⫷ Kapitel 62: Weil die Welt niemals still steht ⫸

Danach fügte sich die Welt langsam zurück in ihre Bahn. Die Natur forderte ihre Gesetze erneut ein und die Tiere verschwanden so rasch wieder, wie sie gekommen waren. Nanouk beobachtete erschöpft, wie sich auch schlussendlich die übrigen verzerrten Sternenwolken in den Schatten auflösten und die letzten Tariaksuk verschwanden. Nicht alle waren jedoch unversehrt am Ende hervorgekommen. Nanouk erkannte einige von schwarzem Kristall durchbohrte Gestalten leblos zwischen dem aufgewühlten Schnee liegen. Ihre langen, dunklen Körper bluteten nicht, als wären sie bloß Stoffpuppen gewesen, die durch Naos explosivem Zorn zerfetzt worden waren.

Auch ein mächtiger Schneebär und einige Wölfe lagen zerschmettert im weißen Schnee und im Gegensatz zu den Toten, hatte ihr Blut den Grund rot gefärbt. Ihre Knochen würden für alle Ewigkeit hier ruhen und zwischen den Gebeinen ihrer Urahnen ihre letzte Rast beginnen.

Sina-wa'siulliqs Anwesenheit verscheuchte schließlich auch die Eisdämonen und Ijiraq, der jedoch für einen Augenblick länger zwischen den toten Tannen verweilte und sie beobachtete.

Nanouk nickte ihm ehrfürchtig zu und Ijiraq stieß seinen Atem in weißen Wolken in die Nacht, ehe er Seite an Seite mit Akhlut verschwand, der nun mit gestillter Rache zurückkehren durfte, wo er immer sein wollte. Ins Meer.

Nanouk sank erschöpft auf ihre Fersen und obwohl sich der kalte Boden schmerzhaft in ihr Knie bohrte und ihr verkrüppeltes Bein protestierte, blieb sie wo sie war. Sie blickte auf ihre Hände, die blutverschmiert jene Worte hielten, die auch Reiki geknechtet hatten, doch nun waren sie nicht mehr als Tinte auf Papier. Vielleicht hatten sie allesamt Unrecht gehabt und Nao, wie er einst gewesen war, hatte doch noch überdauert, festgehalten an der Hoffnung eines Tages wieder er selbst sein zu dürfen. Wer auch immer das gewesen sein mochte.

Ob er in der stillen, kalten Einsamkeit verbannt in die Tiefen seines eigenen Verstandes mitansehen musste, wie sich der Ewige der Seele seiner bemächtigte und seinen Hof ins Verderben stürzte? Ob er darum trauerte, was seinen beiden engsten Freunden zugestoßen war, oder ob er seinen Schwur nach all den Jahren bereute?

Nanouk blickte auf Naos leblosen Körper, der im Schnee beinahe verging, so blass und durchscheinend war er geworden. Sie fürchtete, er würde unter ihren Händen zu Staub zerfallen, wenn sie ihn bloß berührte. Sie erinnerte sich an ihren ersten Eindruck von ihm, als sie seine spindeldürre Statur erblickt hatte. Zerbrechlich und schwach, kaum in der Lage sich selbst in einem Kampf zu beweisen. Nao mochte kein guter Mensch gewesen sein, doch die vergangenen Jahre hatte er eine Strafe ertragen, die Nanouk in seiner Lage niemandem gewünscht hätte.

Hatte er allem beiwohnen müssen, was sich der zerrüttete der Verstand des Ewigen einfallen ließ?

Reiki hatte versprochen, dass er sich um die Vergeltung im gesplinterten Ewigen kümmern würde und Nanouk grübelte lange, was es wohl für einen Ewigen bedeutete, wenn er einen Teil von sich verlor, dieser Teil ein neues Wesen formte, welches gegen alles strebte, was es einst gewesen war.

Ob das zarte Licht in der unendlichen, trüben Einöde Naos Geistes je den selben Schmerz verspürt hatte. Ob die Traurigkeit in seiner kleinen Mitte bedeutete, dass es noch Hoffnung für den Ewigen Lhimeliel gab, oder ob sein Geist nun so geschunden nie wieder in der Lage sein würde, etwas anderes, als seine Vergeltung zu erblicken. Sie fühlte das verängstigte Zittern des Lichts selbst jetzt noch und wunderte sich, ob dies daran lag, weil sie eben jene Furcht selbst verspürt hatte. Weil sie und der Wahnsinn gar nicht so verschieden waren und sein Schicksal auch ihres hätte werden können. Adassetts geworden war, ehe er einen Sinn gefunden hatte, jemanden, der ihm einen Ausweg bot und zeigte, dass es auch andere Möglichkeiten, als den Wahn gab.

