Kapitel 37
Vanessa
„Sicher, dass du nicht noch ein paar Tage hierbleiben kannst?" fragte ich Lisa, als sie ihren Koffer aus dem Kofferraum hievte. Mit einem traurigen Blick blieb sie vor mir stehen.
„Es tut mir Leid, Süße." Ich kannte ihre Antwort leider schon. „Ich werde dich öfter besuchen kommen, ja?"
Ich brachte kein Wort heraus, also nickte ich und schloss sie in eine Umarmung. „Du wirst mir fehlen."
„Du mir auch, Vani. Und danke, dass du mich zum Flughafen gebracht hast."
„Mach ich doch gerne."
„Achja", sie löste sich von mir. „Rede mit Niklas. Er wird es verstehen." Obwohl ich daraufhin wieder nickte, war ich mir gar nicht sicher, ob ich mich Niklas stellen konnte. „Und richte deinem Bruder aus, dass er sich gefälligst um dich kümmern soll!" Ihr plötzlicher Stimmungswandel brachte mich zum Schmunzeln.
„Ich denke ich richte ihm lieber schöne Grüße von dir aus, da du ihn ja das ganze Wochenende ignoriert hast."
Bei meinen Worten verzog sie das Gesicht. „Wenn's unbedingt sein muss." Jetzt lachte ich laut auf. Noch einmal fiel ich ihr um den Hals.
„Machs gut, Lisa."
„Du auch, Vani."
Als sie sich auf den Eingang zubewegte, konnte ich es verdächtig in ihren Augen glitzern sehen. Auch ich musste um meine Beherrschung ringen, nicht in Tränen auszubrechen. Einige Minuten schaute ich ihr noch hinterher, dann stieg ich wieder ins Auto und fuhr nach Hause. Ich musste den Wagen meiner Eltern so schnell wie möglich wieder zurück bringen. Ich hatte ihn ohne ihre Erlaubnis genommen, aber ich konnte Lisa auch nicht alleine zum Flughafen gehen lassen, da ihre Mutter keinen Führerschein besaß. Da war der aufkommende Streit mit meinem Vater es wert gewesen. Und der folgte bestimmt.
Als ich unser Dorf erreichte, dämmerte es schon. Ich passierte, die Kneipe, in der ich mit Lisa getanzt hatte, die Tankstelle, in der ich schon zum Stammkunden zählte und den Sportplatz, auf dem alles begonnen hatte. Bei dem Feld ließ ich das Auto langsamer werden, da ich eine Person auf dem Rasen entdeckte. Ohne näher hinfahren zu müssen, wusste ich wer dieser Jemand war. Wie er geschmeidig Anlauf nahm und den Ball im Tor versenkte. Diese Bewegungen waren mir so vertraut, dass mich eine Sehnsucht erfüllte, die ich noch nie zuvor gespürt hatte. Ich wollte eigentlich nicht anhalten, doch der Drang seine Stimme noch einmal zu hören, ihn noch einmal zu berühren, überwieg und ich schaltete den Motor ab. Ich hatte hinter dem Sportheim geparkt, sodass er meinen Wagen nicht sehen konnte. Wie magisch angezogen von ihm, bewegte ich mich auf ihn zu. Während ich mich ihm weiter näherte, schoss er immer noch unzählige Bälle in den großen Kasten. Als ich das letzte Mal hier war, hatte ich ihm etwas aus meinem Leben anvertraut und das konnte ich wieder tun. Hier und jetzt werde ich ihm alles erklären und er wird mich anhören. Ja. Entschlossen ballte ich meine Hände zu Fäusten, stieg über die Bande und blieb neben dem Tor stehen. Als er mich entdeckte, konnte ich in seinem Blick Überraschung aufflackern sehen.
„Vanessa"
Es war mehr eine Feststellung denn eine Frage. „Was willst du hier?"
„Ich wollte dich sehen." Ich schaffte das.
„Hör auf damit!" Sein Ärger war unüberhörbar.
„Ich bin gekommen, um dir alles zu erklären."
„Was gibt es da noch zu erklären?" Er hatte aufgehört mit den Bällen zu schießen, machte einige Schritte nach vorne, und versuchte an mir vorbei zukommen. Ich hatte mit dieser Reaktion gerechnet, also schoss ich schnell nach vorne und konnte ihn gerade noch am Arm erwischen.
„Bitte, gib mir eine Chance."
