Kapitel 6
Vanessa
Mein Ruf war im Arsch. Ok, scheiß auf meinen Ruf, der war schon seit einem Jahr nicht mehr derselbe. Mein Leben war im Arsch. Ich war im Arsch. Bastis Freundin hatte mich verletzt. Körperlich. Ihre Hand brannte immer noch auf meiner Wange. Und ja, ich hatte es verdient. Ich wusste es. Auch wenn ich mit ihrem Freund geschlafen hatte, habe ich es nicht mit Absicht getan. Doch das wollte sie nicht hören. Gar nichts konnte sie in diesem Moment besänftigen, also habe ich es einfach über mich ergehen lassen. Als ich jedoch diese blauen Augen entdeckte, die mich wütend anstarrten, konnte ich nicht anders als weg zu laufen. Das war feige, ich weiß. Doch der Gedanke, dass Niklas das ganze Drama verfolgt hatte, verletzte mich noch mehr. Seine Hände waren zu Fäusten geballt und er schaute mich aus seinen dunklen Augen wütend an. Das war zu viel. Jeder einzelne auf dieser Party hatte seine Aufmerksamkeit auf mich gerichtet und diese versuchte mich gerade zu erdrücken. Ohne mich noch einmal umzudrehen, rannte ich aus dem Raum, aus dem Haus, Hauptsache weg von der Demütigung, die ich gerade erfahren hatte. Viele murmelten „Schlampe" oder „Hure". Am liebsten hätte ich ihnen gesagt, dass Basti vor unserem Techtelmechtel keine Freundin erwähnt hatte. Aber das klang auch schon in meinem Gedanken, wie eine billige Ausrede. Also ließ ich die Menschen reden. Das konnten sie sowieso am besten. Sobald ich die kühle Abendluft erreicht hatte, wagte ich wieder einzuatmen. Ich zitterte am ganzen Körper. Was war ich nur für ein Miststück? Wie konnte ich einem Mädchen nur so etwas antun? Mein Mageninhalt versuchte sich einen Weg nach oben zu bahnen. Würgend bückte ich mich auf meine Knie. Ein brennender Schmerz schlich sich meine Speiseröhre hinauf, brannte in meinem Hals. Es fühlte sich an, als würde es meinen Körper von innen auffressen. Schweiß trat mir an die Stirn, doch ich hieß den Schmerz willkommen. Ich hatte das verdient. Es war das Mindeste, was ich verdient hatte. Augenblicklich zitterten auch schon meine Knie. Gleich würde ich mich übergeben müssen.
„Vanessa, alles ok bei dir?"
Vor lauter Schreck, brach mein Gleichgewicht zusammen und ich kippte nach vorne. Unsanft landete ich kopfüber auf den Schotter. Verdammt, das tat weh. Eine warme Hand legte sich auf meinen Rücken, die mich aus meiner Starre befreite. Schnell richtete ich mich wieder auf und starrte geradewegs in Niks Gesicht.
„Was willst du hier?" Meine Stimme hörte sich genauso an, wie ich mich fühlte. Zittrig und gedemütigt.
„Ich wollte nach dir sehen." An seiner Stirn, die halb von seiner Mütze verdeckt wurde, bildeten sich Sorgenfalten. Er machte sich Sorgen? Nach allem, was er gesehen hatte, sorgte er sich um mich?
„Warum?"
„Was?" Anscheinend hatte er nicht mit meiner Gegenfrage gerechnet, denn jetzt blickte er mich ungläubig an. „Du wurdest ziemlich heftig geschlagen, da wollte ich..." Gleichzeitig ließ er die Hand von meinem Rücken gleiten.
„Ich hatte es verdient." Meine Stimme war schon wieder so fest genug, dass ich Wut darin hören konnte. Er durfte kein Mitleid mit mir haben.
„Niemand verdient so eine Demütigung." In seine Augen trat wieder der wütende Ausdruck, den ich schon auf der Treppe erkennen konnte.
„Ein Mädchen, das mit dem Freund eines anderen Mädchen vögelt, schon." Kurz schaute er mich verwirrt an, doch dann senkte er den Blick genauso schnell wieder. Schweigsam ließ er seine Hände in die Hosentaschen gleiten. Tja, damit hatte er wohl nicht gerechnet. Als sich Stille zwischen uns ausbreitete, und ich nur meinen Atem und die dumpfen Bässe der Musik wahrnahm, machte ich auf den Absatz kehrt. Ich wollte hier nicht mehr sein, sonst drehte ich noch völlig durch.
Niklas
Sie wollte nicht, dass ich sie bemitleidete. Das merkte ich. Doch als ich sie gekrümmt auf dem Schotterweg vorfand, konnte ich nicht anders als mir Sorgen zu machen. Das Mädchen hatte richtig fest zu geschlagen, was auf ihrer Wange noch deutlich zu sehen war. Ein roter Handabdruck zog sich von ihrem Ohr bis zu ihrer Oberlippe. Ohne nachzudenken, wollte ich sie dort berühren, ihr Tost spenden, doch dann sagte sie etwas, was mich stutzig machte. „Ein Mädchen, das mit dem Freund eines anderen Mädchen vögelt, schon."
Deswegen hatte sie sich nicht vor der Blondine verteidigt. Deswegen hatte sie den Leuten die gemeinen Dinge zu ihr sagen lassen. Und das war auch der Grund dafür, dass sie ihre Tränen krampfhaft versuchte zu unterdrücken. Ich wusste nicht, was ich ihr in diesem Augenblick hätte sagen sollen. Ihr zustimmen? Das konnte ich nicht. Trost? Wollte sie nicht, also blieb ich stumm und lauschte der Musik, die aus dem Haus drang. Nach einigen Minuten machte Vanessa Anstalten zu gehen. Ich konnte es ihr auch nicht verübeln. Wenn ich sie gewesen wäre, hätte ich es nicht mal mehr eine Sekunde ausgehalten. Trotzdem konnte ich sie in diesem Zustand nicht einfach so gehen lassen.
