Kapitel 24

Vanessa

„Was soll das heißen, du gibst sie mir nicht?" Wütend starrte Michelle mich an.

„Was gibt es da nicht zu verstehen?" Ich hatte keine große Lust mich mit ihr zu streiten.

„Oh mein Gott. Wie konnte ich nur so blöd sein und dir vertrauen?" Mit funkelnden Augen gab sie mir ihre Wut zu spüren. Bei ihren Worten musste ich schlucken. Ich hatte ihr zugesagt, doch jetzt brachte ich es nicht über mich, ihr Niklas Nummer zu geben. Allein schon der Gedanke daran, dass die beiden SMS hin und her schicken, brachte mich um.

„Die Leute haben wirklich recht mit dir. Du bist zu nichts zu gebrauchen." Ihre Stimme wurde immer lauter. Mit großer Mühe ließ ich ihre Worte an mir abprallen. Sie hatte auch nur mit Hintergedanken mit mir gesprochen. Ich war ihr doch völlig egal.

„Wenn du damit fertig bist, könntest du dann bitte gehen? Ich möchte wirklich nur ungern noch mehr Unterrichtsstoff verpassen." Gleichgültig drehte ich mich weg und starrte nach vorne auf die Tafel, wo die Dozentin gerade die Eigenschaften eines Romans erklärte.

„Das ist jetzt nicht dein Ernst oder?" Sie schnaubte.

Mit einer Handbewegung machte ich ihr deutlich, dass sie verschwinden sollte.

„Bitch!" Sie zischte das Wort gerade laut genug, dass ich sie hören konnte. Nicht provozieren lassen, Vanessa. Das ist sie nicht wert. Ohne etwas zu erwidern, widmete ich mich meinen Aufzeichnungen. Zu spät bemerkte ich, wie sie an mir vorbeigriff. Bevor ich sie aufhalten konnte, hatte sie mein Handy in der Hand. Da ich gerade Musik hörte, brauchte sie es auch nicht zu entsperren und hatte vollen Zugang auf meine Kontakte.

„Scheiße!" Schnell sprang ich auf, doch sie flüchtete im selben Moment einen Schritt zurück. „Michelle, gib es mir verdammt noch mal wieder." Ich hechtete auf sie zu, doch sie kam mir zuvor und war schon auf dem Gang. Verdammt! Das hätte ich nicht von ihr erwartet. Sie war wirklich zu allem bereit. Ich durfte nicht zulassen, dass sie sich die Nummer holte. Doch als ich ihr zufriedenes Lächeln bemerkte, ließ ich die Arme frustriert sinken. Sie hatte sie schon. Ich konnte nichts mehr dagegen tun. Missbilligend schnalzte sie mit der Zunge. „Das wirst du noch bereuen." Mit einem einzigen Wurf, schleuderte sie mir mein Handy entgegen. Ich musste mich ducken, sonst hätte es mich am Kopf getroffen. Immer noch geschockt über ihre Aktion, blieb ich für einen Moment an Ort und Stelle stehen.

„Würden die Damen in der hinteren Reihe ihre privaten Angelegenheiten außerhalb meiner Vorlesung fortführen." Erst jetzt bemerkte ich, dass alle Augen auf mich gerichtet waren. Michelle war schon längst über alle Berge. Dafür schenkte mir die Dozentin einen bitterbösen Blick. Entschuldigend hob ich mein Handy auf und ließ mich auf meinen Stuhl gleiten.

Fuck! Ich war sowas von erledigt.

Mit einem unguten Gefühl machte ich mich auf den Weg nach Hause. Wie konnte ich es nur so weit kommen lassen? Markus wird mich umbringen. Ich hätte seine Gutmütigkeit nicht ausnutzen dürfen. An Niks Reaktion wollte ich noch weniger denken. Wenn er herausbekäme, dass ich seine Nummer ohne sein Einverständnis einfach an einen Fremden weitergegeben habe, würde er mich bis zum Rest meines Lebens ignorieren. Wollte ich das nicht? Wütend verdrängte ich die Stimme in meinem Kopf. Ehrlich gesagt, wollte ich nicht, dass er mich hasste. Er war mit einer der einzigen Menschen, die mich nicht mieden, weil ich eine blöde Schlampe war. Ich musste verhindern, dass sie etwas richtig Dummes mit der Nummer anstellte. Auch wenn, das hieße, dass ich jemand in meine Schandtat einweihen musste.