Das hatte gewirkt. Bei meinen Worten, drehte er sich zu mir um, nahm jedoch einigen Abstand zu mir. Ich durfte mich davon nicht beirren lassen. Mit hochgezogenen Augenbrauen forderte er mich dazu auf, weiter zu reden. Ok, gut. Ich packte das.
„Ich kann nicht abstreiten, dass ich deine Handynummer hinter deinem Rücken genommen habe. Doch du musst mir glauben, dass ich sie wirklich nicht weitergeben wollte. Ich habe gemerkt, dass es dir gegenüber unfair wäre. Ich weiß, wie sehr du es hasst, mit anderen Mädchen verkuppelt zu werden."
Ich machte eine Pause, und sah ihn an. Sein Blick war so verschlossen, dass es mich dabei fröstelte. Er glaubte mir kein Wort.
„Je mehr Zeit ich mit dir verbracht habe, desto weniger ertrug ich den Gedanken, dass du dich mit einem anderen Mädchen triffst."
„Du hast mich ausgenutzt, Vanessa. Dein Ruf war dir wichtiger als ich."
„Nein! Das stimmt so nicht." Ich suchte verzweifelt nach den richtigen Worten.
„Warum hast du mich dann geküsst? Warum bist du zu mir gekommen?"
„Weil ich..." Seine Augen fixierten mich. „Ich habe wirklich mein bestes versucht, dich nicht zu verletzen. Ich weiß, dass ich in diesem Punkt versagt habe, aber in der Nacht, als ich in dein Zimmer gekommen bin, warst du der Einzige, der für mich zählte."
Er schnaubte abfällig. „Wie oft habe ich das schon gehört. Wirst du mir jetzt gleich sagen, dass alles was du zu mir gesagt hast, echt war und du mich nicht absichtlich verletzt hast?" Er sah mich an, doch ich konnte auf seine harten Worte nichts erwidern. „Darauf kann ich verzichten!" Angst packte mich, als er sich zum Gehen abwandte. Er durfte noch nicht gehen, so sollte dieses Gespräch auf keinen Fall enden. Mein Blick fiel auf seine Mütze, die er jetzt fester an seinen Kopf zog. Wieso konnte er sie denn nicht absetzen? In meiner Gegenwart hatte er sie schon öfter nicht auf, und musste sie nicht ständig auf sich haben. Was auch immer in der Vergangenheit vorgefallen war, ich wollte seine Beweggründe verstehen, warum er sich unter einem Kleidungsstück versteckte. Um ihm davon abzuhalten, sich weiter von mir zu entfernen, sprach ich den ersten Gedanken laut aus, der mir in den Kopf kam.
„Ich kenne dich doch gar nicht wirklich! Du hast mir nie erzählt, was in der Vergangenheit mit dir geschehen ist!" Als ich meinen Satz beendet hatte, schaute er mich kurz an. Seinen Gesichtsausdruck konnte ich immer noch nicht deuten.
Ein weiteres Mal wandte er sich von mir ab, doch dann entschied er sich um, und drehte sich wieder zu mir. Einen Schritt auf mich zukommend, machte er den Mund auf.
„Du willst wissen, was vor ein paar Jahren geschehen ist?" Er ließ mich nicht zu Wort kommen. „Nachdem mir die Ärzte gesagt haben, dass mir wohl nie wieder in meinem Leben Haare wachsen würden, brach meine Welt zusammen. Bei mir wurde die Krankheit alopecia areata universalis, die einen kompletten Haarausfall verursacht. Davon sind nicht nur die Kopfhaare, sondern auch Wimpern, Augenbrauen und die komplette Körperbehaarung betroffen. Die Erkenntnis, dass ich für immer mit einer Glatze und ohne Augenbrauen rumlaufen musste, und das mit 15 Jahren, traf mich mit so einer Wucht, dass ich zuerst anfing meinen Körper dafür zu hassen. Monatelang hatte ich mich in meinem Zimmer eingeschlossen, traute mich nicht mehr in die Öffentlichkeit, zu sehr schämte ich mich. Zu meinem Pech, dachte ich damals noch, dass mich meine Freundin wirklich von ganzen Herzen lieben würde, und mich wegen den Umständen nicht verlassen würde. Mir in dieser schweren Zeit beistehen würde, doch es kam alles ganz anders. Der schlimmste Tag in meinem Leben war auf einer Feier, auf die sie mich schleppte. Dort wurde ich angeglotzt, beschimpft oder einfach ignoriert, als wäre mir ein zweiter Kopf gewachsen. Keine Sekunde länger hätte ich es mehr mit diesen oberflächlichen Leuten ausgehalten, von denen ich dachte, dass sie meine Freunde wären. Aber meine eigene Freundin hatte etwas anderes mit mir geplant." Zitternd atmete er die kühle Nachtluft ein.
