Kapitel 30
Niklas
Scheiße, ich hatte alles vermasselt. Ich wollte Vanessa nicht verletzen, nicht nach diesem atemberaubenden Kuss. Doch als mir mein bester Freund eine verpasst hatte, sind mir die Worte einfach rausgerutscht. Verdammt. Ich wollte keinen von beiden verletzen. Bevor ich noch etwas zu ihr erwidern konnte, stürmte Joint mit hastigen Schritten an uns vorbei. Im letzten Moment erwischte ich ihn an seiner Jacke, doch er machte einen wütenden Satz nach vorne, und sie glitt mir genauso schnell wieder aus der Hand.
„Du bist für mich gestorben." Ich sah zu wie er in sein Auto stieg und davon brauste. Was hatte ich erwartet? Dass er mir freudig um den Hals fallen würde?
„Geh ihm hinter her. Er ist dein bester Freund." Erschrocken von ihrer gleichgültigen Stimme fuhr ich herum. „Das ist mehr wert, als das, was zwischen uns kurz lief." Sie versuchte sich an mir vorbei zuschieben.
„Sag das nicht!" Ich hinderte sie am Gehen.
„Es ist die Wahrheit" Während sie sprach, rollte ihr eine Träne die Wange hinab. Die Tatsache, dass ich derjenige war, der sie zum Weinen gebracht hatte, verursachte mir mehr Schmerzen, als es jeder Faustschlag hätte tun können. „Ich kenne dich nicht mal richtig."
„Doch das tust du." Mit meinem Daumen berührte ich sie vorsichtig an der Wange, um ihr die Träne weg zu wischen. Sie schloss kurz die Augen, schüttelte dabei aber den Kopf.
„Nein." Sie wich einen Schritt zurück, und sah mich an. Bei ihrem endgültigen Ausdruck in den Augen, wurde mir bewusst, dass ich nichts mehr hätte tun oder sagen können, um sie umzustimmen. „Das mit uns hätte sowieso nicht geklappt." Ich schluckte gegen den Kloß in meinem Hals an. Sie ließ mich noch nicht einmal antworten, da ging sie auch schon an mir vorbei, die Straße entlang. Ohne ein weiteres Wort ließ sie mich einfach alleine zurück.
Bis dahin hatte ich den Schmerz an meiner Schläfe gar nicht gespürt, welcher mich jetzt zu übermannen drohte. Nein. Nein. Nein. Die Stille, die mich auf einmal umgab, machte mir erst so richtig bewusst, was ich angestellt hatte. Ich hatte niemanden mehr. Mein bester Freund hasste mich. Und das Mädchen, für das ich tiefere Gefühle entwickelt hatte, wollte nichts mehr mit mir zu tun haben. Mit dem Handrücken wischte ich mir über den Mund. Ich hatte mir bei dem Schlag unabsichtlich auf die Lippe gebissen, und das machte sich jetzt durch Blut bemerkbar. Ich durfte sie beide nicht verlieren. Das durfte ich einfach nicht zulassen. Als ich jedoch am Spielfeldrand ankam, rannte ich einfach drauf los. Mit jeder Runde wurde ich immer schneller. Es fühlte sich fast so an, als würde ich um mein Leben rennen, nur das meine immer wiederkehrenden Schuldgefühle mich in der Realität festhielten. Nach einer Weile schmerzten meine Beine so sehr, dass sie schon anfingen zu zittern, doch ich hörte nicht auf. Die kalte Luft brannte in meinem Hals, als würde sie mir den Schmerz bereiten, den ich verdient hatte. Meine Geschwindigkeit steigerte sich immer weiter, bis ich schließlich einknickte und mich mit beiden Händen auf dem Rasen abstützen musste.
Vanessa
„Das hat er nicht wirklich getan oder?" Wie betäubt starrte ich in das Gesicht meiner besten Freundin. Nach dem Kuss hatte ich keine Ahnung, wohin ich gehen oder was ich tun sollte. Am liebsten wäre ich zurück gerannt und hätte Niklas alle möglichen Schimpfwörter, die mir eingefallen wären, an den Kopf geworfen, doch anstatt meine Wut über ihn und meinen blöden Bruder rauszulassen, konnte ich nur stumm dasitzen. In meinem Kopf schwirrten die Gedanken nur so herum, dass ich mich zusammenreißen musste, um nicht dagegen zu schlagen. Ich konnte immer noch nicht glauben, dass sich der Kuss so wundervoll aber gleichzeitig auch so grausam angefühlt hatte. Was musste ich in meinem früheren Leben getan haben, um jetzt so ein schlechtes Karma zu bekommen?