Entschlossen fuhr ich am nächsten Tag nach der Uni nicht auf meine Straße, sondern fuhr mit  dem Fahrrad in die entgegen gesetzte Richtung.

Nach 10 Minuten blieb ich vor dem mir bekannten Haus stehen und atmete noch einmal tief durch, bevor ich die Klingel betätigte. Nach nicht mal einem weiteren Läuten, wurde mir auch schon die Tür geöffnet. Erleichtert stellte ich fest, dass es Markus Gesicht war, das mich überraschend anlächelte.

„Hey, ich dachte wir haben uns für Samstag verabredet."

„Hi. Ich weiß." Er ließ mich herein.

„Also was führt dich hierher?"

„Ich wollte mit dir über etwas sprechen."

„Oh, das hört sich ernst an." Mit einem interessierten Gesichtsausdruck, deutet er mir, mich zu setzten. Er tat es mir nach.

„Ich ... also..." Nervös zupfte ich den schwarzen Nagellack von meinem Fingernagel. Ich hatte mir gar keine größeren Gedanken darüber gemacht, wie ich das Gespräch bloß anfangen sollte. Jetzt stammelte ich nur so vor mich hin, und suchte nach den richtigen Worten.

„Geht es um meinen Bruder?"

Ich nickte knapp. „Ja. Ich habe Mist gebaut." Fragend schaute er mich an. „Schieß los."

„Aber bitte sei nicht böse auf mich, Ok?"

„Werde ich nicht, Vani. Mach dir keine Sorgen." Obwohl mich seine Worte aufmuntern sollten, machten sie mich noch nervöser. Ich war mir zu Hundertprozent sicher, dass er sauer auf mich sein wird, doch damit musste ich jetzt klar kommen.

„Du erinnerst, dich bestimmt noch, daran, als ich dich um die Nummer deines Bruders gebeten habe." Ich machte eine Pause und schielte kurz von meinen Fingernägeln zu ihm. Er sah mich ernst an. Oh Gott. In diesem Haus verlor ich echt meine Standhaftigkeit. So nervös war ich schon lange nicht mehr.

„Und ich habe dir auch von diesem Mädchen erzählt, dass sie unbedingt haben wollte. Nun, also dieses Mädchen ist eigentlich gar keine Freundin von mir." Bei meinen letzten Worten verschränkte er die Arme. „Ehrlich gesagt, kann ich sie auch nicht leiden. Und das ist mir erst später bewusst geworden und wollte ihr daher die Nummer nicht mehr geben."

„Und wo liegt jetzt das Problem?" Fragte er mich, als ich nicht weiter gesprochen hatte.

„Möglicherweise besitzt sie jetzt doch die Nummer."

„Möglicherweise?" er sah mich verwirrt an.

„Sie hat mein Handy genommen und sich die Nummer geholt." Gestand ich kleinlaut.

„Was?!" Er stand so abrupt auf, dass sein Stuhl gefährlich wackelte. „Wie konntest du das zulassen? Ich hab dir vertraut." Ein vertrauter Schmerz durchbohrte meine Brust.

„Ich habe mich doch um entschieden. Sie hat die Nummer quasi gestohlen."

„Das macht die Sache auch nicht besser, Vanessa."

Ich konnte seinen Ärger verstehen. „Das wollte ich doch nicht."

„Wieso hast du ihr dann zugesagt? Dir liegt gar nichts an Niklas Wohlergehen oder?"

Ich schluckte nervös. Mein Schweigen reichte ihm als Antwort. „Ich kann es nicht glauben. So warst du doch früher nicht." Seine Stimme ist wieder etwas leiser geworden und jetzt schaute er mich enttäuscht an. Da gefiel mir seine Wut wesentlich besser.

