Kapitel 10

Niklas

Ob ich meinen besten Freund damit hinterging, indem ich seine Schwester so spät noch unterwegs rumlaufen lasse? Egal, wie die Antwort lautete, ohne es zu merken, hatte ich mich an diese Treffen gewöhnt.  Obwohl ich es nicht mochte, dass mich jemand beim Trainieren zusah, gestattet ich ihr, mich zu beobachten. Mir gefiel es sogar, dass ihre Augen mich in jeder meiner Bewegungen verfolgten. Jetzt trat sie neben mich und sah mich herausfordernd an, sodass ich mitten in der Bewegung stoppte.

„Ich finde wir sollten heute mal die Aufgaben tauschen. Heute spielst du mal den Torwart.", ihre Stimme wirkte schon etwas angetrunken. Die Flasche hatte sie jedoch an der Bande stehen gelassen. Ich wollte sie schon ein paar Mal auf das Getrinke ansprechen, ließ es jedoch dann immer wieder sein, da sie den Grund, warum ich fast jede Nacht hier stand, ebenso wenig hinterfragte.

„Kannst du denn überhaupt schießen?" ich hob einen Ball auf.

„Na, hör mal.", sie atmete empört aus „Ich wurde schon als Profi geboren." Ich musste über ihren übertriebenen Scherz schmunzeln. „Na los, stell dich in den Kasten."

Ich kam ihrer Aufforderung nach und wandte mich ihr zu, sah zu, wie sie einige Meter zurücktrat, die Arme ausschüttelte und mit hohem Tempo auf den Ball zuraste.

Schon in diesem Moment, in dem sie den Ball mit dem Fuß berührte, wusste ich, dass der Schuss nicht annähernd in meine Richtung gelangen würde. Verdattert sah sie dem Ball nach, als dieser meilenweit nach rechts flog.

„Pahh, sonst schieße ich besser. Warte..." Sie holte noch einmal Anlauf, trat den Ball und schoss wieder ein weiteres Mal daneben. Das war ja kaum mit anzusehen. Entschlossen schnappte ich mir einen Ball und schritt auf sie zu. Mit beiden Händen in der Hüfte stand sie da.

„Zuerst musst du aufhören mit der Kuppe zuschießen.", erklärte ich ihr, während ich den Ball vor ihren Füßen hinlegte. „Und dann solltest du nicht so viel Anlauf nehmen, ein paar Schritte genügen für diese kurze Distanz." Mit diesen Worten stellte ich mich hinter sie, woraufhin sie mir einen misstrauischen Blick zuwarf. „Los, schieß noch einmal und dieses Mal beachtest du diese Dinge."

„Nagut", murmelte sie, bevor sie ihren Fuß auf das Leder schnellen ließ. Diesmal flog der Ball schon etwas mehr in die Richtung, jedoch viel zu hoch. „Siehst du, deine Tipps bringen es auch nicht." Sie drehte sich halb zu mir, sodass ihr Nasenpiercing im Licht der Scheinwerfer silbern glitzerte. „Vielleicht gehöre ich doch lieber ins Tor." Mit wackligen Beinen wollte sie sich schon wegbewegen, da hielt ich sie am Arm zurück. „Warte, nicht aufgeben. Lass mich dir zeigen wie es geht. Stell dich hier hin." Ich zog sie näher an mich ran. „Jetzt machst du zwei Schritte rückwärts. Dann hältst du deinen Fuß seitlich, achtest beim Schießen jedoch darauf, dass du nicht zu viel Rückenlage hast, sonst wird die Flugbahn des Balls zu hoch."

„Alles klar, Chef.", nervös kaute sie auf ihrer Unterlippe, und ein Kribbeln in meinem Bauch machte sich bemerkbar. Wie gerne würde ich jetzt ... Nein, stopp. Hier ging es nur um ihre Schusstechnik. „Ich helfe dir." Ohne weiter über meine versauten Gedanken nachzudenken, berührte ich sachte ihren unteren Rücken, schob sie langsam Richtung Ball, während sie all meine erwähnten Punkte befolgte. Der Ball machte eine kleine Kurve ehe er ins Netz traf.