„Mitten auf der Party stellte sie mich bloß, sagte mir, dass sie nicht mit einem hässlichen Jungen ohne Haare ausgehen konnte. Dass sie ja auf ihren Ruf achten musste. Das Gespräch zwischen uns hatte jeder mitbekommen, doch anstatt auf meiner Seite zu stehen, lachten mich alle bloß aus. Und ab da wurde es noch schlimmer. Ich konnte nicht mehr in die Schule gehen, ohne als Glatzkopf, Alien oder Nacktmull beschimpft zu werden. Sogar Perücken habe ich ausprobiert, doch da wurde ich nur noch mehr komisch angeguckt. Als einige meiner Mitschüler so weit gingen, dass sie mich nicht nur ausgrenzten, sondern auch bei jeder Gelegenheit mich mit Müll bewarfen, brachten mich meine Eltern auf ein Internat, auf dem ich dann mein restliches Schulleben blieb. In dieser Zeit hatte ich meine ganze Selbstachtung verloren, ich hatte monatelang kein Wort gesprochen, konnte mich niemandem anvertrauen. Zum Glück hatte ich deinen Bruder, der mir in dieser schwierigen Zeit beiseite stand. Verdammt, er hatte sich ebenfalls die Haare abrasiert, um mir zu beweisen, dass ich mich dafür nicht schämen musste."
Als ich aufblickte, sah ich seine Augen feucht glitzern. Seine Worte überwältigten mich, seine Ehrlichkeit brachte mich völlig aus der Fassung.
„Ich habe Menschen vertraut, die mich dann auf brutale Weise enttäuschten. Und das will ich nicht noch einmal durchmachen." Jetzt sah er mich traurig an. Bei seinem Blick, schnappte ich laut nach Luft, alles in mir zog sich schmerzhaft zusammen. Ich hatte keine Ahnung, was er alles durchmachen musste. Das starke Bedürfnis ihm ein Stück von der Last abzunehmen, veranlasste mich dazu, ihm um den Hals zu fallen. Er versteifte sich für einen kurzen Moment, doch ich drückte ihn nur noch fester an mich.
„Es tut mir so leid. Ich ... ich" Als meine Stimme versagte, schlang er endlich seine Arme um mich. Ich konnte seinen warmen Atem an meiner Schulter spüren. Wir blieben für einige Minuten schweigend stehen. Alles was ich wahrnahm, war sein pochender Herzschlag. Wie konnte ich ihn nur so verletzen? Wie konnte ich so grausam sein wie seine Mitschüler? Dabei fühlte ich mich bei ihm so vollkommen, so ausgefüllt, dass ich ihn nie wieder loslassen wollte. Bevor ich mich versah, löste Niklas sich von mir, und mir wehte kalte Luft entgegen. Ich wollte nicht, dass er sich von mir entfernte. Ich wollte nicht, dass dieser emotionale Moment endete.
„Wieso bist du hergekommen, Vani?" Sein Gesichtsausdruck wirkte jetzt viel weicher. Nein. Dieses vertraute Gefühl sollte noch nicht enden. Mit beiden Händen umfasste ich sein Gesicht und legte meine Lippen auf seine. Er zuckte bei der Berührung erschrocken zusammen. Stöhnte jedoch in der nächste Sekunden auf, und schlang seine Arme um meinen Rücken. Er küsste mich mit der gleichen Leidenschaft, wie ich ihn. Als ich meinen Mund öffnete, verlor er seine Beherrschung und schob mich sachte nach hinten gegen den Torpfosten. Eine lavaartige Hitze durchströmte mich, während er sich mit seinem ganzen Körper gegen mich presste. Das Gefühl wie sich seine Hüfte gegen meine drückte, fühlte sich phantastisch an. Ich vergaß alles um mich herum. Noch nie hatte ich mich so begehrt gefühlt wie in diesem Moment. Doch als ich meine Zunge gegen seine schnellen ließ, zog er sich augenblicklich zurück. Enttäuscht darüber, öffnete ich die Augen.
„Sag, dass du mich vermisst hast." Was?
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