Doch Trotz allem, was sie aufgrund des Ewigen der Seele durchgemacht hatte, kam Nanouk nicht umhin sich selbst und alles andere anzuzweifeln. Ob der Ewige vielleicht einfach eine helfende Hand, einen gütigen Wohltäter bedurft hatte, um sich von seiner menschenverachtenden Philosophie abzuwenden. Vielleicht hätte man Nao retten können, wenn es jemanden gegeben hätte, der gewillt gewesen wäre, genauer hinzublicken. Wenn man ihn und sein Gebrechen eher verstanden hätte.

Doch das waren Dinge, die fürs erste ruhen sollten.

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Es war seltsam melancholisch den Palast zu betrachten, der anders als der schwarze Kristall des Ewigen, seine Form beibehalten hatte. Es würde niemals wieder eine Herrscherresidenz sein können. Zerstört und ausgebrannt ruhte das Skelett nun vollkommen still unter den verblassenden Sternen.

Adassett berichtete, dass es niemanden gab, der außerhalb der Schutzzonen, welche durch die pijjari geboten worden waren, überlebt hatten.

Nanouk zwang sich, diese Tatsache bloß mit einem Nicken zu erfassen und ließ sich einfach in seine Arme fallen. Adassett erwiderte die Umarmung zuerst zaghaft, doch dann ebenso innig. Dieses Mal war auch er nicht ungeschoren davongekommen, noch Ayiela, die schließlich zu ihnen blickte.

Nanouk wand sich aus Adassetts Armen und humpelte zu ihr hinüber. »Danke.«

Ayiela schluckte und wischte sich das Blut aus den Mundwinkeln, als hätte sie selbst ihr Zahnfleisch wund gebissen. »Du hast dein Versprechen erfüllt.«

»Und einen Weg gefunden, dich zu retten.«

Ayiela schnaubte und wandte den Blick ab. »Es gibt keine Rettung für mich.«

Nanouk nickte. »Doch. Es bedarf mehr als Sterblichkeit, um einen Ewigen oder einen seiner Ersten zu töten. Wenn du Atashoq seinen Mantel zurück bringst, wird auch Atashoq'siulliq wieder leben können. Vielleicht wird er dein Gebrechen heilen und dich und deine Seele ziehen lassen.«

Ayiela schloss kurz die Augen und schnaubte ermattet durch die Nase. »Das meinte ich nicht.«

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Nanouk wollte unbedingt einfach mit Adassett alleine sein, erfahren, was sich zugetragen hatte und wie es ihm gelungen war überhaupt zurück zu kommen, doch sie wusste, dass dafür noch nicht die Zeit war. Sie erkannte das selbe, sehnsüchtige Verlangen in seinem Blick, doch auch er musste sich zuallererst um seine Anhänger kümmern. Um das Danach.

Wie es ohne Hofstaat weitergehen sollte. Ohne König und ohne Machtträger in den Tälern. Nanouk ersuchte Anuri, ihr mitzuteilen, ob sie ihre Kameraden retten konnte, wie viele Unschuldige durch ihr Scheitern den Tod gefunden hatten und die alte angakkuq lächelte sanft. Viele, sie hatte in den vergangenen Tagen so viele Diener und Dienerinnen wie nur möglich davon geschickt und sie erinnerte sich an die Namen Inaak und Paali.

Nanouk stieß erleichtert den Atem aus, wenngleich diese Erleichterung nur von kurzer Dauer war. Viele andere hatten nicht das Glück gehabt von Anuri beschützt zu werden. Sie bat die alte Schamanin um einen wegweisenden Rat und Anuri erklärte sich bereit, ihr alles zu lehren, was sie wissen musste. Nanouk bedankte sich und lächelte dem stillen Mädchen zu, welches stet an Anuris Seite war und ebenfalls von Anuri bereits am Palast hinter dem Schutz ihres pijjaris die Lehren der angakkuq begonnen hatte zu studieren. Es würde weiter gehen, es würde wieder ein danach geben, eine Rückkehr zu den Feierlichkeiten und zu den Dingen, die einst verloren geglaubt waren.

