Kapitel 43

Vanessa

Am nächsten Morgen wurde ich von einem lauten Hämmern gegen meine Tür geweckt. Meine Augen waren so klebrig, dass ich mehrere Versuche brauchte, um sie zu öffnen. Ich fühlte mich so erschöpft, als wäre ich einen Marathon gelaufen. Das Klopfen drang immer lauter in mein Ohr, bis ich es vollends wahrnahm.

„Was soll die Scheiße, Vanessa?!" Erleichterung durchdrang mich als ich Joints Stimme hörte. Auf eine Konfrontation mit meinem Vater war ich gerade nicht in der richtigen Verfassung. Das dumpfe Gefühl in meiner Brust kehrte mit einem Schlag zurück. Die Berührung von Niklas konnte ich noch immer deutlich auf meinem Gesicht spüren. Wie gerne würde ich mich jetzt in seine Arme schmiegen und alles um mich herum vergessen, doch das konnte ich nicht. Nicht bevor ich mein Leben auf die Reihe bekommen habe.

„Seit wann sperrst du denn die Tür ab?" Joints Stimme riss mich aus meinen Gedanken, die sich wie schon seit Wochen nur um Niklas drehen. „Was ist denn in letzter Zeit los mit dir?" Jetzt klang er besorgt. Wieso benahm er sich die letzten Tage so? Hatte er seine Meinung geändert und wollte jetzt mehr an meinem Leben Teil haben? So wie es sich für einen Bruder gehörte? Ich konnte nur mit dem Kopf schütteln. Diese Fragen würden mich auch nicht weiter bringen, ich musste sie laut aussprechen, damit ich etwas bewirken konnte. Für Niklas. Für ihn wollte ich meinem Leben wieder etwas Sinn geben, würde es wieder Leben nennen wollen.

„Warte, ich mache dir auf!" Ich klang schläfrig, als ich auf die Tür zu stapfte.

„Du machst mir echt langsam Angst, Vani!", sagte er mit einem besorgten Gesichtsausdruck, nachdem ich ihm die Tür geöffnet hatte.

„Alles ok, Joint." Entgegnete ich ihm so fröhlich wie nur möglich, doch in seinem Gesicht konnte ich erkennen, dass er mir kein einziges Wort glaubte. Er ließ seinen Blick erst im Zimmer umher schwirren, dann konzentrierte er sich auf mich. Betrachtete mich von oben nach unten, an den Beinen angekommen, riss er erschrocken die Augen auf.

„Was ist passiert?" fragte er so leise, dass ich fast nichts verstehen konnte. Beschämt versuchte ich mit meinen Händen meine Beine zu überdecken und damit auch die roten Striemen, die Joint jetzt genauer musterte. „War er das?" Seine Stimme klang jetzt aufgebrachter, Zorn lag in seinen Augen, als er mich fest anschaute.

Ich wusste nicht, was ich ihm sagen sollte. Wenn ich die Wahrheit sagte, würde er mich bestimmt beschuldigen, wieder einen Streit angefangen zu haben. Diese Schuldzuweisung konnte ich jedoch nicht mehr ertragen. Der gelangweilte Blick von meiner Mutter hatte sich fest in meine Netzhaut eingebrannt und verfolgte mich Tag und Nacht. Wenn ich denselben Ausdruck jetzt auch in Joints Augen sehen würde, würde ich wahrscheinlich untergehen. Nein, ich konnte ihm nicht sagen, was mein Vater getan hatte.

„Vanessa, rede mit mir!" Obwohl seine Worte streng klangen, war sein Blick aufgeschlossen. Konnte ich da etwa Mitleid entdecken? Ich musste den Kloß in meinem Hals hinunterschlucken, bevor ich ihm wieder in die Augen schaute.

„Du weißt es doch eh schon.", flüsterte ich ihm zu.

Für einen kurzen Moment schloss er seine Augen und fuhr sich mit der Hand durch seine dunklen Haare. „Ich hatte ja keine Ahnung, Vani. Warum hast du mir nichts gesagt? Warum hast..."

„Warum ich nichts gesagt habe??" Wütend machte ich einen Schritt auf ihn zu. „Du warst derjenige, der mich im Stich gelassen hat. Du hast mich einfach verlassen, mich in diesem Haus alleine zurück gelassen!" Meine Fingernägel bohrten sich krampfhaft in meine Handflächen.

„Ich... ich dachte nicht, dass..." stammelte er vor mir.

„Was dachtest du nicht? Dass er sich geändert hat? Dass er nicht mehr trinkt, nicht mehr um sich schlägt? Siehs ein Joint, er wird sich nie ändern, er wird immer ein mieser Vater bleiben!"