„Oh, Süße. Das tut mir so leid." Lisa legte mir vorsichtig einen Arm um die Schulter und das Bett gab unter meinem Hintern leicht nach, sodass ich näher zu ihr rutschte. Ich war gerannt, bis meine Tränen auf meinen Wangen getrocknet waren. Erst dann hatte ich mich auf den Weg zu meiner Freundin gemacht. Mit irgendjemanden musste ich darüber reden, sonst würde ich wieder zu einem Mittel greifen, das mir half zu vergessen.
„Männer können solche Schweine sein!" Ihre Worte versetzten mir einen Stich. Ich wusste auf wen sie noch anspielte. Ich war mir immer noch nicht zu hundertprozentig sicher, was damals zwischen ihr und meinem Bruder gelaufen war. Sie hatte mir nur einen Teil erzählt, bei dem sie sich wegen irgendwas gestritten hatten, doch den anderen hatte sie verschwiegen, was wahrscheinlich auch besser so war. Ich konnte jetzt nicht noch mehr Gründe brauchen, um meinem Bruder eine rein zu hauen. Dabei würde ich ganz klar verlieren. Bei dem Gedanken schoss mir das Bild von Niklas blutiger Lippe in den Kopf. Das hatte er nicht verdient. Was? Nahm ich ihn jetzt wohl schon in Schutz? Oh Gott, mir wurde bewusst, wie tief ich schon in dieser Beziehung steckte. Viel zu tief.
„Was möchtest du jetzt tun, Süße?" Lisas sanfte Stimme holte mich in die Realität zurück.
Langsam zuckte ich mit den Schultern. Es gab etwas, was mir in so einer Situation geholfen hätte, doch ich hatte mir seit dem Blackout mit Markus geschworen, mich etwas zurück zuhalten.
„Hmm." Eine Zeit lang musterte sie mich eingehend. „Lass uns einen drauf machen! Nur wir beide!" Sie stand mit so viel Schwung auf, dass ich fast vorne überkippt wäre. Mit einem strahlenden Lächeln schaute sie mich an. „Vergiss den Typen! Jetzt zählt nur noch unsere Freundschaft!" Ihre Worte brachten mich ebenso zum Lächeln. Sie hatte Recht. Ich sollte nicht in meinem Selbstmitleid versinken, und Niklas beweisen, dass die Sache zwischen uns mich nicht aus der Fassung bringen konnte. Ich nickte ihr kurz zu. Das genügte ihr als Antwort, und verschwand in ihrem begehbaren Kleiderschrank.
„Warte!" Ich schlug mir mit der flachen Hand auf die Stirn. „Heute ist doch Samstag oder?" Als wäre ich nicht ganz bei Trost, steckte sie den Kopf aus dem Schrank raus und sah mich verwirrt an.
„Ich habe Markus versprochen, heute Abend etwas mit ihm zu unternehmen."
„Mögen wir Markus?" fragte sie mich mit einem strengen Blick.
„Natürlich. Er ist wirklich nett."
„Na dann, wenn er nicht so ein Arsch wie sein Bruder ist, kann er ja mit uns kommen." Sie drehte sich wieder um und fing leise an zu pfeifen. Um diesen Abend überstehen zu können, brauchte ich mehr als nur eine gute Laune. Schnell schrieb ich Markus eine SMS, dass wir heute zu dritt unterwegs wären, und gesellte mich zu meiner Freundin, um das perfekte Outfit raus zu suchen.
Nach einer Stunde und gefühlt tausend Klamotten, hatten wir beide unser Ausgehoutfit entdeckt und machten uns auf zu Markus. Eigentlich wollte ich es nach dem Tag vermeiden, auch nur in die Nähe dieses Hauses zu kommen, doch Markus wollte mit uns laufen, und naja ich dachte nicht, dass er den Zwischenfall mit Niklas und mir erfahren hatte. Ich wollte es auch nicht an die große Glocke hängen, also blieb mir nichts anderes übrig.
Ich bemerkte, dass mich Lisa genau beobachtete, als wir vor dem Haus mit den grünen Fensterläden stehen blieben.
„Ich halte das schon aus." Meine Stimme richtete sich zwar an sie, doch meine Augen konnten sich nicht von der Haustür entfernen. Was ist, wenn er uns aufmachte? Wie würde ich ihm nach meinem Abgang noch in die Augen schauen können?
„Vani?" Ich blinzelte. „Soll ich klingeln?"
Sofort schüttelte ich den Kopf. Dann ging ich einen Schritt nach vorne und betätigte die Klingel. Nach nicht mal einer Minute öffnete sich die Tür langsam. Erleichtert entspannte ich mich, als ich Markus fröhliches Grinsen sah. Gott sei Dank, war er es.
„Hey, Mädels." Er sah zwischen mir und Lisa hin und her.
„Achja, Markus, das ist Lisa." Stellte ich ihm meine beste Freundin vor.
