Kapitel 18

"she's seen nothing but the concrete

the world has left her cold

she's been beaten bruised and broken

she's felt pain instead of love

inside she was an angel

but she never knew she was"


Honest - Thousand Foot Krutch


--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Niklas

„Kommt schon, Leute. Das können wir besser." Angestrengt lief ich zwischen den Sitzreihen hin und her. „Luis", Vor meinem Verteidiger blieb ich stehen, „Mach dich breiter. Dein Gegner zieht meistens rechts an dir vorbei, sei ihm einen Schritt voraus." Er nickte mir kurz zu und nahm einen Schluck von seinem Wasser.

„Joint." Mit verschränkten Armen stand ich vor meinem besten Kumpel. „Wach endlich auf. Du kannst nicht einen Ball bei dir behalten." Er antwortete mir mit einem leisen Grunzen. Bevor ich ihn weiter zusammen stauchen konnte, ertönte der Pfiff des Schiedsrichters. Die zweite Halbzeit war eingeläutet.

Laut klatschte ich ihn die Hände und alle erhoben sich. „Es ist noch nichts verloren. Wir können mit zweit Toren ausgleichen." Mit lauten Pfiffen und aufmunterten Rufen bestritten wir die zweite Hälfte.

Nach 45 Minuten wischte ich mir frustriert den Schweiß von der Stirn, meine Mütze klebte förmlich an meinem Kopf. Verdammt. Wir hatten verloren. Und das haushoch. 4:0. Unsere Ergebnisse wurden immer schlechter. Verdammt. Ich ließ meinen Blick schweifen und merkte, dass meine Teamkollegen entweder geknickt auf dem Rasen saßen oder wütend in die Kabine stürmten. Am liebsten hätte ich sie angeschrien, was nur los sei, doch das würde mir letztendlich nichts bringen. Stattdessen lief ich zu Joint, der mit hängendem Kopf vorm Tor saß.

„Hey, Mann" Ich klopfte ihm leicht auf die Schulter. „Nächstes Mal gewinnen wir."

Er schnaubte. „Das hast du auch schon das letzte Mal gesagt, Nik. Gibs zu, wir packen die Saison einfach nicht mehr."

„Jetzt gib bloß nicht auf." Ich umrundete ihn und blieb vor ihm stehen. „Man kann nicht immer gewinnen."

„Das sagt der Richtige." Sein Blick sprach Bände. „Du tickst doch gleich aus bei einer Niederlage."

„Ist es wegen dem, was ich in der Kabine gesagt habe?" Er blickte nicht zu mir auf. „Sorry, Mann. Ich wollte nur, dass du deinen Kopf ausn Arsch ziehst."

„Du bist n' Arsch, weißt du das?" Ein leichtes Schmunzeln lag auf seinem Lippen.

„Ich weiß." Ich streckte ihm meine Hand entgegen, er nahm sie und ich zog ihn auf die Beine.

„Nein, ehrlich, Joint. Was ist heute mit dir los? Du wirkst wie abwesend." Wir liefen gemeinsam zur Kabine.

„Nichts." Er blieb kurz stehen.

Dann atmete er frustriert aus und schloss wieder zu mir auf.

„Ach, es gab heute nur einen Streit daheim."

„Deine Eltern?"

„Naja, nein. Eher meine Schwester und mein Vater."

Interessiert drehte ich mich ihm zu. Vanessa hatte ein Problem?

„Was ist passiert?" fragte ich und versuchte dabei nicht allzu neugierig zu klingen.

„Das willst du nicht wirklich wissen, du weißt doch wie schwierig sie zurzeit ist." Er machte eine Vergiss-es-Handbewegung.

Was? Ich musste bei seinen Worten schlucken. Sprach er etwa gerade so über seine eigene Schwester? Automatisch ballte ich die Hände zu Fäusten. „Du weißt schon, dass sie deine Schwester ist, oder?" Meine Stimme war schneidend.