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Adassett stellte sich freiwillig zur Verfügung die Kunde hinaus in die Fürstentümer zu tragen und gemeinsam mit Kamu eine gewisse Ordnung zu erhalten, doch mit einem erschöpften Lachen schlug Nanouk vor, dass es vielleicht das beste wäre fürs erste keine weiteren Könige zu krönen.

»Die Fürstentümer sich selbst überlassen?«, wollte Kamu grimmig wissen und Nanouk hob die Schultern.

»Ich hab keine Ahnung vom Herrschen, aber für den Anfang klänge es ganz gut, wenn jedes Fürstentum einen Fürsprecher hat, der gemeinsam mit den anderen entscheiden kann, was das Beste für sein Volk ist.«

Adassett runzelte die Brauen. »Ich kann versuchen diese Botschaft zu verbreiten, aber lustig wird das nicht. Du hast den König getötet, also könntest du die Macht ergreifen.«

Nanouk rieb sich über die Augen, als die Dämmerung anbrach und die letzten Nordlichter verblassten. »Das soll wohl ein Scherz sein«, murmelte sie und Adassett hob nur die Schultern.

»Sei du doch König.«

Adassett lachte laut auf. »Vergiss es. Ich eigne mich ungefähr so gut als König, wie Nao.«

»Dann ist es beschlossen«, mischte sich Inja ein. »Jeder für sich. Gebt mir nur Bescheid, wann und wo ihr die Fürsten aufeinander loslassen wollt, den Spaß lasse ich mir ungern entgehen.«

Jokim grinste und auch Nanouk fand, dass das nach einer Lösung klang, vor allem aber klang es danach, dass sie endlich all das betrachten konnte, das ihr die letzten Wochen so schwer aufs Gemüt gedrückt hatte.

Sie würde zu jedem Altar pilgern, sämtliche Ewige anrufen, nach Inaak und Paali suchen und ihr letztes Versprechen einlösen.

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Adassett machte sich auf den Weg, während Nanouk mit Reiki heim kehrte. Es war schön, endlich auszuruhen und Nanouk verbrachte die ersten Tage in Tallik einfach damit zu schlafen und später dann, Geschichten zu erzählen.

Sie sprach mit Rendrun und stellte fest, dass sie selbst keinerlei Zorn ihm gegenüber verspürte. Sie wollte nicht versprechen, Inaak und Paali zu finden, doch sie würde in den kommenden Monaten alles daran setzen gemeinsam mit Anuri und den umliegenden Fürstentümern nach ihnen zu suchen. Schließlich würden sie ihre Wege zu den Altären sämtlicher in dieser Lande beheimateten Ewigen ohnehin durch sämtliche Provinzen führen.

Sie erzählte zwischen dem Schluchzen ihrer Eltern von den Ereignissen auf dem Schneepfad und am Palast, berichtete ungeschönt von den Dingen, die ihr widerfahren waren und erklärte von den verlorenen Brücken, die sie nun wieder errichtet hatten. Gemeinsam mit Adassetts Bemühungen verbreitete sich die wichtigste Geschichte von allen unter den Dörfern und innerhalb der Fürstentümer, bis auch in Tallik die Nachricht ankam, dass zu einer Konferenz gerufen wurde, an welcher über die Zukunft des Landes beratschlagt werden sollte.

Es war klar, dass diese Kunde mit einem Lauffeuer der Beunruhigung einherging, vor allem, da Fürst Perrin gewiss keinen Funken Vernunft an den Tag zu legen vermochte, doch das waren Angelegenheiten, aus denen Nanouk sich vorerst heraushielt. Sie verstand nichts von Politik oder von Führung, wusste nur – wie so viele – wann sie missglückte und hatte ohnehin genügend Aufgaben, welche sie fernab der Zivilisation erledigen musste.

Dennoch würde sie erscheinen, denn nach zwei Wochen Ruhe, fühlte sie sich stark genug, um die letzte ihrer Pflichten zu erledigen. Und sie wollte Adassett endlich wieder sehen.

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Ajat war untröstlich, als sie ihn bat hier zu bleiben, doch seine Anwesenheit in Tallik war wegen Rendruns schwächelnder Gesundheit von großer Bedeutung. Sie wollte nicht, dass sein Großvater starb, während er selbst fort war, nur um sie auf einen Weg zu begleiten, den sie ohnehin alleine nehmen musste. Sie waren einander ein wenig näher gekommen, doch Nanouk spürte immer noch diese gläserne Barriere zwischen ihrer beiden Leben. Sie würde Zeit brauchen, ehe sie Ajat mit den zerrüttenden Ereignissen, welche ihre Seele selbst gespalten hatten, konfrontieren könnte und bis dahin wäre es das klügste ihn und sich selbst nicht zu sehr zu belasten.