„Ich habe doch mit ihm geredet. Damals." Seine Stimme versagte. Frustriert schüttelte er seinen Kopf. „Wenn ich gewusst hätte, dass er es immer noch tut, wäre ich nicht gegangen, Vani. Das musst du mir glauben."

Jetzt war ich diejenige, die verstummte. Ich glaubte ihm, ja das tat ich. Seine Augen sahen mich so verletzt an, dass ich keinen Zweifel an der Wahrheit seiner Aussage hatte. Trotzdem brachte ich keinen Ton heraus, so ein ehrliches Gespräch hatten wir schon seit Jahren nicht mehr geführt, sodass es mir die Sprache verschlug.

„Wie konntest du mir noch in die Augen sehen, nach allem was geschehen war? Ich hatte dich tatsächlich im Stich gelassen. Es tut mir so leid, Vani. Wie konnte ich das bloß zulassen?" Diese Worte. Seine Worte brachten meine Schutzmauer zu Fall, die ich seit dem ersten Tag errichtet hatte, als er wieder vom Internat heim gekommen war. Eine Träne verließ mein Auge und tropfte auf den Boden. Obwohl er keine Regung zeigte, wusste ich, dass er in dem Moment, das Gleiche für mich empfand. Er konnte noch nie gut seine Gefühle zeigen, noch weniger als ich, was mit so einem Vater eigentlich auch kein Wunder war.

„Ich weiß, dass du das nicht gewollt hast." Erst jetzt wurde mir klar, dass ich ihm keinen Vorwurf machte. Kein Kind wollte in den Augen seines Vaters als Nichts, als ein Problem abgestempelt werden. Und gerade Joint wusste wie schrecklich es ist, diese Qual zu empfinden. Er hat es zwar nie zugegeben, doch mir war klar, dass mein Vater zuvor an ihm seine Wut ausgelassen hatte und das wahrscheinlich noch viel schlimmer.

Er nickte kräftig, dann zog er mich in eine liebevolle Umarmung und ich musste mich beherrschen nicht in Tränen auszubrechen.

„Er wird dafür bezahlen, Vani. Das schwöre ich dir!" Seine Stimme klang so überzeugt, dass es mir eiskalt den Rücken hinunter lief.

„Was hast du vor?" fragte ich ihn vorsichtig. Er löste sich von mir und sah mich entschlossen an.

„Er kann nicht mit dem davon kommen, was er dir angetan hat!"

„Joint!" Er wandte sich von mir ab. „Das bringt doch nichts! Er wird immer die Oberhand gewinnen.", versuchte ich ihn aufzuhalten, doch er lief einfach weiter aus dem Zimmer.

„Du bist meine kleine Schwester! Ich hätte dich die ganze Zeit beschützen müssen!" Während er sprach, hörte ich ihn die Treppe hinab steigen. Mit meinem Schlafanzug am Leib, rannte ich ihm hinterher. Er war so wütend. So aufgebracht durfte er sich nicht meinem Vater stellen, das würde nicht gut enden. Vor allem nicht, wenn dieser heute schlechte Laune hatte.

„Georg! Mach nichts Dummes, bitte!" Doch meine Worte kamen zu spät. Bevor ich in der Küche angekommen war, konnte ich schon die Stimme meines Vaters hören.

„Wieso schreit ihr hier so rum?" Seine schweren Schritte hallten auf den Fliesen wieder. Wie betäubt blieb ich stehen. Mein Bauchgefühl riet mir so schnell wie möglich von hier weg zu kommen, doch meine Beine ließen sich einfach nicht mehr bewegen, als wären sie nicht mehr mit meinem Körper verwachsen.

„Wieso hast du es schon wieder getan?" hörte ich Joint rufen.

„Was ist denn in dich gefahren, Georg!" Ich konnte mir den ungläubigen Gesichtsausdruck meines Vaters nur zu gut vorstellen.

„Du hast es mir versprochen!" warf ihm dieser vorwurfsvoll an den Kopf.

„Wie redest du eigentlich mit mir? Wo ist dein Respekt, Sohn?" die Stimme meines Vaters wurde zunehmend lauter, was mir nur zu bekannt vorkam.