Verwirrt schaute er mich an. „Was ist denn jetzt mit dir los?"

Verdammt, ich musste mich beruhigen. Ungläubig über meine Reaktion, schüttelte ich den Kopf.

„Ich kann es mir bloß nicht bei ihr vorstellen, dass sie irgendetwas schlimmes anstellen würde."

„Das liegt daran, dass du sie nicht kennst. Sie ist nicht mehr die kleine, süße Vani von früher."

Ich sagte kein Wort mehr, nickte ihm bloß zu. Ich wusste sehr genau, dass sie nicht mehr so süß und unschuldig war wie früher, doch diesen Kommentar behielt ich lieber für mich.

„Alter, ich will dir nicht diesen besonderen Tag mit meinem Mist vermiesen." Er klatschte mir auf die Schulter und grinste mich ironisch an.

Ich nahm seine Ablenkung dankend an. Es war besser, nicht über Vanessa nachzudenken. Ich musste mich um meine Mannschaft kümmern. „Wir brauchen wieder einen Sieg, sonst steigen wir ab."

„So kenn ich dich schon eher. Pessimismus passt besser zu dir." Er lächelte mich nochmal an und ich erwiderte sein Lachen.

„Mann, du warst echt scheiße heute. Wir müssen an deiner Technik üben."

Genervt verdrehte er die Augen. „Hätte ich mal lieber nichts gesagt."


Vanessa

Konnte der Tag wirklich noch schlimmer werden? Nachdem sich die Stille im Haus schleichend ausgebreitet hatte und ich sicher gehen konnte, dass meine Eltern, vor allem mein Vater, eingeschlafen sein musste, nahm ich meine Schuhe und meine Jacke in die Hand und schlich leise die Treppe hinunter. Mir schlug das Herz bis zum Hals und ich befürchtete für einen Moment, dass mich das laute Pochen verraten würde. Doch als ich stehen blieb und lauschte, konnte ich kein verdächtiges Geräusch hören. Erst als ich draußen ankam, blies ich meinen angehaltenen Atem in die kühle Nachtluft hinaus.

Nach dem Streit hatte sich Joint auf zu einem Spiel gemacht und mich in diesem Haus der Hölle alleine gelassen. Ich wusste immer noch nicht, wie es überhaupt dazu kam. Auch jetzt war Joint noch nicht aufgetaucht, was mich ehrlich gesagt nicht wunderte. Hätte ich ein Auto, wäre ich schon längst über alle Berge. Doch ich besaß keins und musste dadurch in meinem Zimmer verharren bis ich mich davonschleichen konnte. Ich stand schon vor der Tankstelle, als ich bemerkte, dass ich meinen Geldbeutel vergessen hatte. Fuck. War ich denn überhaupt zu irgendetwas fähig? Wütend stieß ich gegen den Mülleimer, der mit einem lauten Krachen auf den Boden aufschlug. Verpackungen über Verpackungen verstreuten sich auf dem Asphalt. Ich sollte es wieder aufheben. Das würde ein normaler Mensch tun. Das würde eine wohlerzogene Tochter tun. Doch ich konnte mich nicht dazu durchringen. Stattdessen rannte ich einfach davon. Das konnte ich gut. Wegrennen. Dazu war ich fähig.

Sofort dachte ich an den heutigen Abend, der wirklich schön begonnen hatte. Ich schüttelte den Kopf. Davon ließ ich mich wirklich immer wieder täuschen. Krampfhaft versuchte ich meine aufkommenden Tränen zu unterdrücken. Ich werde nicht weinen. Nicht schon wieder. Das war er nicht wert. Doch mein Körper folgte ganz anderen Gesetzen als mein Gehirn und heiße, dicke Tränen rannen mein Gesicht hinunter. Wieso verdammt nur, hatte ich nicht an mein Geld gedacht? Für einen kurzen Augenblick spielte ich mit dem Gedanken, noch einmal nach Hause zu gehen, doch den verwarf ich schnell wieder. Dort würde ich es heute nicht mehr aushalten. Dennoch musste ich dieses erdrückende Gefühl in meiner Brust irgendwie stoppen. Fieberhaft dachte ich nach, wie ich mich ablenken konnte.