Auf halber Strecke nach Aalsung, von wo sie gedachte eine Mitfahrgelegenheit zu ergattern, die sie in den Süden brachte, wo die Konferenz stattfinden sollte, begegnete sie jedoch einem großen Schneebären. Das mächtige Tier trottete den schmalen, verschneiten Pfad herauf, gemächlich und unberührt ob der Jäger in der Nähe.

Erschrocken verharrte Nanouk mit zitterndem Bein und klammerte sich an ihren Wanderstock, doch das Funkeln der Sterne blitzte aus dem gleißenden Fell des Tieres und sie stieß ein atemloses Lachen aus.

»Reiki.«

Der Schneebär brummte und schüttelte sich den Schnee aus dem Pelz. Ich dachte mir schon, dass du dich weigern würdest länger zu rasten. Er kam näher und legte den Kopf schief, als er ihr Bein betrachtete. Daher erschien es mir angebracht, dir zu helfen.

Nanouk lächelte und ihr Griff verstärkte sich um den Wanderstab. »Großzügig von dir.«

Der Schneebär brummte. Und wie ich sehe, bist du bereits fertig damit, die Äste zu zerbrechen, daher lasse ich dich auch gerne an meinen Pelz heran.

Nanouk stieß ein erheitertes Lachen aus und hieb dem Schneebären mit gespielter Empörung den Stab auf die Nase. »Das war ein Geschenk von meinem Vater! Ich habe sämtliche Gewalttaten gegenüber des Holzes ihm überlassen, schließlich weiß er am besten wie es ist, Probleme mit dem Gehen zu haben.«

Reiki kräuselte die Nase und schüttelte seinen Pelz. Es ist ein sehr schöner Stab, ohne Zweifel.

»Mach dich nicht lustig über ihn!«

Keineswegs, lächelte Reiki und durch seine Augen huschte ein amüsiertes Funkeln.

Nanouk kletterte schließlich auf seinen Rücken, damit sie ihren Weg in angenehmer Stille und umgeben von glitzerndem Schnee fortsetzen konnten.

Es gab nicht viel zu erzählen, waren sie beide schließlich immer noch hinter den Sternen miteinander verbunden, als angakkuq, doch auch aufgrund des Verständnisses, welches Nanouk in Ajat misste.

Dank Reikis Leichtfüßigkeit selbst im Körper des schwerfälligen Jägers erreichten sie Ruudgrund am folgenden Morgen. Die südlich gelegene Hauptstadt der Provinz lag flussabwärts des Oststroms, welcher sich aus den Bächen des Zittergebirges nährte und seinen Weg selbst über die Grenze des Landes fortsetzte.

Nanouk erkannte die große Festwiese bereits aus der Ferne, als sie den Mischwald verließen, der nun bekräftigt durch Aisanas Segen, beinahe wie im Zeitraffer in den Frühling getaucht war. Die Luft war immer noch frisch doch roch nach ersten Gräsern und Kräutern und selbst die von Frost zerstörten Knospen hatten einen zweiten Versuch gewagt.

Zartes Rosa neben kräftigem Rot und Grün sprenkelte die Landschaft, als sie die vom Tauwetter matschige Straße entlangwanderten. Es hatte noch nie einen Frühling gegeben, den Nanouk derart genossen hatte, wie diesen.

Reiki ließ sie absitzen und holte tief Luft. »Hier sind wir also. Auf der anderen Seite.«

Nanouk nickte andächtig und beobachtete den Trubel auf der mit Wimpeln verzierten Fläche. »Im Danach.«

Es war ein Fest, wenngleich der Anlass von schwermütiger Natur war, entschied sich hier doch das Schicksal über sie alle, welches Nanouk die vergangenen Jahre insgeheim wohl doch vermisst hatte. Sie war erleichtert zu sehen, wie frohgemut die Menschen selbst solch einen Anlass nutzten, um zu feiern und am Leben zu sein.

Versprich mir, dass du leben wirst.