„Oh mein Gott, ich hab getroffen!" Mit einem breiten Grinsen drehte sich Vanessa um, strahlte mich wie ein Honigkuchenpferd an und fiel mir im gleichen Moment auch schon um den Hals. Eng drückte sich ihr Körper an meinen bis sie nach ein paar Sekunden laut nach Luft schnappte. „Oh Gott. Ich hab nur ein leeres Tor getroffen!" Mit großen Augen schaute sie mich an. „Und das nach wie vielen Versuchen? Wie peinlich!" Sie blickte zu Boden. Wie niedlich, schoss es mir durch den Kopf.

„Tor ist Tor. Aber wie ein richtiger Profi sah das wohl eher nicht aus. Mehr wie ein Amateur.", scherzte ich, worauf sie mich böse anfunkelte.

„Hey, vielleicht bin ich auch nur etwas eingerostet." Damit versetzte sie mir einen leichten Stoß, den ich jedoch nicht kommen sah und im nächsten Moment stolperte ich lachend zurück. Bei der abrupten Bewegungen rutschte mir meine Mütze vom Kopf, was ich erst an dem kalten Luftzug spürte. Ich verstummte augenblicklich, das Lächeln gefror auf meinen Lippen. Bevor Vanessa meine Glatze noch weiter anstarren konnte, bückte ich mich um die Mütze aufzuheben, doch sie kam mir zu vor. Langsam schaute ich unsicher zu ihr auf, als sie mir das grüne Stück Stoff hinhielt. Wortlos nahm ich es entgegen und richtete es hastig auf meinem Kopf zurecht. Ich erwartete ihrerseits einen abwertigen oder abfälligen Blick, doch einzig und allein ihre braunen Augen traten in mein Blickfeld, die mich interessiert und verständnisvoll musterten.

„Du musst dich auf keinen Fall dafür schämen.", setzte sie an, ich unterbrach sie jedoch barsch.

„Schon gut. Du brauchst nichts zu sagen."

„Das möchte ich aber, weißt du", sie machte einige Schritte auf mich zu, woraufhin ich einen Schritt zurück wich. Ich mochte sie, aber in solchen Momenten wollte ich nicht, dass mir jemand zu nahe kam. „gerade vor mir brauchst du dich nicht zu verstecken. Ich stecke voller Probleme, da würden deine bestimmt gar nicht ins Gewicht fallen." Zwar lachte sie am Ende, doch es wirkte nicht ehrlich, weswegen ich nicht mit einstieg.

„Hat das etwas mit deiner Situation zu Hause zu tun? Bist du deswegen die Woche so oft hier aufgetaucht?" Sie zuckte kurz unter meinen Fragen zusammen, ehe sie den Abstand zwischen uns vergrößerte. „Mir gefiel es doch besser, als wir noch nicht so viel über unsere privaten Dinge geredet haben. Wollen wir nicht einfach noch ein paar Bälle schießen?"

Während ich ihr in die Augen sah, traf mich ein kleiner Regentropfen auf die Stirn. Auch Vanessa bekam einen feuchten Fleck auf ihre kleine Nase. „Oder, wir sollten doch lieber unters Dach gehen." Noch bevor sie zu Ende gesprochen hatte, fing es auch schon an in Strömen zu gießen. Zwischen den Regenbächen erkannte ich ihre Hand, die meine packte und mit über den Rasen bis unters Dach vom Sportheim zog. Eine angenehme Wärme durchflutete meinen Körper und das zuvor gespürte Kribbeln steigerte sich zu einem Ziehen.


Vanessa

Sein Körper hatte sich einfach nur unglaublich an meinem angefühlt, wie er mich während dem Schuss geführt hat. Seine heißen Finger auf meinem Rücken toppten dieses Gefühl. Schon wieder war ich verwirrt von meinen Gedanken und Gefühlen. Ich kannte ihn jetzt schon so lange, und doch scheint es so, dass ich gar nichts über ihn wusste. Sein geschmeidiger Anblick, wie er für den jeden Schuss Anlauf nahm, brachte mich jetzt noch zum Glühen. Ich brauchte unbedingt etwas Abkühlung. Da kam mir der Regen ziemlich gelegen. Jetzt stand ich mit ausgestreckten Armen unter dem Wolkenbruch, und genoss die kühlen Tropfen, die meine erhitzte Haut abkühlten. Langsam, wie mein angetrunkener Zustand es zuließ, drehte ich mich auf der Stelle. Ich schloss die Augen. Der Nebel in meinem Kopf lichtete sich etwas, und ich spürte wie mir die Wirkung des Alkohols langsam aber sicher entglitt. Ich musste nicht mal ein Auge öffnen, um zu wissen, dass er mich beobachtete. Ich spürte seinen Blick, wie er sich warm auf meinen Körper legte. Das musste am Alkohol liegen. Doch als ich meine Augen aufschlug und auf Nicks Gesicht ein Lächeln erkennen konnte, fing mein Herz schneller an zu pochen. Natürlich kam es nicht vom Alkohol. Seine blauen Augen zogen mich magisch an, sie hatten etwas tiefgründiges, was mich faszinierte. Jetzt flackerte in ihnen ein dunkleres Blau auf, das mich unwillkürlich schlucken ließ.

