprach ich meine nächsten Worte aus.

„Ich meine ja nur, wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.", spielte ich auf seine stetig wechselnden Bettgespielinnen an.

„Scheiße, Vani. Was ist eigentlich los mit dir? Ich hab es nur gut gemeint, ok? Du sollst einfach auf dich aufpassen. Das ist alles."

„Ich brauche deine Ratschläge aber nicht, verstanden?", sauer zog ich die Knie an und legte meinen Kopf darauf, weg von ihm. In dieser Position hatte ich einen guten Blick auf das hell erleuchtete Zimmer, das mich an Vielem hinderte. Joint musste meinen Blick gesehen haben, denn er entspannte sich im nächsten Moment etwas, streckte die Beine von sich und sagte mit ruhiger und gefasster Stimme: „Er kriegt sich schon wieder ein. Das tut er immer." Er drückte leicht meinen Arm, der Streit schien schon vergessen. „Vielleicht solltest du das Ding aus deiner Nase entfernen, wenn du zu Hause bist. Dann wird auch er sich beruhigen." Ich seufzte erschlagen, als ich zustimmend nickte. „Ich werde jetzt wieder schlafen gehen." Damit stand er auf und bewegte sich zur Haustür.

„Ach Vani?", er blieb in der Tür stehen. „Gibt es noch etwas, was du mir sagen willst?" Fragend drehte ich mich zu ihm um. „Was meinst du?"

Sichtlich nervös fuhr er sich durch seine schwarzen, dichten Haare. „Ist denn irgendetwas vorgefallen heute Abend?"

Verwirrt schüttelte ich den Kopf. „Keine Ahnung, wovon du sprichst."

„Ach schon gut." Ein Lächeln zierte seinem Mund. „Gute Nacht, Kleine." Ich sah ihm hinterher. Irgendetwas an seiner Frage musste ihn aufgewühlt haben. Mein Bruder wurde sonst nie nervös.

Die nächsten Tage verbrachte ich in einem Vegetationszustand, der zwischen Uni und Sportplatz schwankte. Zwischen Niklas und mir war es eine unausgesprochene Sache geworden,die nächtlichen Stunden auf dem Sportplatz zu verbringen. Vielleicht wollte er mich auch nicht kränken, indem er mich wieder wegschickte. Doch das war mir egal. Das einzige was für mich zählte, war die Abwesenheit von zu Hause, die er mir bot. Ich musste meinem Vater somit nicht mehr so häufig unter die Augen treten. Auch heute stand ich neben dem Tor und beobachtete Niklas dabei, wie er zum hundertsten Mal seinen Schuss verbesserte. Wenn ich es nicht besser wusste,wirkte er schon fast besessen von diesem Sport. Während ich meinen Blick auf seine Mütze gleiten ließ, nahm ich einen kräftigen Schluck von meiner Flasche,die ich mir vorsorglich und wie jedes Mal mitgebracht hatte. Auch das war ein Vorteil an diesen Treffen. Niklas ließ meinen Alkoholkonsum unkommentiert und ich im Gegenzug stellte keine blöden Fragen über seine ständige Kopfbedeckung.Angenehmer hätte es für mich gar nicht laufen können. Und doch fühlte ich mich in manchen Momenten, in denen seine klaren blauen Augen meine trafen, zu ihm hingezogen. Was war anders seit früher, was mich nun so an ihm faszinierte? Um auf andere Gedanken zukommen, unterbrach ich meine Trinkerei und schlenderte auf ihn zu.

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