Kapitel 42

Niklas

Markus Anruf überraschte mich. Ich wusste gar nicht, dass er mit Vanessa unterwegs war. Doch seine Stimme klang besorgt und sofort machte ich mich auf zu ihm. Bevor er auflegte, nannte er mir noch die Adresse und ich sprang in mein Auto. Als ich vor einem großen Haus anhielt, kamen mir einige Jugendliche auf schwankenden Beinen entgegen. Wieso nur musste mein Bruder immer auf solche Partys gehen? Solche reichen Leute taten ihm nicht gut. Ich musste gar nicht lange suchen, da sah ich ihn auch schon auf mich zukommen.

„Endlich, bist du da!" er stellte sich mir gegenüber. Seine Stirn war in Sorgenfalten gelegt. „Ich kann sie nirgends entdecken." Verwirrt sah ich ihn an.

„Meinst du etwa Vanessa?"

„Ich konnte ja nicht ahnen, dass Michelle auch hier auftauchen würde. Ich war so dumm." Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.

„Markus, wo hast du sie zuletzt gesehen?"

Er deutete mit dem Finger auf die Bar und mir wurde ganz flau im Magen.

„Sie war schon betrunken, als ich sie abgeholt hatte. Es tut mir so leid, Niklas. Ich dachte nur, dass ich euch beide wieder zusammen bringen könnte. Dass ich mit ihr darüber reden könnte, doch stattdessen hat sie Michelle geschlagen!" Er zog scharf die Luft ein.

„Beruhig dich, Markus. Ich finde sie, mach dir keine Sorgen. Bleib einfach so lange hier, ok?"

Er nickte knapp und ließ sich auf einen der freien Stühle sinken. Gut, ich konnte mich in diesem Moment nicht auch noch um ihn kümmern. Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen, doch ich konnte sie nirgends entdecken. Da blieb ich an einer Treppe hängen. Mit schnellen Schritten bewegte ich mich darauf zu. Mir gefiel der Gedanke überhaupt nicht, dass sie sich irgendwo alleine betrank. Als ich im oberen Stockwerk ankam, öffnete ich jede Tür, die mir in die Quere kam. Im dritten Zimmer konnte ich zwei Personen auf einem Sofa ausmachen. Sofort packte mich die Eifersucht, als ich Vanessa und Basti erkannte. Nein, davon durfte ich mich jetzt nicht verleiten lassen. Ich trat näher an die beiden heran und bemerkte, wie Basti eine seiner ekligen Hände auf ihr Bein legte. Vanessa versuchte sie weg zuschieben, doch ihre Bewegungen wirkten nicht mehr koordiniert. „Geh endlich weg!" Ihre Stimme klang so schwach, dass ich mich beherrschten musste, mich nicht auf ihn zu stürzen. Ihr jetziger Zustand erinnerte mich an die Nacht, in der ich sie volltrunken nach Hause getragen hatte. Mir war damals schon bewusst gewesen, dass es nicht bei diesem einen Mal bleiben würde.

Ich wollte mich schon kenntlich machen, da beugte sich Basti wieder zu ihr und fasste sie ein weiteres Mal an.

„Ich sagte doch, dass ich nicht will!" Scheiß drauf! Jetzt reichte es!

„Lass sie los!" Ich lief auf die beiden zu, die mich erschrocken anschauten.

„Was willst du denn hier?" fragte er mich mit einem finsteren Blick.

„Niklas!" Vanessa setzte sich überrascht auf. Drohend kam ich auf Basti zu.

„Fass sie noch einmal an, und du wirst es bitter bereuen!" Sprachlos über meine Worte, stand er für einige Sekunden einfach nur da. Diese Zeit nutzte ich.

„Komm, ich bringe dich nach Hause." Bestimmt reichte ich Vanessa meine Hand, die sie ohne Zögern ergriff. Mit einem leichten Druck dirigierte ich sie Richtung Tür, da hielten mich Bastis nächsten Worte auf.

„Ist das etwa dein Freund? Ich wusste gar nicht, dass du treu sein kannst.", lachte er böse. Ehe ich mich versah, landete auch schon meine Faust in seinem Gesicht. Mit einem schmerzenden Aufschrei fiel er zu Boden. Bevor er aufstehen konnte, packte ich ihn am Kragen seines Poloshirts.

„Lass sie in Ruhe! Sie gehört jetzt zu mir! Und sag deinen bescheuerten Freunden Bescheid, dass sie Bekanntschaft mit meiner Faust machen, wenn sie nicht sofort aufhören, solche Dinge über sie zu verbreiten, verstanden?" er nickte mir entkräftet zu. Achtlos ließ ich ihn los und sein Kopf traf mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden auf. Das sollte reichen, um ihm die Dringlichkeit meiner Worte deutlich zu machen. Als ich mich von ihm weg drehte, starrten mich zwei dunkelbraune Augen an.

„Lass uns gehen." Wie selbstverständlich nahm ich ihre Hand in meine und führte sie zu Markus, der sie gleich in eine Umarmung schloss.

„Vanessa, es tut mir so leid." Hörte ich meinen Bruder sagen.

Während wir aus dem Haus liefen und ich Markus half in den Pickup zu steigen, sprach Vanessa kein einziges Wort. Ich wusste selbst nicht, was ich zu ihr sagen sollte. So hatte ich mir unser Wiedersehen nicht vorgestellt. Markus schlief schon nach wenigen Minuten ein. Mit einem lauten Quietschen hielt ich vor Vanessas Haus an.

Sie blickte nicht mal in meine Richtung, während sie sprach. „Danke fürs Heimbringen."