„Du tust es schon wieder."

Verwirrt blickte er mich an. „Was denn?"

„Du lächelst." Ich machte einen Schritt auf ihn zu. „Das machst du nicht oft." Ich habe ihn schon oft mit meinem Bruder gesehen, doch in letzter Zeit nicht mehr sein Lachen, dass seine Gesichtszüge jetzt viel weicher wirken ließ. Bevor er etwas erwidern konnte, streckte ich ihm meine Hand entgegen. „Komm mit unter den Regen"

Er zögerte. „Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist, Vanessa." Sein Blick huschte für ein paar Sekunden meinen Körper entlang. Doch es war so ein kurzer Moment, dass ich glaubte, es mir eingebildet zu haben. Ich wusste wie ich aussehen musste. Meine Mascara verteilte sich wahrscheinlich schon in schwarzen Rinnen auf meinem Gesicht und meine Klamotten saugten sich nass an meinem Körper fest. Sicherlich bot ich ihm nicht gerade einen netten Anblick, doch das war mir egal. Ich hatte das Gefühl, dass er mehr Spaß im Leben brauchte.

„Es ist doch nur Regen, Nick." Wieder kam ich einen Schritt näher. Jetzt stand ich unter dem Vordach des Sportheims, einen Meter vor ihm.

„Das habe ich nicht gemeint..." Er kam nicht weiter. Ich hatte ihn am Handgelenk gepackt und schob ihn in Richtung Parkplatz. Seine Haut fühlte sich warm unter meiner an und bot einen angenehmen Kontrast zu meiner nassen. Er atmete scharf ein. Ich ahnte, ihn etwas brummen zu hören, doch ich konnte es nicht verstehen. Als ich ihn endlich unter dem Regen hatte, ließ ich ihn los und trat einen Schritt von ihm weg. Wieder breitete ich die Arme aus und fühlte die Tropfen auf ihnen niederprasseln.

„Ich liebe den herrlichen Duft des Regens." Ich schloss meine Augen und atmete tief ein. „Weißt du, dass dieser Geruch auch einen Namen hat?" Ich wartete auf keine Antwort und sprach einfach weiter. „Petrichor. Der Name wird zusammen gesetzt aus den griechischen Wörtern Stein und Flüssigkeit."

„Du meinst, wir stehen gerade unter einem göttlichen Regen?", Belustigung lag in seiner tiefen Stimme. Sofort schlug ich die Augen auf.

„Natürlich. Das Wasser des Regens ist die Flüssigkeit, die in den Adern der Götter fließt. Es lässt alles Schlechte von der Erde, von den Dächern, und von den Menschen verschwinden." Ich grinste ihn glücklich an, was ihn kurz auflachen ließ. Schon wieder. Seine tiefe Nuance vibrierte in meiner Brust.

„Also gerade wäscht er nur meinen Schweiß von der Haut."

Er schenkte mir ein verschmitztes Lächeln, das meine Haut prickeln ließ.

Wahrscheinlich aufgrund des Einflusses des Alkohols in meinem Blut, streckte ich meine Hände nach ihm aus. Er riss die Augen erschrocken auf, als ich ihm meine Handflächen auf die Wangen legte.

„Dein Lächeln ist Beweis für das Göttliche des Regens." Vorsichtig berührte ich seine Mundwinkel, die leicht nach oben gehoben waren. Regentropfen rannen auf uns herab, als gäbe es kein Morgen mehr. Sein nasses Trikot hing eng an seinem Körper, wodurch seine schlanken Muskeln gut zur Geltung kamen. Ich unterdrückte den Drang, sie mit dem Finger nachzufahren und konzentrierte mich wieder auf sein Gesicht. Mit dem Daumen wischte ich sanft einen Tropfen von seiner Haut.