„Du musst es ihm sagen!"

„Was? Das kann ich nicht."

„Und ob du das kannst. Er ist mein Bruder, er verdient jemanden, der aufrichtig zu ihm ist." Er sprach jetzt leise. So bedrohlich hatte ich ihn noch nie erlebt. Ich hatte es wirklich verbockt. Sein verletzter Gesichtsausdruck machte mich wütend. Ich war wie mein Vater. Ständig musste ich Menschen verletzen. Kein Wunder, dass niemand etwas mit mir zu tun haben wollte.

„Er müsste bald kommen, dann kannst du es ihm sagen." Seiner Strenge nach zu urteilen, wäre es fatal gewesen, ihm zu widersprechen, also nickte ich bloß und blieb sitzen. Nach einer Weile eisigem Schweigen, ließ Markus sich mit einem Seufzer auf seinen Stuhl gleiten.

„Es tut mir leid, dass ich lauter geworden bin." Was? Fassungslos starrte ich ihn an. Er entschuldigte sich bei mir? Was war nur los mit diesem Typen?

Ich konnte keine Erwiderung finden, die nicht blöd geklungen hätte. Ich wusste nicht mal wie ich mit seiner Entschuldigung umgehen sollte.

„Was ist bloß aus dir geworden? Du hast du dich total verändert." Auf seine Musterung konnte ich nur die Schultern zucken. Er wollte noch etwas ergänzen, da ging die Haustür auf. Noch bevor ich jemand sehen konnte, wusste ich wer nach Hause kam. Niklas erschien in der Küche und bemerkte unsere Anwesenheit zuerst nicht. Er war wie magisch angezogen von seinem Handy. Mit schnellen Fingern tippte er darauf herum. Mit einem kurzen Nicken in seine Richtung machte Markus seine Aufforderung deutlich. Langsam stand ich auf und in diesem Moment blickte Niklas von seinem Handy auf und direkt in meine Augen. Sein Blau strahlte mir überrascht entgegen.

„Was macht ihr hier?" Obwohl er mit uns beiden sprach, sah er nur mich an. Ich schaff das. Doch bevor ich anfange konnte, stellte Markus sich neben mir.

„Vanessa und ich haben uns auf einen Kaffee getroffen." Was sollte das? Ich dachte er wäre sauer auf mich.

„Ich sehe keine Tassen." Niklas beäugte uns misstrauisch.

„Wir haben sie schon leer getrunken." Was redete Markus da bloß?

Als Niklas seinen Blick auf mich richtete, konnte ich dem nicht standhalten. Wieso war ich in seiner Gegenwart nur so schwach?

„Du wirkst so glücklich. Hattest du einen schönen Nachmittag?" Was? Hatte ich wohl etwas verpasst. Nach Markus Worten, richtete ich den Blick auf. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass Niklas glücklich aussah. Jetzt jedenfalls starrte ich in kein aufgeheitertes Gesicht. Bevor er seinem Bruder antwortete, warf er einen Blick auf sein Handy. Oh Gott. Ich hatte so eine Ahnung, wohin diese Unterhaltung führte.

„Ich hatte gerade ein Date." Ich wich einen Schritt zurück. Mit sowas hätte ich nicht gerechnet. Und ich dachte, dass mich Markus Wut aus der Fassung gebracht hatte. Jetzt durchbohrten Niklas Worte meine Brust  wie ein scharfes Messer. Als wäre das nicht schon genug, schüttete er mit seinem nächsten Satz noch Salz in meine Wunde.

„Es war wirklich schön mit Michelle." Während er sprach, hielt er meinen Blick die ganze Zeit gefangen. Wusste er, dass er mich getroffen hatte? Mein Körper war in seiner Nähe wie ausgewechselt. Das Gefühl, das seine Worte in mir auslösten, brachte meine Fassade, von dem unnahbaren Mädchen zum Bröckeln. Wieso war er derjenige, bei dem ich so die Kontrolle verlor?