Bevor ich ausstieg, schenkte sie mir noch ein aufrichtiges Lächeln. Oh Mann, ich durfte meinem Verlangen nicht nachgeben und sie berühren. Trotzdem folgte ich ihr aus dem Auto.

„Vanessa, warte. Ich ..." Ich hatte meinen Satz noch nicht beendet, da drehte sie sich auch schon zu mir um und stürmte auf mich zu. Ehe ich noch etwas hätte erwidern können, schlang sie auch schon ihre dünnen Arme um meinen Nacken. Automatisch atmete ich ihren süßen Duft ein und schloss für einen Moment die Augen.

„Da lief nichts mit mir und Basti, das musst du mir glauben!" Ihre Stimme wurde von meinem Shirt gedämpft.

„Ich glaube dir." Das entsprach der Wahrheit. Ich vertraute nur nicht diesem Mistkerl.

„Es tut mir alles so leid, Niklas. Ich vermisse dich so sehr." Sie brach mir fast das Herz. Zitternd atmete ich die Nachtluft ein. „Ich vermisse das Gefühl bei dir zu sein!"

„Vanessa..." setzte ich an, doch sie unterbrach mich.

„Wir bekommen das hin." Jetzt wich sie einen Schritt zurück, um mir direkt in die Augen schauen zu können. „Bitte lass mich wieder ein Teil deines Lebens sein." In ihren Augen schimmerte es feucht.

„Du bist ein Teil meines Lebens, Vanessa. Ich könnte mir keins mehr ohne dich vorstellen."

„Warum... warum können wir dann nicht einfach diesen blöden Streit vergessen?" Als sie eine Hand auf meine Brust legte, war ich nah dran, sie einfach zu packen und zu küssen. Doch ich durfte nicht vergessen, dass sie betrunken war.

„Das geht nicht so einfach."

„Wieso nicht?" Sie legte ihre zweite Hand auf mich. Schnell schloss ich die Augen, um nicht auch noch ihr leuchtendes Braun zu sehen. Ich musste mich erstmal sammeln, bevor ich noch etwas Unüberlegtes tat. Nach einer Weile konnte ich ihre Lippen auf meinem Hals spüren, die sich immer weiter meinem Mund näherten. Völlig gefangen in ihren Berührungen ließ ich sie gewähren, versuchte mich zurück zuhalten. Doch als sich ihre Lippen auf meine legten, konnte ich nicht anders, als sie an mich zu ziehen und den Kuss zu erwidern. Stöhnend drückte sie sich an mich, umschloss meinen Nacken mit ihren kühlen Fingern. Wie ferngesteuert lief ich mit ihr in den Armen auf den Pickup zu, lehnte ihren Rücken gegen die warme Motorhaube, drückte mich gegen ihren dünnen Körper. Meine Hände wollten schon auf ihren Hintern wandern, da drang ihre Zunge in meinen Mund, und der alkoholische Geschmack breitete sich aus. Er war einfach nicht zu ignorieren, mit einem einzigen Schritt löste ich mich von ihrem Mund.

„Halt." Sagte ich schwach, immer noch benommen von dem intensiven Kuss.

Sie hörte nicht auf mich, streckte die Arme nach mir aus, wollte mich wieder an sich ziehen, doch ich konnte nicht weiter machen. Das war nicht richtig.

„Was ist los? Warum hast du aufgehört?" fragte sie mich verwirrt. Kopfschüttelnd entfernte ich mich weiter von ihr, musste einen klaren Gedanken fassen können.

„Sieh dich an, du bist total betrunken, hast eine Schlägerei angefangen und warst nicht in der Lage, dich gegen einen schmierigen Typen zu wehren." Immer noch verwirrt sah sie mich an.

„Ich sagte doch schon, dass da nichts lief."

„Darum geht es nicht, Vanessa."

„Worum dann? Ich mache alles für dich!" Während sie mit den Händen wild herum fuchtelte, schwankte sie einige Schritte nach hinten. Ich holte tief Luft.

„Was auch immer in deinem Leben gerade schief läuft, du musst es klären. So kannst du nicht weiter machen." Sanft schob ich ihr eine Strähne hinters Ohr. Bei der Berührung sah sie mich wie hypnotisiert an. „Ich würde dir gerne dabei helfen, doch das kann ich nicht, wenn du mir nicht sagst, was los ist." Langsam ließ ich meine Hand wieder sinken. Sie wollte schon etwas erwidern, da kam ich ihr zuvor.

„Sag jetzt nichts. Ich möchte dich nicht in diesem Zustand zu etwas drängen." Sie schüttelte vehement den Kopf, blieb aber stumm.

„Ich warte auf dich bis du bereit bist mit mir zu reden, ok?" Sie nickte als Antwort und eine einzelne Träne kullerte ihr die Wange hinab. Um sie nicht doch noch in die Arme zu schließen, wandte ich den Blick ab. Ich musste standhaft bleiben.

„Dann komm gut nach Hause" Ihre Stimme zitterte leicht. Verdammt, ich durfte nicht aufschauen.

„Werde ich." Erst als sie sich abgewandt hatte und hinter der Haustür verschwunden war, traute ich mich meinen Blick zu heben. Ich blieb solange an Ort und Stelle stehen, bis in ihrem Zimmer Licht anging. Für einige Sekunden gab ich meine Beherrschung auf und verfolgte ihre schwarze Silhouette, wie sie sich die Haare zu einem Zopfband, ihre Kleidung auszog und sich hinlegte. Ab da verschwand sie vor meinen Augen und ich ging zurück zu meinem Auto. Markus schlief immer noch felsenfest.

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