„Ja! Lisa!" Er setzte einen überraschten Blick auf. „Wow. Dich hätte ich jetzt echt nicht erkannt."
„Du hast dich aber auch ganz schön verändert." Sie ging auf ihn zu und umarmte ihn. Aus dem Augenwinkel konnte ich eine Bewegung im Inneren des Hauses ausmachen und versteifte mich sofort.
„Lasst uns losgehen." Mit meinen Worten drehte ich mich um, weg von der unbekannten Gestalt und ging die Straße entlang. Meine Gefühle drohten bald überzulaufen, wenn ich nicht bald etwas dagegen unternehmen würde.
„Vani, alles in Ordnung?" Markus und Lisa folgten mir mit schnellen Schritten.
„Ja, ich brauche nur endlich was zu trinken." Meine Beine trugen mich schon automatisch zur Tankstelle. Ich wartete nicht auf die anderen, sondern begab mich gleich in den kleinen Laden. Nach ein paar Minuten kam ich mit einer Vodkaflasche wieder heraus und hielt sie den anderen hin.
„Oh wow. Also lassen wir es heute wirklich krachen?" Markus schaute mich amüsiert an.
Lisa ergriff als erste die Flasche und nahm einen Schluck davon. „Heute gibt es kein Halten mehr!" Sie kicherte bei ihren Worten und überreichte den Alkohol an Markus weiter. Dieser inspizierte den Inhalt zuerst etwas skeptisch, dann setzte er aber an und trank davon. Nachdem er getrunken hatte, schüttelte ihn ein Hustenanfall und Lisa und ich mussten lachen. „Das wird echt hart heute." Er stimmte in unserem Lachen mit ein. Dann war ich an der Reihe. Ich zögerte nicht eine Sekunde und ließ die Flüssigkeit meinen Rachen hinab laufen. Das angenehme brennende Gefühl endete in einer wohligen Wärme in meinem Inneren.
Lisa starrte mich entsetzt an, als ich die Flasche wieder absetzte und etwas weniger als die Hälfte des Inhalts verschwunden war. Sie wollte schon etwas erwidern, da kam ihr Markus zuvor.
„Und wo lassen wir heute die Sau raus?" Ich wartete ab, bis Lisa ihm antwortete, doch diese schaute mich immer noch an. Ok. Dann musste ich wohl endlich den Mund aufmachen.
„Wir gehen in meine Stammkneipe. Die ist gleich die Straße runter." Ich deutete in die Richtung und wir setzten uns in Bewegung. Am Anfang ließ ich einen kleinen Abstand von den beiden und genehmigte mir noch einen Schluck. Schon nach dem ersten Berühren mit der Flüssigkeit, waren meine guten Vorsätze wie weg geblasen. Es fühlte sich einfach zu verlockend an, wenn das Pochen des Schmerzes in meiner Brust gedämpft wurde. Dieses Gefühl überwiegte gerade.
Nach drei Stunden und viel, viel mehr Alkohol, sah ich zu den beiden rüber. Sie wollten gerade zum Billardtisch gehen, als Lisa beim Aufstehen leicht schwankte, und Markus sie stützen musste. Bei ihrem dritten Cocktail hatte sie aufgehört mich bei jedem meiner Bewegungen zu beobachten und ließ sich endlich gehen. Jetzt sah ich ihnen hinterher, wie sie sich vor lauter Lachen nicht mehr halten konnten und fast umflogen. Als wir an der Kneipe angekommen waren, hatte ich die gekaufte Flasche schon geleert. Auch jetzt hatte ich mehr getrunken als die beiden, doch die bekannte Wirkung des Rausches wollte nicht einsetzen. Noch immer hatte ich die Szene vom Fußballplatz vor meinem inneren Auge. Noch immer konnte ich die federleichte Berührung von Niklas Lippen auf meinen spüren. Ich wollte ihn doch nur für ein paar Stunden vergessen. Stattdessen saß ich in einer Kneipe und sah meinen einzigen Freunden dabei zu, wie sie Spaß hatten.
„Ahh ich liebe diesen Song!" hörte ich Lisa quieken. Kurz darauf zerrte sie an meinem Arm und versuchte mich vom Barhocker zu ziehen. Da sie sowieso schon so wackelig auf den Beinen war, kippte sie bei ihrem Vorhaben fast selbst um. Als sie nicht aufgab, musste ich über ihre Willenskraft schmunzeln und ließ mich zu Markus führen, der schon wild am Tanzen war.
„Vergiss ihn und amüsiere dich endlich!" raunte sie mir zu, bevor wir bei Markus ankamen. Ich konnte froh darüber sein, dass ich die beiden hatte. Sie waren das Einzige in meinem Leben, was mir wichtig war und mit ihnen durfte ich es echt nicht vermasseln.
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