„Du hast ein schönes Lachen." Meine Worte ließen ihn kurz die Augen schließen. Ich konnte seinen warmen Atem spüren, der mein Gesicht kitzelte. Als er die Augen wieder aufschlug, fixierten sie mich dunkel. Im nächsten Moment spürte ich etwas Warmes am Rücken, das mich näher an seinen Körper heran zog. Obwohl mein Körper durchtränkt war vom Regen, durchflutete mich eine lavaartige Hitze, als er seine Arme um mich schlang. Meine Brust wurde an seine harten Muskeln gepresst, worauf ich ein aufkommendes Stöhnen nicht unterdrücken konnte.

„Verdammt" hörte ich ihn flüstern, doch ich konnte mich nicht auf seine nächsten Worte konzentrieren, viel zu sehr war ich von seiner Nähe fasziniert. Ich schreckte nicht mal von der Reaktion meines eigenen Körpers auf seinen zurück. Wie magisch von ihm angezogen, legte ich meine Hände auf seine Brust. Sein Herz schlug genauso schnell wie meins. Das veranlasste meins dazu nur noch wilder zu hämmern. Als ich meinen Blick wieder auf sein Gesicht richtete, hatte er die Augen geschlossen. Ich hörte ihn tief Luft holen.

„Ich sollte dich lieber nach Hause fahren." Was? Irritiert starrte ich ihn an. Dachte er wirklich gerade in diesem Moment daran, mich weg zu schaffen? Er musste gemerkt haben, dass ich mich versteifte, denn jetzt öffnete er die Augen und sah mich eindringlich an.

„Du hast getrunken." Er lockerte seinen Griff um meine Hüfte. Das war keine Frage. Oh mein Gott. Was tat ich hier bloß?

Schnell ließ ich meine Hände von seiner Brust sinken und machte einen Schritt nach hinten. Weg von ihm. Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Er war der beste Freund meines Bruders. Er war Nick. Ich entfernte mich weiter von ihm. „Was tut das hier zur Sache?" Meine Stimme klang seltsam belegt.

„Ich will nur nicht, dass du etwas tust, was du später bereust." Er bewegte sich nicht, während er sprach. Er machte nicht mal einen verdammten Schritt auf mich zu, obwohl ich mich doch gleichzeitig von ihm entfernte. Mein Herz pochte stark gegen meine Brust. Diesmal bereitete es mir Schmerzen. Sofort berührte ich mein Nasenpiercing, das mich schmerzhaft an den Streit meines Vaters erinnerte. Ich werde nichts bereuen. Wütend kreuzte ich meine Arme vor meiner Brust und fixierte Nick mit einem bösen Blick.

„Du hast wahrscheinlich Recht. Ich bin ja noch ein so kleines Mädchen, das jede seiner Handlungen bereut. Danke, dass du mir Bescheid gesagt hast, bevor ich mal wieder einen schwerwiegenden Fehler in meinem Leben begehen konnte." Ich schnaubte „ Sag das nächste Mal einfach, dass du keinen Bock auf mich hast, OK?" Ohne auf seinen verwirrten Gesichtsausdruck zu achten, machte ich kehrt und stapfte in Richtung Straße. Ich musste wirklich blöd sein zu glauben, dass mich irgendwer mal ernst nahm. Ich war jetzt 20 Jahre alt. Ich konnte eigene Entscheidungen treffen. Es hatte sich richtig angefühlt, aber anscheinend nicht für ihn.

„So hab ich das nicht gemeint." Seine Stimme war dicht hinter mir, doch ich drehte mich nicht um. „Lass mich dich nach Hause bringen."

„Ich schaff das auch gut ohne dich!" Während ich sprach, beschleunigte ich meine Schritte zunehmend.

„Vanessa, bitte. Ich kann dich nicht allein..."

„Mach's gut, Nick." Jetzt rannte ich. Meine Beine trugen mich in Windeseile zur Hauptstraße, und noch weiter bis meine Lungen drohten zu platzen. Jetzt war ich dankbar für den Regen, der mir in Strömen über das Gesicht lief. So konnte wenigstens niemand meine Tränen sehen, die nur unaufhaltsam aus meinen Augen kullerten. Ich hasste es, wie ein kleines Kind behandelt zu werden. Die Umrisse der Außenwelt verschwammen immer mehr vor meinem Auge und ich ließ mich in die Hocke sinken, um daraufhin in ein leises Schluchzen zu fallen. Ich hasste es so sehr.

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