Kapitel 46
Vanessa
So leicht bekleidet wie ich gerade aus dem Haus gerannt war, stand ich jetzt auch vor Niklas Haustür. Ein Zurück gab es jetzt nicht mehr. Nein. Ich würde nie wieder alleine einen Fuß in mein sogenanntes Zuhause setzen, egal wie sehr mich Joint oder Mom anflehen würden. Das schaffte ich nicht mehr! Also ließ ich langsam meine Fingerknöchel gegen das starke Holz prallen. Ich hoffte so sehr, dass Niklas hinter der Tür stand, denn ich brauchte dringend eine Umarmung. Doch mein Glück hatte mich wie schon so oft verlassen, und Niklas Mutter zog mit einem freudigen Lächeln die Haustür auf.
„Vanessa, Schätzchen...", setzte sie an, dann jedoch blickte sie an mir herunter und ihr Gesichtsausdruck wechselte in Besorgnis. „Was ist passiert?" Als würde ich die Kälte jetzt erst merken, fröstelte ich unter meinem dünnen Hemdchen, und schlang automatisch die Arme um mich.
„Komm erst mal rein, du erfrierst hier draußen ja noch!" Das ließ ich mir nicht zweimal sagen, und stieg die restlichen Stufen hinauf, in die wohlige Wärme des Hauses. Ich musste schrecklich aussehen, meine Haare standen in alle Richtungen ab, und mein Shirt wies mehrere Flecken von verschiedenen Essensresten auf. Ein Glück, dass sie mich mit meinem Aussehen nicht fortgeschickt hatte. Glück! Also besaß ich es doch. In der Garderobe wollte ich schon meine Schuhe ausziehen, da bemerkte ich, dass ich gar keine anhatte. Sofort schämte ich mich noch mehr für mein Auftreten. Doch seine Mutter ging ohne ein weiteres Wort in die Küche und ich folgte ihr. Sie bewegte sich auf die Spüle zu, ich jedoch blieb am Türrahmen stehen, da mich das vertraute Gefühl, das dieser Raum in mir auslöste, völlig überrollte.
„Setz dich, ich mache dir einen Tee." Sie hatte sich zu mir gewandt, und sah mich freundlich an. Bei diesem Blick konnte ich nicht anders und tat wie mir gesagt wurde. Nach einigen Minuten kam sie mit einer dampfenden Tasse in der Hand zu mir an den Tisch. Ich nickte ihr dankend zu, als sie mir die Tasse zuschob. Bevor ich noch etwas sagen musste, trank ich lieber einen Schluck davon, die heiße Flüssigkeit rann mir den Rachen hinunter, und wärmte mich damit ein klein bisschen. In jeder anderen Situation hätte ich zu Alkohol gegriffen, doch zu meiner Überraschung, hatte ich gar nicht das Bedürfnis danach. Vielleicht lag es einfach an dieser Atmosphäre, das wusste ich nicht, aber es gefiel mir. Der Tee schmeckte hervorragend, und ich nahm gleich noch einen Schluck. Allein mein leises Schlürfen war zu hören. Dann bemerkte ich, wie sich ihr Blick auf meinen Hals senkte. Sie musste die roten Abdrücke gesehen haben.
„Es ist ok, wenn du mir nicht erzählen möchtest, was geschehen ist. Ich will nur, dass du weißt, dass diese Tür immer offen für dich ist." Sie sprach mit so einer Wärme in der Stimme, dass ich die Tasse absetzte und ihr am liebsten alles erzählt hätte. Doch das konnte ich nicht. Nicht ihr.
„Bloß ein kleiner Streit zu Hause, das wird schon wieder." Log ich, doch ihr skeptischer Blick verriet mir, dass sie meinen Worten keinen Glauben schenkte.
„Egal, was es ist, ich bin froh, dass du hier her gekommen bist." Wieder dieses ehrliche Lächeln. Oh Mann, ich wusste gar nicht wie man mit so viel Freundlichkeit umgehen sollte, also versuchte ich auch meine Mundwinkel zu heben.
„Obwohl ich denke, dass du wegen einer bestimmen Person hier bist, nicht wahr?", fragte sie. Ich musste schlucken, hatte Niklas etwa von mir erzählt? Seiner Mutter?
„Keine Panik, Schätzchen." Sie lachte kurz auf. „Er hat nichts verraten, doch eine Mutter bemerkt, wenn ihr Sohn sich verändert." Jetzt sah ich auf. Verändert? Sie musste meinen verwirrten Blick gesehen haben, denn sie sprach daraufhin weiter.
„Weißt du, er hatte es nicht leicht in seinem Leben. Als die Ärzte herausgefunden haben, dass er an einer Krankheit litt, die Haarausfall verursachte, erkannte ich Niklas gar nicht mehr wieder. Er war so in sich gekehrt, sprach nur noch das allernötigste, trug ständig diese blöde grüne Mütze, die seine Glatze verstecken sollte." Sie schüttelte bei den Worten lächelnd den Kopf, doch in ihren Augen glitzerte es verdächtig. „Er nahm sie nicht mal zum Schlafen ab!" Meine Brust fing an zu schmerzen, und ich bemerkte, dass meine Augen sich ebenfalls mit Tränen füllten.
„Jetzt trägt er sie nicht mehr." Stellte ich leise fest.
„Ja das stimmt!" sagte sie so glücklich, dass ich schon dachte, heulend zusammen zu brechen. Ihre Liebe zu ihm war so spürbar, dass ich nur meine Hände hätte ausstrecken müssen, um sie zu ergreifen.