Eine kleine Bewegung in der Nische der Treppe zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Meine gebrechliche Mutter stand mir mit verschränkten Armen gegenüber und sah mich nur stumm an. Was hatte ich auch anderes erwartet? Ihre Pupillen waren so starr, dass ich fast glaubte, sie sei gerade in einem anderen Film. Doch dann zuckte sie erschrocken zusammen, als mein Vater lauter wurde. Das konnte nicht sein. Hatte ich mir diese Bewegung nur eingebildet? Als mein Blick jedoch an ihren Armen hinab glitt, bemerkte ich, dass sie am ganzen Körper zitterte. Ihre Arme hatte sie nur um sich geschlungen, damit es niemand registrierte. Sie hatte Angst! Das war der Grund, warum sie sich die ganze Zeit aus den Streitereien raus gehalten hatte, ihre Frucht hinderte sie daran, etwas gegen meinen Vater zu tun. Ich kannte dieses Gefühl gut, machtlos zu sein, zu schwach zu sein, um sich ihm zu stellen. Sie hatte sich immer noch keinen Millimeter gerührt und sah mich weiterhin mit diesem leeren Ausdruck an. Sie kannte ebenso kein anderes Gefühl mehr, als den Zorn meines Vaters. Dieser stürmte jetzt aus der Küche und kam schnurstracks auf mich zu. Ich hatte nicht mit bekommen, was die beiden geredet hatten, doch anscheinend war es nichts Gutes gewesen, da mein Vater mich wütend anstarrte. Gleichzeitig schnappte meine Mutter leise nach Luft und entfernte sich ängstlich ein paar Schritte von mir. Obwohl mich sofort wieder eine bekannte Enttäuschung ergriff, konnte ich dieses Mal ihr Handeln verstehen. Zwar nicht akzeptieren, jedoch wusste ich warum, sie sich weiter in den Schatten der Treppe zurück fallen ließ.

„Sind wir jetzt auch noch eine Petze?!" Mein Vater nahm nur mich wahr.

„Lass sie in Ruhe, Dad!" schrie Joint ihm hinterher.

Doch er ignorierte ihn einfach. Ein irrer Blick trat in seine Augen, den ich zuvor noch nie gesehen hatte. „Eine Schlampe und eine Verräterin. Das passt mir ja gut." Mit einer Bewegung hatte er mich auch schon am Kragen meines T-Shirts gepackt und schnaubte mir wütend entgegen. „Denkst du, du kannst mich hintergehen, indem du deinem Bruder Lügen auftischst?!" Sein widerlicher Atem schlug mir ins Gesicht. Ich konnte nicht anders und Tränen traten mir in die Augen. Verdammt, mein Herz pochte voller Angst über sein kommendes Handeln gegen meine Brust. Ehe ich noch etwas hätte tun können, schleifte er mich auch schon an meinem Hals die Treppe hinauf. Jede einzelne Stufe spürte ich schmerzvoll an Rücken und Beinen.

„Du sollst sie los lassen!", konnte ich Joints verzweifelte Stimme hören, sehen konnte ich ihn nicht, da ich vor lauter Furcht meine Augen geschlossen hatte. Der Druck um meinen Hals nahm zu, als mein Vater mich auf die Beine zog. Fest drückte er mit seinen Fingern gegen meine Kehle, und mir wurde ganz schummrig vor Augen. Hysterie überrollte mich und ich kratzte mit den Nägeln an seinen Händen entlang, er musste schon bluten, so verzweifelt versuchte ich mich aus seinem Griff zu winden.

„Wieso gehorchst du mir immer noch nicht?!" schrie er mir entgegen, doch ich konnte mich nicht mehr bewegen. Der Schmerz, der sich in mir ausbreitete, betäubte mich und ich ließ meine Arme schlaff gegen meinen Körper prallen.

„Hör auf! Du bringst sie um!" War das mein Bruder? Ich konnte es nicht genau sagen, viel zu sehr lenkten mich die zunehmend schwarzen Punkte vor meinen Augen ab.

„DU hast mir nichts zu befehlen!", nahm ich meinen Vater wahr.

„Mom, steh nicht einfach so rum!" Joints Stimme glich jetzt einer wahren Sirene. Unfähig etwas zu tun, hielt mich mein Vater in seinem eisernen Griff. Panik packte mich, da ich nicht wusste, wie weit er dieses Mal gehen würde. Der Wahnsinn in seinen Augen, den ich gesehen hatte, stachelte ihn heute noch mehr an. Dann, als ich schon aufgab und meine Luft abgeschnürt wurde, landete ich mit einem harten Rums auf dem Fußboden. Hustend fasste ich mir an den Hals, wo der Druck auf einmal verschwunden war. Zitternd holte ich immer wieder nach Luft, doch es fühlte sich so an, als würde ich gleich ersticken. Noch einmal sog ich die Luft ein, doch mein Körper ließ sich nicht mehr kontrollieren. Er hatte es geschafft! Er hatte mich mit seiner Gewalt umgebracht. 

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