Kapitel 4

Niklas

Der Tag hatte mal wieder mies geendet, ich war so sauer auf meinen besten Freund, dass ich die blöde Autotür nicht aufbekam. Erst beim zweiten Anlauf schaffte ich es meine Wut zu zügeln und kam ins Innere des Wagens. Vanessas Zimmer lag im Dunkeln, trotzdem konnte ich ihre Anwesenheit spüren, wie sie mich von ihrem Fenster aus beobachtete. Ich kannte sie schon mein Leben lang, war mit ihrem Bruder aufgewachsen, doch heute hatte es fast so gewirkt, als würde eine völlig fremde Person vor mir stehen. Noch nie hatte ich sie mit so düsteren Klamotten gesehen, ihre sonst so strahlenden Augen waren von schwarzen Rändern umzogen und ließen ihre Haut noch blasser wirken. Hätte ich es nicht besser gewusst, dann hätte ich nicht gedacht, dass ein Mensch sich in zwei Jahren so verändern konnte.

Als ich mir irgendwann blöd vorkam, stieg ich in mein Auto und fuhr nach Hause. Ich musste unbedingt Abstand zu diesem Haus schaffen, in dem sich alle prächtig amüsierten. Seit meiner Krankheit hatte ich es eher vermieden auf solche Veranstaltungen zu gehen, blieb lieber unentdeckt, sodass mich keiner dumm anglotzen konnte. Was hatte ich mir nur dabei gedacht, dass es dieses Mal besser laufen würde? Ich kannte Joint, mir hätte klar sein müssen, dass er keine Gelegenheit auslassen würde, um mich mit einem Mädchen bekannt zu machen. Dafür war er schließlich berühmt, immer ein passendes Mädchen an der Seite. Er wechselte sie zwar manchmal öfter als seine Unterwäsche, doch wenigstens war er nicht alleine. Nachdem ich vor meinem Haus geparkt hatte, stapfte ich frustriert die kleine Treppe hinauf, sperrte die Tür auf und ließ sie mit einem lauten Schlag ins Schloss fallen. Polternd schleuderte ich meine Schuhe von den Füßen, warf meine Jacke lustlos über den Haken und wollte mich schleunigst auf den Weg in mein Zimmer machen, da kam meine Mutter aus der Küche. Mit einem Handtuch in der Hand sah sie mich besorgt an.

„Niklas, Schatz. Du bist ja schon wieder hier. Ist denn etwas vorgefallen?"

Kurz zuckte ich mit den Schultern, ich war wirklich nicht in der Stimmung auf eine Unterhaltung mit ihr. Sie würde mich doch wieder nur mit Fragen löchern, und dann mitleidig anschauen. So wie jetzt. Dieser Blick war seit zwei Jahren nicht mehr aus ihrem Gesicht verschwunden, ich liebte sie, doch irgendwann konnte ich ihr einfach nicht mehr in die Augen schauen. Sie musste ernsthaft enttäuscht von mir sein.

„Haben sie denn was ... Schlechtes gesagt?" Sie ließ einfach nicht locker, dachte immer noch, dass ich ihr kleiner Junge war, der sich nicht wehren konnte.

„Ich komme schon zurecht, Mom." Nuschelte ich knapp, drehte mich in Richtung Treppe und machte ihr damit deutlich, dass ich kein Interesse an dem Gespräch hatte.

„Niklas, du musst schon mit mir reden, wenn dich etwas bedrückt." Sagte sie lauter, als ich die erste Stufe hinauf stieg. Mein schlechtes Gewissen meldete sich bei ihren Worten, langsam wand ich mich zu ihr und setzte einen versöhnlichen Ton auf.

„Wie gesagt, es geht mir gut, ich bin nur müde." So ganz glaubte sie meine Lüge nicht, das konnte ich an ihren zusammen gekniffenen Augen erkennen, doch sie nickte nur und ließ mich weiter laufen.

Bevor ich meine Zimmertür erreicht hatte, hörte ich eine Tür quietschen und die Schritte meines Bruders verteilten sich gedämpft auf dem Parkett.

„Hey, Mom." Nahm ich seine Stimme wahr. „du musst ihm Zeit geben." Mir war bewusst, dass sie über mich sprachen, blieb jedoch untätig stehen.

