Kapitel 7
Vanessa
Die Autofahrt mit Niklas ließ mich beinahe die Ereignisse der heutigen Party vergessen. Aber auch nur fast. Als ich aus dem Auto stieg und in die kühle Nachtluft trat, vermisste ich augenblicklich den Schutz, den mir sein Truck bot. Die Musik und die angenehme Ruhe, die von ihm ausging, ließen mich so weit entspannen, dass sich die Realität jetzt wie eine große Welle auf meinen Körper warf. Ich wartete bis Nik wegfuhr und bewegte mich dann erst in Richtung Haustür. Kaum hatte ich die Tür einen Spalt breit geöffnet, konnte ich auch schon laute Stimme hören. Es waren meine Eltern. Wer sonst. Dads tiefe Stimme übertönte jedoch die von meiner Mutter und mir zog sich mein Magen schmerzhaft zusammen. Sie waren noch nicht einmal eine Woche wieder hier und schon hatten sie sich wegen einer Kleinigkeit in den Haaren. Ich würde ja gerne sagen, dass solche Auseinandersetzungen nicht oft im Hause Schwarz vorkam, doch das wäre gelogen. Als ich etwas scheppern hörte, machte ich mich geradewegs auf in mein Zimmer. Das Schlimmste wäre gewesen, mich unten blicken zu lassen. Das hätte sonst nur alte Wunde aufgerissen, die ich krampfhaft versuchte zu verschließen. Schnell stopfte ich mir meine Kopfhörer in die Ohren und kramte in meinem Schreibtisch nach einer Flüssigkeit, die mich das Geschrei schnell vergessen ließ. So verbrachte ich den ganzen Abend. Trinkend auf meinem Bett. Meine Eltern hielten es später für nötig ihren Streit auf das erste Stockwerk zu verschieben. Ab dem Zeitpunkt war nicht mal mehr an Schlaf zu denken. Heute war wieder ein richtig beschissener Tag. Trotz des Lärms wurden nach einiger Zeit meine Augenlider schwer und ich driftete in einen leichten Schlaf.
Ich konnte mich genau an den Wortlaut meines Dads erinnern, als er mit Zorn in der Stimme vor mir stand. Sein Blick verriet mir, dass er mich allmählich für geisteskrank hielt.
„Sag mal, spinnst du?" Natürlich erwartete er darauf keine Antwort, also hielt ich den Mund. „Wo kommen wir denn hin, dass sich meine Tochter jetzt durchlöchern lässt. Ich fasse es einfach nicht, dass du überhaupt so etwas Widerliches vor mir erwähnst." Ganz klar, hatte er heute einen schlechten Tag. Trotzdem wollte ich nicht kleinbei geben.
„Es sind doch nur Ohrlöcher" War alles was ich zu meiner Verteidigung heraus brachte.
„Nur Ohrlöcher? Elen, hast du gerade gehört, was deine Tochter gesagt hat?" seine Stimme drohte jetzt ganz zu kippen und ich machte vorsichtshalber unauffällig einen Schritt nach hinten. Meine Mutter stand im Türrahmen und beobachtete uns mit ausdruckslosem Gesicht. Sie hatte es schon längst aufgegeben, mich in diesem Vorhaben zu unterstützen.
„Da kannst du ja gleich auf der Straße pennen." Angeekelt erwiderte er meinen Blick. Ich wollte schon zu meinem nächsten Argument ausholen, da hob er die Hand und ich zuckte unbemerkt zusammen. Mein Herz pochte hart gegen meine Brust. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass dieses Gespräch nicht gut für mich ausgehen würde.
„Meine Meinung ist und bleibt nein. Ich lasse meine Tochter doch nicht ihren Körper verschandeln. Und wenn ich noch einmal mit dir darüber diskutieren muss, wird es aber richtige Konsequenzen für dich haben." Mit diesen Worten ließ er mich einfach im Wohnzimmer stehen. Krampfhaft versuchte ich die aufkommenden Tränen zu unterdrücken. Ich versuchte meine Atmung zu beruhigen und den Ärger herunter zu schlucken, sowie jedes Mal. Niedergeschlagen drehte ich mich nach einiger Zeit um und starrte in das Gesicht meiner Mutter.
„Ach, Schatz. Wir können dir ja Klipse kaufen?" Ohne darauf zu antworten, ging ich wortlos an ihr vorbei, hinauf in mein Zimmer und blieb damals dort für den Rest des Tages.