Nanouk schluckte. »Danke, Sina-wa'siulliq

Reiki neigte den Kopf. »Ich habe zu danken.«

»Das hier alles hört sich verdächtig nach einem Lebewohl an.«

Reiki summte nachdenklich und Nanouk stellte fest, dass seine roten Haare nun im aufbrechenden Land und zwischen dem erblühenden Leben gar nicht mehr so Fehl am Platz wirkte, wie in den weißen Schneisen des Zittergebirges. Nao hatte behauptet, dass das Rot die Farbe der Lebenden war und Nanouk hatte ihm stumm widersprochen. Sie tat es immer noch, doch erlaubte es sich nun zumindest, diesem Gedanken einen Raum zu bieten. Rot mochte nicht die Farbe der Lebenden sein, doch ebenso wenig die der Gewalt.

Es war eine Farbe, wie jede andere, die vom Leben erzählte, mehr nicht. Vögel, Säuger und Insekten richteten sich nach dem Rot in Form von Früchten, Warnsignalen und Tarnung, war weder gut noch schlecht.

»Es wird niemals ein endgültiges Lebewohl sein«, sagte Reiki schließlich. »Selbst nach dem Tod gibt es eine letzte Begegnung hinter den Sternen.«

Nanouk lächelte ihm wehmütig zu. »Doch bis dahin, hoffe ich einfach, dass du mir ab und an zuhörst.«

Reiki nickte. »Natürlich. Ich komme zu dir zurück, wenn du mich brauchst. Schließlich hat durch meinen Schwur wohl ebenfalls ein wenig Menschlichkeit auf mich abgefärbt.«

Er runzelte die Stirn und Nanouk legte den Kopf schief. »Es klingt, als bedrücke dich das.«

Doch Reiki summte nur nachdenklich. »Nein, es bedrückt mich nicht, uki. Doch es wirft einige Fragen in mir auf. Ob die Ewigen und alles, was sie befehligen am Ende nicht ebenfalls etwas sind, das sich ganz natürlich in jedem Menschen widerspiegelt. Schließlich«, sinnierte er, »besitzt ein jedes Lebewesen Sina-was Atem, einen Teil seiner Macht. Vielleicht war es diese Welt, die uns schlussendlich zu dem machte, was wir nun denken, zu sein.«

»Doch es gibt die Ewigen seit jeher«, hielt Nanouk dagegen. »Es gab euch lange vor uns.«

Reiki wiegte den Kopf in der nach Blumen duftenden Brise. »Ja und nein. Mich, so wie ich heute vor dir stehe, gab es nicht immer. Ich weiß nicht, was das alles bedeutet«, lächelte er dann und hob die Schultern, »doch ich denke, dass es einen Grund gibt, weshalb es die Glyphe der angakkuq gibt, weshalb es Bindungen gibt, die euch ermöglichen mit den Gemütern der Ewigen in Verbindung zu treten. Und solche Bindungen«, zwinkerte er ihr zu und Nanouk lächelte breit, »reichen stets in beide Richtungen.«

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Nanouk mischte sich unter das Volk und wanderte durch das Fest, ließ sich treiben und erlaubte es sich in dem freudigen Gelächter unterzugehen. Sie hielt nach Adassett Ausschau, doch war es nicht sein kräftiger Rücken, den sie als erstes erblickte, sondern zwei funkelnd blaue Augen, die ihre Aufmerksamkeit auf sich zogen und nach ihr verlangten.

Nanouk trat aus dem Trubel an ihre Seite, wo sie zwischen den Birken stand und das Geschehen begutachtete. Die ehemalige Herrin Wallheims sagte für einige Augenblicke lang nichts, ehe sie scharf Luft holte und diese wieder ausseufzte.

»Ich bin nicht hier, um zu urteilen, noch um mich einzumischen«, sagte Ayiela. »Ich habe Atashoq seinen Pelz zurückgebracht, wie du es mir gesagt hast. Anfangs dachte ich, Anuris Glyphe wäre Unfug, aber dann ... sah ich die Sterne.«

»Hat er dich angehört?«

Ayiela schluckte, als sie den Blick abwandte und in die Ferne spähte. »Er sagte, Atashoq'siulliq wäre in dieser Form für immer von uns gegangen. Dass er seinen Ersten nicht wieder auferstehen lassen könnte.«

Nanouk nickte.

»Aber er hätte mein Herz geprüft und erkannt, dass ich jenen Funken besäße, welcher in ihm selbst loderte, wann immer er törichten Jägern, die einsam in der Nacht umherschlichen, nach hetzt.»

Nanouk nickte leicht, als sie an Ayielas eisernen, zerstörerischen Überlebenswillen dachte, der bisher immer dafür gesorgt hatte, dass sich ihr niemand in den Weg stellte.