„Das ist wirklich schön zu hören, nicht wahr, Vanessa?" Markus legte locker einen Arm um meine Schulter.

Kurz flackerte Wut in Niks Augen auf. Die hatte ich schon mal wahrgenommen. Er schloss darauf die Augen und als er sie wieder öffnete, war der Ausdruck darin verschwunden. Markus drückte zur Erinnerung gegen meine Schulter.

„Ja, das freut mich für dich." Viele widersprüchliche Gefühle spiegelten sich nach meinen Worten in seinen Augen.

„Und wann triffst du sie wieder?" Markus schien nur noch eine Randfigur in dieser Situation zu spielen. Während Niklas ihm antwortete, blieben seine Augen immer noch auf meine gerichtet. Wenn ich nicht wüsste, dass er sich gerade mit Michelle getroffen hatte, würde ich bei diesen Augen dahin schmelzen. Doch mit diesem Wissen, stach das Messer immer tiefer in meine Brust. Trotz meiner Schmerzen, konnte ich meine Augen nicht abwenden.

„Wir wollten morgen ins Kino gehen." Es ging so schnell zwischen den beiden.

Als hätte Markus meine Gedanken gelesen, erwiderte er: „Wow, das geht ja echt schnell zwischen euch. Diese Michelle muss ja echt was Besonderes sein."

Darauf folgte Schweigen seinerseits. Die Situation wurde mir immer unangenehmer. Gleichzeitig wollte ich aber auch wissen, wie weit es bei den beiden stand. Anstatt also weg zu rennen, blieb ich stehen und lauschte dem Gespräch. Doch alles was ich hörte war Stille.

„Na, dann, mach ich mich mal fertig fürs Training." Ich verfolgte, wie Niklas die Treppe hinaufstapfte und verschwand.

„Hast du gehört? Er ist glücklich." Markus drehte mich um, sodass ich ihn anschauen musste.

„Ja hab ich." Meine Stimme wirkte nicht so überzeugt wie seine.

„Ich finde bei diesen Umständen, müssen wir ihm das mit der Nummer gar nicht sagen."

Überrascht schaute ich ihn an. „Meinst du das ernst?"

„Ich habe ihn schon lange nicht mehr von einem Date kommen sehen. Anscheinend tut ihm dieses Mädchen gut."

„Ja anscheinend." Ich sah wieder zur Treppe. Wollte ich das nicht erreichen, als ich ihr zusagte? Wollte ich nicht, dass er sich jemand anderen zuwendete und ich mich ebenfalls wieder meinen altbekannten Sorgen widmen konnte?

„Alles in Ordnung mit dir, Vanessa?" Besorgt sah er mich an.

„Natürlich. Was soll sein?"

„Ich habe den Eindruck, dass du doch nicht so zufrieden über diese glückliche Fügung bist."

Zufrieden untertrieb es in allen Maßen.

„Was?" Ich lachte, „Ich freue mich für die beiden. Ein wahrgewordenes Traumpaar."

„Bist du dir sicher? Wir können es ihm auch sagen."

„Was soll die Fragerei, Markus?"

„Nichts. Ich dachte nur... „

„Was?"

„Dass du Niklas vielleicht doch gern hast." Mit einem schüchternen Lächeln schaute er mich an.

„Das ist Schwachsinn!" fauchte ich ihn an.

„Ihr konntet gerade nicht die Augen voneinander lassen!"

„Das bedeutet gar nichts, Markus. Und jetzt hör auf damit!"

Mit beiden Händen erhoben, trat er einen Schritt zurück. „Ok, schon gut. Ich werde es nicht mehr erwähnen."

Unsere Unterhaltung wurde von Niks Schritten unterbrochen. Mit einer Sporttasche bepackt, machte er sich auf den Weg zur Haustür. Als er die Treppe hinunterstieg, schaute er flüchtig zu mir. Nachdem er gegangen war, bedachte mich Markus mit einem wissenden Blick.

„Sag einfach nichts." Ich wusste selbst nicht, was da eigentlich zwischen uns lief.

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