Es gab eine Möglichkeit. Ich konnte in die nächstbeste Kneipe gehen, mich betrinken und dann mit einem ebenso betrunken Typen nach Hause gehen. Doch ohne Geld ging das eher schlecht. Seit Lisa weggezogen war, hatte ich meinen Zufluchtsort in solchen Situationen verloren. Bevor meine Fußsohlen noch das Brennen anfingen, hielt ich an. Außer Atem stützte ich mich auf meinen Knien ab. Ich wusste nicht wie weit und wie lange ich sinnlos die Straßen entlang gerannt war. Um Orientierung zu finden, richtete ich meinen Blick auf und stellte überrascht fest, dass ich das Haus kannte, vor dem ich stand. Mit seinen grünen Fensterläden und den bunten Blumenkästen, ragte es einladend vor mir auf. Sollte ich klingeln? Ich machte einen entschlossenen Schritt auf die Haustür zu. Halt! Es war schon nach Mitternacht und alle Fenster waren dunkel. Es war bestimmt keiner mehr wach. Unentschlossen blieb ich stehen. Was machte ich bloß hier? Wie sollte ich mein überraschtes Auftreten um diese Uhrzeit plausibel erklären? Wieder wurden meine Augen feucht. Verdammt. Ich konnte nirgendwo anders hin ohne irgendwo im Freien schlafen zu müssen. Bevor ich noch weiter darüber nachdenken konnte, drückte ich meinen Zeigefinger auf die Klingel. Das Geräusch hallte laut im Inneren des Hauses wieder. Oh Gott, ich hatte alle aufgeweckt. Ich wartete eine gefühlte Ewigkeit, als das Licht im Flur an ging und ich gedämpfte Schritte hörte. Nervös entfernte ich mich von der Tür. Was, wenn es seine Mutter war? Wie sollte ich mich erklären? Als die Tür geöffnet wurde, hatte ich mir ein paar Sätze zurecht gelegt. Doch die waren in derselben Sekunde auch wieder verschwunden, in der ich Niklas im Türrahmen stehen sah.

„Ja?" Verschlafen blinzelte er in die Dunkelheit. Ich sollte verschwinden. Jetzt. Sofort.

„Vanessa?" Überrascht riss er im nächsten Moment die Augen auf. „Was machst du hier?" Wenn ich das wüsste.

„Ehm... ich, ist Markus da?" Aufgeregt trat ich von einem Fuß auf den anderen. Bitte sei da. Bitte sei da.

„Nein, er ist mit ein paar Freunden übers Wochenende weg gefahren." Ich ging seine Worte noch einmal in Gedanken durch. Er war nicht hier. Was sollte ich jetzt tun? Ich konnte nicht wieder nach Hause. Das ging nicht.

„Oh" war alles, was ich rausbrachte. Ruhig bleiben, Vanessa. Du findest schon einen anderen Schlafplatz.

„Ist alles in Ordnung bei dir?" Niks Stimme klang besorgt. Kaum merklich schüttelte ich den Kopf.

„Willst du rein kommen?" Er machte die Tür einen Spalt weiter auf und deutete mit dem Daumen hinter sich. Ohne ein Wort ging ich an ihm vorbei ins Haus. Wie sollte ich ihn fragen, ob ich übernachten könne? Eine wohlige Wärme umhüllte mich, als ich den Flur betrat. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich komplett durchgefroren war. Um mich mehr zu wärmen, schlang ich beide Arme um meinen Körper. Nik schloss hinter mir die Tür und ich drehte mich im gleichen Moment zu ihm um. Er trug nichts außer einer langen Jogginghose. Ansonsten hatte er nichts an. Auch nicht diese grüne Mütze, die er jeden Tag trug. Wie gebannt, starrte ich auf seinen nackten Oberkörper, als hätte ich noch nie einen zuvor zu Gesicht bekommen. Reiß dich zusammen, ermahnte ich mich. Ich zwang mich meinen Blick von seinen Muskeln zu lösen und schaute in sein Gesicht.