»Er hat mir vergeben, vielleicht auch wegen der Verderbtheit in meiner Seele. Für die Dinge, die ich opferte, um meine eigenen Schützlinge zu retten. Für denjenigen, den ich opferte, obwohl er von allen am ehesten meinen Schutz benötigt hat. Es gibt daher noch eine Sache, die gemacht werden muss.«

Nanouk betrachtete die Dame neugierig und stellte fest, dass sie zwar erschöpft wirkte, doch nicht so, als wäre sie dem Tode nahe. Sie war in schlichten Pelz gekleidet, keinerlei Schmuck verzierte ihre Gestalt und mit ungeschminktem Gesicht sah sie dennoch wunderschön aus. Das, was Atashoq getan hatte, musste sich von ihr gelichtet haben. Dann erblickte Nanouk eine Tasche, die Ayiela bei sich trug und noch ehe sie etwas sagte, wusste Nanouk, was sich darin befand.

»Du kannst ihn mir geben«, sagte Nanouk leise und Ayiela holte scharf Luft. »Yukas Mantel. Du kannst es mir überlassen, ihn zurück zu bringen.«

Ayiela schluckte kräftig und streckte dann den Arm aus. »Ich habe mir geschworen, es selbst zu machen«, fing sie leise an zu sprechen und rieb sich die Hände gegen die Kälte, als Nanouk die Tasche an sich nahm. »Ich war davon überzeugt, dass ich zu seinem Altar gehen und den Mantel zurückgeben würde.«

Nanouk wartete in der Stille zwischen den Birken darauf, dass Ayiela fortfuhr. Sie wollte sie nicht drängen und Ayiela straffte schließlich ihre Schultern.

»Ich habe ein Waisenhaus eröffnet«, fuhr sie stockend fort. »Maha ... sie ist ebenfalls hier, aber ich musste das hier alleine regeln. Ich würde mich gerne bei dir bedanken«, würgte sie hervor und Nanouk erkannte mit Schreck, wie sich die Tränen in ihren Augen sammelten.

»Aber ich kann es nicht. Ich kann dir nicht dafür danken, auch, wenn du mir damals die Lilie geschenkt hast. Es fühlt sich falsch an, zu danken, wenn ich Yuka-«

Ayiela brach ab und zog ein Taschentuch aus dem Mantel, das sie dann zwischen ihren bebenden Händen zerknüllte.

»Seine letzten Worte galten ebenso dir«, setzte Nanouk vorsichtig zu sprechen an. »Er bat mich dir zu vergeben. Du schuldest ihm keine Rechenschaft. Er wusste längst, was er dir bedeutet hat. Und er ging genau so, wie er gehen musste.«

Ayiela schluchzte auf und drückte sich das Taschentuch aufs Gesicht. »Ich habe versucht zu vergeben«, sagte sie schließlich. »Aber es ist schwerer, als ich je angenommen habe.«

»Ich weiß«, murmelte Nanouk und legte Ayiela eine Hand auf die Schulter. »Es ist ein harter Weg, aber du beschreitest ihn schließlich nicht alleine. Wenn du jemals jemanden brauchst, der dich stützt, der dir den Weg weist ... finde mich. Ich bringe dich zu Etamashuks Altar, wenn du bereit dafür bist. Du hast alle Zeit der Welt, wenn Atashoq dein Gebrechen nahm.«

»Das hat er«, wisperte Ayiela und stieß den Atem heftig aus und blickte Nanouk fest in die Augen.

»Na also. Viel Glück, Ayiela«, nickte Nanouk und reichte ihr die Hand.

»Dir ebenso, Nanouk«, antwortete Ayiela und drückte Nanouks Hand fest.

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Nanouk fand Adassett schließlich nach dem Beschluss über die neuen Machtverteilungen abseits des Festes an den Ufern des Oststroms. Er blickte den Fluss abwärts, wo sich die ersten Sommervögel tummelten und wirkte in Gedanken versunken.

Als er sie jedoch kommen hörte, wandte er sich ihr zu. Nanouk blieb neben ihm stehen und verschränkte die Finger ineinander. »Keine Freude mehr an Festlichkeiten?«, fragte sie nach einer unangenehmen Weile der Stille, weil sie das Gefühl hatte, dass es etwas gab, das Adassett ihr verschwieg.