„Lass mich dich nach Hause fahren." Ich bewegte mich vorsichtig auf sie zu.
Sie stoppte und drehte sich langsam zu mir um. Verwirrung lag in ihrem Gesicht. „Warum solltest du das tun? Ich bin schon groß, Niklas. Du musst nicht auf mich aufpassen."
Nervös fuhr ich mir über die Mütze. Oh Mann. Was machte ich hier eigentlich? Sie war die Schwester meines bestens Freundes. Sie war die ... jüngere Schwester.
„Joint würde es wollen." Verdammt, das war echt lahm.
„Ist doch mir egal, was mein Bruder will." Ihre braunen Augen funkelten mich herausfordernd an.
„Ich will es so." Um sie zu überzeugen, machte ich einen Schritt auf sie zu. Ihr Gesicht wirkte blass mit ihren schwarz umrahmten Augen. Sie war komplett in schwarz gekleidet, schwarze Stiefel, Netzstrumpfhose und schwarzes T-Shirt, mit irgendeiner Band darauf, die mir unbekannt war. Sie atmete zittrig ein, als sie mich ebenfalls kurz musterte. Viel konnte sie jedoch nicht betrachten mit meinem verwaschenen Shirt und meiner dunklen Jeans.
„Komm schon, Vani. Ich will dich doch nur sicher nach Hause bringen." Ich hielt ungefähr zwanzig Zentimeter vor ihr an. Währenddessen hatte sie sich nicht vom Fleck gerührt, was mich ehrlich gesagt wunderte. Ihr wütendes Funkeln in den Augen schien jetzt auch etwas zu verblassen, stattdessen starrten sie mich eindringlich an. Die Minuten zogen sich wie zäher Kaugummi, als sie endlich antwortete.
„Wenn's sein muss" Die Schärfe in ihrer Stimme war wieder zurückgekehrt, doch ich ließ mich davon nicht beirren. Mit schnellen Schritten lief ich auf meinen Truck zu, entsperrte ihn und fuhr zu Vanessa, die ohne eine weitere Bitte auf den Beifahrersitz kletterte. Nachdem sie sich angeschnallt hatte, machte ich mich auf dem Weg zu ihrem Haus. Die Atmosphäre im Wagen war angespannt, also schaltete ich das Radio an. Ich drehte etwas an dem Regler bis ein Lied von David Guetta ertönte. Zufrieden lehnte ich mich in meinen Sitz.
„Wie kannst du nur so einen Schrott hören?", schnaubte Vanessa fassungslos neben mir.
„Ich mag das Lied." Versuchte ich mich zu verteidigen.
„Das besteht doch alles nur noch aus einem Computer. Wie können denn da bitte Gefühle an die Hörer gelangen? Hauptsache man kann zu so 'nem Techno Scheiß wie ein irrer Tanzen, scheiß auf den Text." Sie setzte sich etwas gerader hin und schenkte mir einen bitter bösen Blick. Am liebsten hätte ich laut aufgelacht. Sie steigerte sich da wirklich ganz schön hinein, was mir auch ihre rot gefärbten Wangen verrieten. Mein Lachen blieb jedoch nur bei einem Schmunzeln. Zu groß war die Gefahr, dass sie mich dann wieder anschwieg.
„Was ist dann deiner Meinung nach gute Musik?" Interessiert drehte ich meinen Kopf in ihre Richtung. Kurz trafen sich unsere Blicke. Das intensive Braun ihrer Augen begutachtete mich für einen kleinen Moment, um sich dann auf meine Lippen zu senken. Zu spät merkte ich, dass ich ebenfalls meinen Blick gesenkt hatte und nur noch ihren roten Mund sah. Verdammt. Schnell wandte ich mich wieder der Straße zu. Was war nur los mit mir? Ich kannte Vanessa doch schon fast mein Leben lang. Wieso verhielt ich mich jetzt so bescheuert?
Im Augenwinkel bemerkte ich, wie sie ihr Handy raus holte und es an meine Anlage anschloss. Nach einigen Sekunden ertönten ein paar Gitarrenakkorde, nur um dann mit einem Schlagzeug in einen lauten Rhythmus zu fallen. Als die Stimme des Sängers einsetzte, fing auch Vanessa an mit zu summen.
„Das ist gute Musik" sagte sie schwärmerisch. Das Lied wirkte düster und traurig. Der Sänger setzte sich richtig ins Zeug, an manchen Stellen versagte sogar seine Stimme, was dem Ganzen aber keinen Abbruch tat. Im Gegenteil. Es machte das Lied authentisch. Als ich meinen Blick wieder zu ihr gleiten ließ, schaute sie mich erwartungsvoll an. „Und?"
Noch einmal konzentrierte ich mich auf den Song. Er passte zu ihr. Das war das erste was mir dazu einfiel.
„Nicht gerade mein Geschmack, doch irgendwie hat der Song was. Gefällt mir."
Jetzt schenkte sie mir ein breites Lächeln, was ihre traurigen Augen mit einem Schlag leuchten ließ.
Ich musste schmunzeln, als sie nach vorne griff und die Lautstärke aufdrehte.
„Das nächste Lied ist von My Chemical Romance"
Neue Töne erklangen und erfüllten das Innere des Wagens mit Leben.
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