„Möchtest du was trinken?" seine Augen musterten mich eindringlich.

„Gegen einen doppelten Tequila hätte ich nichts einzuwenden.", scherzte ich.

Er riss die Augen bei meinen Worten weit auf. „War nur ein Scherz" fügte ich schnell hinzu, und versuchte ein überzeugendes Lächeln hinzubekommen.

„Was machst du hier, Vanessa?" Er versuchte nicht mal zurück zu lächeln. Ich schluckte. Jetzt musste ich ihn fragen. Nur wie?

„Ich wollte deinen Bruder besuchen." Bei meiner Lüge konnte ich mich gerade selbst ohrfeigen.

„Wie gesagt, der ist nicht da." Nik verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Muskeln zeichneten sich in jeder Bewegung ab. Mist, ich schweifte schon wieder ab.

„Ich weiß." Meine Stimme war kaum mehr ein Flüstern. Wieso konnte ich ihn nicht einfach fragen?

„Na, dann würde ich gerne wieder schlafen gehen." Er drehte sich um und machte Anstalten, die Haustür zu öffnen.

„Warte." Ich hielt ihn am Arm fest. „Ich brauche einen Schlafplatz."

Er erstarrte mitten in der Bewegung und blickte auf meine Finger, die seine Haut berührten. „Was?" Seine blauen Augen musterten mich.

„Ich...ich kann nicht zu Hause schlafen." Meine Stimme drohte zu kippen.

„Kannst du nicht woanders schlafen?"

„Bitte, Nik. Nur für diese Nacht. Du wirst mich gar nicht bemerken." Flehend schaute ich ihn an. „Bitte."

Meine Augen füllten sich mit Tränen. Nik jedoch schloss für einen Moment die Augen. Dann blickte er direkt in meine. Sein Blau war so intensiv, dass ich mich nicht davon abwenden konnte.

„Nagut" Erleichterung durchströmte mich wie ein Blitzschlag und ich fiel ihm im selben Augenblick um den Hals.

„Danke" Noch bevor ich mich wieder zurückziehen konnte, presste ich mich auch schon gegen seinen Körper. Meine Hände umklammerten wie selbstverständlich seinen Nacken und ich konnte daraufhin seinen warmen Atem an meinem Hals spüren. Er fühlte sich so gut an, dass sich meine Anspannung immer mehr löste. Fest drückte ich mich an ihn, als könnte ich dadurch meine Sorgen vergessen. Seine Brust stieß gegen meine, während er schwer einatmete. Dann legte er seine Hände auf meine Taille und schloss die letzten Zentimeter zwischen uns. Sofort durchströmte mich eine Hitze, die mich leise aufstöhnen ließ.

Ob das so eine gute Idee war, hierher zu kommen?





--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------


Thousand Foot Krutch ist wohl eine der meist unterschätzten Bands, umso mehr wollte ich diesen tollen Song mit euch teilen

Während ich dieses Kapitel geschrieben habe, habe ich das Lied so oft gehört, dass mein Repeat Button dabei schon längst kaputt gegangen sein müsste :D

Die zweite Strophe beschreibt passend zu Vanessas Leben, dass ich nicht umhin kam, die Zeilen in diesem Kapitel zu verewigen :)

Ich hoffe natürlich, dass euch der Song ebenso wundervolle vier Minuten beschert hat, wenn nicht sogar mehr (Repeat Button lässt grüßen) :D

It's not too late to be rescued

Eure Biene 🐝

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top