Doch Adassett stieß ein belustigtes Schnauben aus. »Ich denke, von Festlichkeiten habe ich die nächsten Jahrzehnte die Schnauze voll.«

»Wem sagst du das.«

Nanouk lächelte, doch wagte nicht, sich zu bewegen, bis Adassett ein Seufzen ausstieß und sie vorsichtig in den Arm nahm.

»Du hast mir gefehlt, Nanouk«, sagte er leise und sie erwiderte seine Umarmung fest.

Sie vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter. »Du mir auch. Alles wird jetzt anders, nicht wahr?«

»Das ist doch aber etwas gutes. Ich kann es nicht erwarten, dass alles anders wird. Veränderung ist jetzt vielleicht das wichtigste.«

»Wird sich das zwischen uns auch verändern?«

Nanouk drückte sich aus seiner Umarmung, um seinen Gesichtsausdruck lesen zu können und Adassett lächelte wehmütig. »Kommt drauf an, wohin du unsere Bekanntschaft führen willst.«

Nanouk unterdrückte ein Lächeln und rollte mit den Augen. »Ich meinte eher ... wirst du jetzt fort gehen?«

»Nein«, antwortete er und Nanouk atmete erleichtert aus.

»Ich dachte vielleicht, weil du nun selbst gehen kannst, wohin du willst, keine Pflichten mehr hast und ich kann verstehen, wenn du sämtlichen Erinnerungen dort oben den Rücken kehren willst.«

Adassett hob eine Augenbraue. »Die Fürsten mögen beschlossen haben, sich auf eine neue Regierungsform zu einigen, welche sich aus mehreren Parteien zusammensetzt, doch glaube ich für keine Sekunde, dass dies das Ende ist. Hast du denn vor, weg zu gehen?«

Nanouk schluckte. »Nein. Ich bleibe und helfe dem Land, meinem Dorf, meiner Provinz. Lerne von Anuri, um zu verhindern, was uns widerfahren ist. Ich möchte nicht, dass noch einmal jemand auf die selbe Weise wie ich leiden muss. Oder ein Leben voll verpasster Möglichkeiten bedauert. Ich bleibe. Und ich hatte gehofft, dass ich dieses Leben mit dir verbringenkann. Mit dir und Ajat. Für immer.«

Adassett fing daraufhin an breit zu grinsen. »Ajat also, ja?«

Nanouk strich sich beschämt die Haare aus dem Gesicht und hob murmelnd die Schultern. »Er ist ein Teil meines Lebens, ein Teil von mir und ich möchte ihn nicht missen. Ich hoffe, dass ist kein Problem für dich«, fügte sie zaghaft hinzu und warf Adassett einen nervösen Blick zu.

Doch dieser lachte herzhaft auf. »Ich hatte schon gebangt, er hätte dich in den Wind geschossen, nachdem du versäumt hast, ihm Zuckermarillen zu bringen!«

»Du bist nicht komisch!«, schnappte Nanouk und schlug ihm heftig auf die Schulter.

Adassett duckte sich unter einem weiteren Schlag davon und packte ihre Fäuste. »Und nein, das ist überhaupt kein Problem für mich. Ich weiß nach all den Wochen immer noch nicht, was es ist, das wir sind, doch was es auch ist, ich möchte es nicht verlieren. Und ich würde mich freuen, Ajat endlich kennen zu lernen.«

Nanouk grinste. »Weißt du, so verschieden seid ihr gar nicht.«

»Ich weiß nicht, ob das eine Beleidigung seines Charakters sein soll«, warf Adassett ein und Nanouk hieb erneut nach ihm. »Was? Er ist objektiv betrachtet die bessere Wahl, ohne blutige Vergangenheit und ohne Zwangsstörung.«

Nanouk rollte mit den Augen. »Weißt du, was Reiki mir sagte? Dass es vielleicht eben jene Gebrechen waren, die mir dort oben den Weg wiesen. Ich fürchte mich nicht vor deiner Vergangenheit oder deinen Zwangsstörungen. Du hast es selbst gesagt, es wird jetzt alles anders. Ich habe mit Ajat gesprochen. Auch, wenn er sich nicht sicher ist, ob wir funktionieren, möchte er es auf alle Fälle versuchen.«

Adassett stieß die Luft langsam durch die Nase aus und nickte schließlich. »Ich dachte nur ... nach allem wäre es eine Erleichterung für dich, wenn du mit sämtlichen Erinnerungen am Palast abschließen könntest. Und das würde ich akzeptieren.«