„Ich weiß, es ist aber so schwer, wenn er sich von uns abschottet." Das Schluchzen meiner Mutter ging mir durchs Mark. Vor zwei Jahren hätte ich sie in diesem Moment in den Arm genommen, sie getröstet, doch ich war nicht mehr derselbe, konnte nicht mehr so einfach die Nähe anderer Menschen zulassen. „Wann hat er denn das letzte Mal gelacht, Markus?" sprach sie weiter. Gespannt wartete ich auf die Antwort meines Bruders. Er wusste immer die richtigen Worte zu finden, zeigte immer Mitgefühl und Verständnis für jemanden.

„Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, dass er sich irgendwann öffnet. Er hatte einen großen Schicksalsschlag erlitten, da müssen wir ihm Zeit gewähren, sich wieder im Leben zurecht zu finden." Die Hoffnung nicht aufgeben? Als wäre ich irgendeine tickende Zeitbombe, die jeden Augenblick hoch gehen könnte. Das war eindeutig zu viel für mich, ich hätte nicht lauschen dürfen. Stürmisch betrat ich mein Zimmer, schloss die Tür und ließ mich mit einem Schwung aufs Bett fallen. Ich wollte gar nicht, dass sich meine Familie solche Sorgen um mich machte, brauchte keine Hilfe im Leben, doch das verstanden sie nicht. Insbesondere meine Mutter packte mich seitdem immer mit Samthandschuhen an, was sie wahrscheinlich noch nicht einmal bemerkte, es geschah einfach instinktiv, doch das machte mein jetziges Leben nicht leichter.

Ich musste eingedöst sein, denn als ich aufwachte, zeigte mir mein Wecker an, dass es 2 Uhr nachts war. Krampfhaft schloss ich meine Augen wieder, in der Hoffnung weiter schlafen zu können, doch es funktionierte nicht. Stöhnend erhob ich mich vom Bett, starrte meine weiße Wand an, an der früher mal viele Fotos gehangen waren, und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Mein Blick schweifte durch den Raum, eröffnete weitere kahle Wände, minimalistische Möbel und ein kleines Fenster, das den Mond herein schienen ließ. Nach einiger Zeit hatte ich mich einfach nicht mehr wohl gefühlt in meinem eigenen Zimmer, schmiss kurzerhand alle persönlichen Dinge in Kisten und verstaute sie im Keller. Alle Erinnerungen an mein früheres Leben hatte ich aus meinem Zimmer verbannt, sodass ich nie wieder zurück schauen musste.

Um 3 Uhr nachts hielt ich es nicht mehr in meinen vier Wänden aus, schnappte mir meine Laufschuhe und ging eine Runde joggen. Die kühle Nachtluft konnte ich beruhigt einatmen, musste mich in der Dunkelheit nicht vor neugierigen Augen verstecken. Nachdem ich eine weitere Stunde wie in Gedanken verloren vor mich hin gerannt war, schaute ich auf und erkannte, dass ich ein ganzes Stück hinter mir gelassen hatte. Noch eine Straße weiter und ich würde direkt vor Joints Haus stehen. Ob er noch am Feiern war? Vorstellen konnte ich es mir bei ihm.

Ich wollte schon kehrt machen, da bemerkte ich eine zierliche Person auf der anderen Straßenseite. Diese schwankte gefährlich hin und her, suchte offensichtlich nach einer geeigneten Stütze, griff jedoch immer wieder ins Leere. Als ich die Gestalt eingehender musterte, stellte ich fest, dass es sich um ein Mädchen mit schwarzen langen Haaren handelte. Stöhnend beugte es sich vorn über und wäre fast umgekippt, hätte es nicht noch rechtzeitig die Arme ausgestreckt und sich vom Boden abgestützt. Wacklig richtete sich das Mädchen wieder auf und schaute direkt in meine Richtung. Vanessa, schoss es mir durch den Kopf, als ich die hellbraunen Augen erkannte. Was machte sie um diese Uhrzeit alleine auf der Straße?

Zögernd ging ich einige Schritte auf sie zu, behielt sie im Auge, sodass ich sie nicht verschreckte. Wusste Joint, dass seine Schwester noch unterwegs war?

Sie kniff kurz die Augen zusammen, als könnte sie mich nicht richtig sehen, dann riss sie diese weit auf.

„Nik?" Sie starrte mich verdutzt an.

Ich sollte sie wenigstens fragen, ob alles in Ordnung war. Mit einigem Abstand machte ich vor ihr Halt, es reichte jedoch aus um den alkoholischen Geruch, der stark von ihr ausging zu riechen.

„Wasch masch du hier?" Ich konnte ihre Worte kaum verstehen. Als Antwort deutete ich mit dem Finger auf meine Sportschuhe, sie folgte ihm und sah mich dann lächelnd an.