Das war vor vier Jahren. Heute mit zwanzig Jahren, hatte ich es geschafft und stand vor dem Studio Painful. Heute 2017 würde ich es endlich wagen. Ich würde nicht nur davor stehen, um dann letztendlich wieder zu kneifen. Nein, dieses Mal werde ich rein gehen und mir ein Nasenpiercing stechen lassen. Die Ohrlöcher hatte ich mir stechen lassen, sobald ich 18 geworden war. Dafür gab es auch ziemlich viel Stress mit meinem Dad, was zu erwarten war. Nur mit großer Kraft und Mühe konnte ich die Ohrringe behalten, musste aber mit Hausarrest und Dads Enttäuschung in den Augen zurechtkommen. Also wieso sollte ich mir diese Auseinandersetzung noch einmal freiwillig antun? Ekliger Zweifel schlich sich in mein Unterbewusstsein und ließ meine Hand von der Türklinke gleiten. Ich hasste die Auseinandersetzungen mit meinem Dad wie die Pest. Es gab nichts schlimmeres, wo ich mich so schwach und unbrauchbar fühlte, wie in diesen Situationen.
Aber deswegen bist du doch hier. Für deine Unabhängigkeit. Die Stimme in meinem Kopf holte mich wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Ich wollte das, wollte das schon so lange. Wenn ich mich nicht schon mit Worten gegen meinen Vater zur Wehr setzen konnte, dann ja wohl mit einem Piercing. Ich hasste es, wie er mich behandelte. Als hätte ich keine Rechte und müsste mich ihm unterordnen. Genau das war es, daran arbeitete ich schon seit ich 12 bin. Um freies Handeln, das nicht wie immer gleich verurteilt wurde. Ich holte tief Luft und machte einen Schritt in den Laden. Ich würde das schaffen. Davon war ich überzeugt.
„Geh mir aus den Augen"
Trotz meiner Erwartungen war ich dennoch geschockt über seine Reaktion. Mein wild pochendes Herz drohte fast aus meiner Brust zu springen. Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Doch ich konnte nicht länger darüber nachdenken, denn da kam mein Vater auch schon drohend auf mich zu.
„Ich sagte du sollst verschwinden!" Während er sprach, nahm ich einen süffigen Geruch war, der aus seiner Richtung kam. Er hatte mal wieder getrunken. Sogleich fielen mir auch seine rot geäderten Augen auf, die mich jetzt wutentbrannt fixierten. Hilfesuchend blickte ich zu meiner Mutter, die rechts von mir auf dem Sofa saß. Sie hatte ihre Hände vor ihrem Gesicht gelegt und schirmte somit meine Hoffnung auf Hilfe und Sicherheit ab.
„Wage es ja nicht, dich mir ein zweites Mal zu widersetzen!" er spuckte die Wörter nur so in mein Gesicht. Sein verachtender Unterton traf mich mitten ins Herz und hatte stark mit den Tränen zu kämpfen. Doch diese Demütigung würde ich ihm nicht zeigen.
„Vanessa, ich warne dich" Drohend hob er die rechte Hand. Das war wohl mein Zeichen. Ohne einen weiteren Blick zu meiner Mutter, machte ich kehrt und rannte aus dem Haus. Es war schon spät und der kalte Herbstwind peitschte um meine nackten Schultern, doch das war mir in diesem Moment egal. Das Einzige, was für mich zählte, war so schnell wie möglich von ihm weg zu kommen. Das hatte ich nun davon. Ich wusste, dass so etwas geschehen würde. Wut kam in mir auf. Und schon wieder hatte er mich unter Kontrolle. Er hatte es geschafft, dass ich ihm gehorche, so wie jedes Mal. Meine Wut richtete sich nun auf mich. Nach all den Jahren, schaffte ich es nicht meine Tränen und den Schmerz, den mir mein Vater verursachte, auszublenden und normal mit ihm zu reden. Was war nur los mit mir? Warum war ich ihm gegenüber nur so schwach? Hektisch schnaufend hielt ich nach 10 Minuten an einer Tankstelle an. Meine Beine zitterten stark, und mein Magen rebellierte wieder in meinem Bauch. Ich durfte das nicht zu lassen. Dann hatte er gewonnen. Doch ich wusste auch nicht wohin mit meinen Gefühlen. Da fiel mein Blick auf die hellleuchtende Tankstelle, die mich jetzt fast magisch anzog. Und dann wusste ich, was mich für eine Weile vergessen ließ.
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