„Und das ist dein Verdienst, Vanessa." Erzählte sie, und ich horchte auf. Mein Verdienst? Wie meinte sie das? „Als ich euch zwei in der Küche gesehen habe, traute ich zuerst meinen Augen nicht. Ein Mädchen? Hier bei uns? Das gab es schon lange nicht mehr. Ich machte mir Sorgen, dass es wieder genauso enden würde wie mit seiner damaligen Freundin, doch als ich mitbekam, wie er mit dir umging, wie er dich ansah." Ein träumerischer Ausdruck lag in ihren Augen. „Seine Augen sprühten vor lauter Glückseligkeit in dem Moment, in dem ihr gelacht habt. Das konnte keine noch so schlechte Mutter übersehen. Weißt du wie lange, wir schon als Familie auf so einen Moment gewartet haben?"
Ich schüttelte den Kopf, sprachlos über ihre Worte.
„Lange. Aber dann bist du in sein Leben getreten." Ihr ehrliches Lächeln überwältigte mich vollends. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass ich, Vanessa Schwarz, einen Menschen verändern konnte, und das auch noch ins Positive. Das war unmöglich!
„Oh, Schätzchen, ich wollte dich nicht damit verschrecken." Sagte seine Mutter, als sie meinen geschockten Gesichtsausdruck sah. Über den Tisch hinweg griff sie nach meiner Hand und schloss diese in ihre. Damit war es um mich geschehen. Eigentlich wollte ich etwas auf ihre Worte erwidern, doch als ich den Mund aufmachte, schluchzte ich unwillkürlich auf. In derselben Sekunde spürte ich auch schon die heißen Tränen auf meinen Wangen, die nur so unaufhaltsam hinab flossen. Bevor ich noch völlig unkontrolliert heulte, legte ich meine Hände vor mein Gesicht. Ich hörte wie ein Stuhl zurück geschoben wurde, dann roch ich ihr blumiges Parfum, und ehe ich mich versah, hatten sich ihre Arme um meinen Körper geschlungen. Was war das bloß für eine Mutter? Ich wusste es nicht, wann hatte mich meine eigene das letzte Mal in den Arm genommen? Wieder schluchzte ich auf, und die Arme umschlossen mich daraufhin fester. Nein, so ein vertrautes Gefühl hatte ich bei meiner Mutter nicht einmal gespürt. Meine Schutzmauer bröckelte immer mehr ab, und als sie mir auch noch liebevoll über das Haar strich, konnte ich nicht mehr dagegen ankommen und erwiderte ihre Umarmung.
„Shh, Schätzchen. Es wird alles wieder gut." Diesmal glaubte ich diese Worte. Ja, es konnte alles besser werden, wenn ich fest daran glaubte, konnte ich es schaffen.
Nach einer Weile versagten meine Tränen und ich hing schlaff in ihren Armen. Vorsichtig löste sie sich von mir und wischte mir mit einem Taschentuch über die verweinten Augen.
„Wieso nimmst du nicht ein heißes Bad, und in der Zeit hole ich dir ein paar wärmere Klamotten."
Ich konnte nur nicken, und sie führte mich ins Badezimmer. Dort angekommen legte sie mir ein Handtuch, Shampoo und eine Bürste Bereit und ließ das Wasser in die Wanne plätschern.
„Wenn was ist, dann schrei." Tröstend drückte sie meine Hand und dann verschwand sie hinter der Tür. Ich war viel zu erschöpft über meinen Heulkrampf, dass ich mich gar nicht für ihre Hilfe bedanken konnte. Vorsichtig berührte ich das Badewasser, und als es mich nicht völlig verbrannte, zog ich mich aus und ließ mich hinein gleiten. Seufzend schloss ich die Augen. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal ein Bad genommen hatte. Es musste Jahre her gewesen sein. Langsam ließ ich meine Beine unter das schaumige Wasser gleiten, sodass ich die rosa Streifen nicht mehr sehen musste. Sie verblassten schon mit der Zeit, und bald würden sie mich nicht mehr an ihn erinnern.
Mein Vater war derjenige, der mich zu dem Menschen gemacht hatte, der ich jetzt bin. Ich konnte jedoch bestimmen, ob ich mich länger von ihm beeinflussen ließ. Ich war diejenige, die mein Leben bestimmen konnte. Wenn ich genug Willenskraft aufbrachte, konnte ich mich von ihm lösen, das würde alles verändern, aber auch alles besser machen. Da war ich mir jetzt sicher. Zu viele Menschen hatte ich durch ihn, durch mein Verhalten verloren. Eine Person hatte mir gezeigt, dass ich mehr war, als eine Spielfigur in einem schlechten Spiel. Ich konnte selbst bestimmen in welche Richtung ich mich bewegte. Diese Person hatte sich für mich geöffnet, hatte ihre Ängste überwunden, nur um mit mir zusammen zu sein. Mit mir! Ich konnte das auch schaffen. Für ihn. Für Niklas. Ein heftiger Schmerz schüttelte mich und ich ließ mich noch weiter in das warme Wasser sinken. Ich durfte ihn nicht verlieren. Er war derjenige, der mich verstand, der mich nicht verurteilte. Ich musste es für ihn tun, das war ich ihm schuldig. Egal was meine Eltern oder Joint dachten, ich gehörte zu Niklas. Das habe ich schon ab dem Moment, als ich in ihn rein gestolpert war. Das war mir jetzt klar. Ich musste mich endlich meinen Ängsten stellen, diesmal werde ich nicht nachgeben, und werde ihm alles erzählen.
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