„Mitten in der Nacht?" Ihr leises Kichern überraschte mich, nach ihrem Aussehen zu urteilen, hätte ich nicht gedacht, dass sie der Typ von Mädchen sei, das kicherte. Ich nickte ihr knapp zu.

„Du bist mal wieder richtig gesprächig." Nuschelte sie mir entgegen, woraufhin ich schmunzeln musste. Sie hatte genau das gleiche lose Mundwerk wie ihr großer Bruder. Sie wollte einen Schritt nach vorne machen, da sackte ihr Körper in sich zusammen. Blitzschnell kam ich ihr als Stütze entgegen, fing sie mit meinen Armen an ihrer Hüfte auf. Mit einem quälenden Laut lehnte sie ihre Stirn gegen meine Brust, atmete heftig ein und aus.

„Geht es dir gut?" fragte ich sie unbeholfen, woraufhin sie leicht mit dem Kopf schüttelte. Die Stille, die sich danach über uns legte, beunruhigte mich zunehmend. Hatte sie so viel getrunken, dass sie etwa ohnmächtig wurde? Aus Panik packte ich sie kräftig an den Oberarmen, zerrte sie in eine aufrechte Position um ihr ins Gesicht zu schauen. Mein abruptes Handeln gefiel ich anscheinend gar nicht, stöhnend schloss sie ihre Augen, die von roten Äderchen durchzogen waren.

„Kannst du laufen?" fragte ich sie, während sie immer noch die Augen zusammenkniff. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, als sie mich wieder ansah und versuchte zu antworten.

„Ich denke schon." Flüsterte sie plötzlich erschöpft, machte sich los und stolperte zur Seite. Ich überwand all meine Ängste, legte ihr meinen Arm um den Rücken und schlang ihre Hand um meinen Nacken. In dieser Position konnte sie unmöglich hinfallen.

„Ich bringe dich nach Hause." eröffnete ich ihr, als ich versuchte sie vom Fleck zu bekommen. An meiner Schulter konnte ich ihr darauffolgendes Nicken spüren, erhöhte den Druck um ihre Taille und schob sie weiter vorwärts. Wir kamen nur sehr langsam voran, weil ich ihr einerseits kein schnelleres Tempo zutraute und sie immer wieder stöhnend nach vorne kippte, sodass ich glaubte, sie müsste sich jeden Moment übergeben. Obwohl ihr Haus in der nächsten Straße lag, liefen wir schon 10 Minuten schweigend in diese Richtung. Ihr Stöhnen verringerte sich mit jeder Minute, bis sie irgendwann nur noch schlaff in meinem Arm hing. Ich war seit Jahren keiner Frau, keinem Menschen so nah gekommen, doch trotz diesen Umständen fühlte ich mich nicht unangenehm dabei.

Im selben Augenblick, in dem ich diesen Gedanken geformt hatte, spürte ich Vanessas dünne Ärmchen, die sich um meine Mitte schlangen. Fest drückte sie sich an meinem Körper. Durch ihre plötzliche Nähe blieb ich erschrocken stehen, holte tief Luft, um meiner aufkommenden Panik entgegen zu wirken, doch es passierte nichts. Obwohl sie in meine persönliche Sphäre eingedrungen war, verspürte ich nicht den Drang sie von mir zu schieben. Im Gegenteil, das warme Gefühl, dass sich in meiner Brust ausbreitete, brachte mich ebenfalls zum Verdutzen. Das hier war nicht richtig. Ausgerechnet bei der Schwester meines besten Freundes musste mein Körper spinnen. Ich musste sie so schnell wie möglich nach Hause bringen.

Vanessa hatte anscheinend nichts von meinem Stehenbleiben mitbekommen, schmiegte sich enger an mich, als ich wieder anfing zu laufen. Ihre kleinen Finger klammerten sich fest an mein Shirt, als würde sie befürchten ohne diesen Halt um zufallen. Sie musste wirklich viel getrunken haben, dass sie in so eine Verfassung geriet.

Mein Atem stockte als die dann auch noch ihr Gesicht in meine Halsbeuge vergrub, ihre langen Haare legten sich dabei wie schwarze Seide um meinen Arm.

„Mh, du riechst so viel besser als die anderen Fußballer." Sagte sie so leise, dass ich sie beinahe nicht verstanden hätte. Doch ich hatte sie gehört, wusste nicht wie ich ihre Worte deuten sollte. Sie war betrunken, da sagte man viele unbedeutende Sachen.

„Nik", sie umarmte mich mit mehr Druck. „Ich sollte jetzt schlafen." Alarmiert erhöhte ich meine Geschwindigkeit, ihre Arme legten sich immer kraftloser um meinen Körper, sodass ich Angst bekam, sie würde hier und jetzt einschlafen.

„Du musst noch ein bisschen durchhalten. Wir sind gleich da." Versuchte ich sie wach zu halten, doch sie entglitt mir immer mehr aus meinem Griff. Scheiße. Ich konnte sie schlecht einfach auf der Straße schlafen lassen.

„Ich bin aber so schrecklich müde." Ihre Stimme glich einem Piepsen und ohne weiter nachzudenken, legte ich meine Hände unter ihre Beine, hob sie langsam hoch und trug sie die restlichen Meter zum Haus.

„Halt dich an meinem Nacken fest." Befahl ich ihr streng, damit sie nicht runterfiel. Sie tat, was ich ihr sagte, legte ihren Kopf an meine Schulter, sodass ich ihren süßlichen Duft einatmete.

Vor der Haustür blieb ich stehen, stellte Vanessa vorsichtig auf ihre Beine, stützte sie jedoch dabei mit einem Arm und war gewollt zu klingeln, da fuhr ihr Kopf ruckartig nach oben.

„Nicht." Sagte sie jetzt deutlich lauter. Fragend sah ich sie an. Irgendjemand musste sie schließlich in ihr Bett bringen.

„Bitte, nicht klingeln." Während sie sprach, kramte sie in ihrer Hosentasche rum, suchte offensichtlich ihren Schlüssel. Nach einiger Zeit fiel dieser klirrend zu Boden, schnell bückte ich mich, hob ihn auf und sperrte mit einer Hand die Tür auf. Der Eingangsbereich lag im Dunkeln, sowie das Wohnzimmer und die Küche. Ich nahm all meinen Mut zusammen, streifte Vanessa die Schuhe von den Füßen und dirigierte sie zur Treppe. Davor blieb ich stehen, blickte die vielen Stufen hinauf, dann auf Vanessa, die wie ein nasser Sack in meinem Arm hing.

Kurzerhand nahm ich sie wieder auf meine Arme, schaffte sie somit schnell die Treppe hinauf und versuchte so leise wie möglich, ihre Zimmertür aufzubekommen. Mit dem Ellenbogen drückte ich die Klinge nach unten, stieß gegen das Holz und stand im nächsten Moment mit Vanessa auf den Armen in ihrem Zimmer. Ein großes Bett prangte vor mir, sowie ein großer Kleiderschrank zu meiner Rechten. Die Wände waren anders als bei mir, übersät mit Postern von mir unbekannten Bands. Am liebsten hätte ich mir Zeit genommen und diese genauer betrachtet, doch dafür war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.

Darauf bedacht langsame Bewegungen zu machen, legte ich Vanessa mitten auf ihr Bett. Sie hatte die Augen geschlossen, behielt ihre Arme jedoch fest um meinen Nacken geklammert.

„Du musst loslassen, Vanessa." Sagte ich leise zu ihr, ihre Hände bewegten sich jedoch keinen Millimeter. Ich wartete noch einen Moment, dann löste ich sie von meinem Hals, legte sie neben ihren schlaffen Körper und entfernte mich vom Bett. Kurz nahm ich ein kleines Frösteln ihrerseits wahr, näherte mich wieder um die Decke über sie zu legen.

Als ich auf die Tür zu steuerte, zeigte ihre Uhr 5:00 an. Ich sollte so schnell wie möglich aus diesem Haus kommen, bevor mich noch jemand entdeckte.

Ehe ich jedoch aus dem Zimmer treten konnte, nahm ich Vanessas leise Stimme wahr.

„Bitte, verrate niemandem hiervon." Bat sie mich und als würde sie mir nicht vertrauen setzte sie ein weiteres Bitte hinterher.

Ohne eine Antwort verließ ich den Raum, schloss leise die Tür und ging ebenso leise die Treppe hinunter. Auf dem Heimweg versuchte ich eine Entscheidung zu treffen, ob ich Joint davon erzählen sollte oder nicht. Er war schließlich mein bester Freund, doch Vanessa schien es wichtig zu sein, dass es niemand erfuhr. Als ich meine eigene Haustür aufsperrte, wusste ich, dass Vanessa auf mich zählen konnte, egal wer ihr Bruder für mich war. Hegte dabei aber die Hoffnung, dass ihr heutiger betrunkener Zustand nur ein einmaliger Ausrutscher war, und sie sonst nicht so viel trank.

Unterbewusst kannte ich jedoch die Wahrheit, nahm sie zu diesem Zeitpunkt nur noch nicht wahr.

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