»Bist du verrückt?«, entrüstete sich Nanouk und Adassett schmunzelte aufgrund der Heftigkeit in ihrer Stimme. »Ich habe die letzten Wochen keinen Tag verbracht, ohne mich nach dir zu sehen. Nach jemandem, der ... das alles versteht

Adassetts Grinsen wurde eine Spur schmäler und verschwand schließlich ebenso, wie Nanouks Vorsatz, seine Dummheit aus ihm herauszuschlagen. »Ich weiß, was du meinst. Und auf Dauer wird Kamu doch ein wenig zu ...«

»Mürrisch?«

»Mürrisch, ja. Er hat mich aus dem Loch gezogen, ein Unterfangen, das ohne seine Miesepetrigkeit vermutlich nie gefruchtet hätte, doch gibt es Dinge, die man eben nicht unbedingt gerne mit seinem Ersatzonkel bespricht. Und Jokim ist mittlerweile vollends mit Inja beschäftigt ...«

Nanouk griff nach Adassetts Hand und verschränkte ihre Finger ineinander. »Ich würde mich freuen, wenn ich dich als festen Bestandteil meines Lebens betrachten darf. Auch, wenn du dachtest, ich wäre tot und daher mein Jagdmesser an meine Erzfeindin verschenkt hast.«

Adassett holte scharf Luft. »Dieser ganze Abend, Nanouk ... war ... ist unverzeihlich.«

Nanouk drückte seine Hand, die er ihr entziehen wollte und summte. »Nein, ist er nicht. Wir beide haben reagiert, wie es uns in dem Moment möglich war.« Sie warf ihm einen festen Blick zu und lächelte, bis er dieses erwiderte.

»Und wieder werde ich mit meinen eigenen Waffen geschlagen, schäm dich, Nanouk.«

Nanouk schnaubte. »Und Reiki war derjenige, der für deine Entscheidung eingestanden ist. Er wusste, dass Nao dich missbrauchen würde, dass er unsere Verbindung missbrauchen würde. Du musstest gehen.«

Adassett sagte eine Weile nichts darauf, doch sie wechselten einen langen Blick, der Bände sprach.

»Weißt du, als ich dachte, du wärst tot«, fing Adassett dann langsam an zu erzählen. »Als ich angenommen habe, dass ich dich nie wieder sehen würde, als das Licht erloschen ist und sämtliches Leben aus dem Gleichgewicht gerutscht ist.«

»Ja?«

»Ich bin gegangen, weil ich wusste, dass ich nur so eine weitere Möglichkeit hätte, dem allen ein Ende zu setzen. Aber ich ging ebenso, weil ich der aufkommenden Angst, du seist getötet worden, entfliehen wollte. Ich gab dein Messer fort, weil ich gehofft habe, dass Inja es gebrauchen konnte, während es für mich bloß eine Erinnerung all der furchtbaren Dinge, die ich dir angetan habe, gewesen wäre. Und«, fuhr er andächtig fort, als Nanouk ihn betroffen anblickte.

»Und es war schließlich Inja, die meinte, dass du nicht tot wärst. Sie war felsenfest davon überzeugt, dass du – ich lass hier einige Bezeichnungen wegfallen, um diesen magischen Moment nicht zu zerstören.«

Nanouk lachte und rollte mit den Augen. »Ich bin mir sicher, ich halte aus, was sie über mich zu sagen hat.«

Adassett lachte ebenfalls abgehackt und atemlos. »Sie war davon überzeugt, dass du niemals brechen würdest, selbst nicht durch Nao. Und sie hatte Recht.«

Nanouk holte leise Luft und schluckte. »Danke, dass du mir das sagst. Auch, wenn es mich wundert, was dir die Auffassung verschafft hat, gerade Inja als deine Spionin einzusetzen. Sie hasst dich.«

Adassett runzelte die Brauen. »Das tut sie. Doch was sie mehr gehasst hat, waren ihre eigenen, gebundenen Hände. Es überrascht mich überhaupt nicht, dass sie diese Rolle gewählt hat. In ihr herrscht ein tosendes Meer aus Flammen, das bloß darauf gewartet hat, ein Ventil geboten zu bekommen. Und eventuell würde ich mich auch aufgrund ihrer zielstrebigen Vergeltungsnatur ein wenig sicherer fühlen, wenn wir einander die nächsten Monate nicht begegnen.«

Nanouk grinste. »Vielleicht sollte ich Ayiela Bescheid geben«, sinnierte Nanouk und runzelte dann ebenfalls die Brauen. »Ein Glück, dass sie anscheinend in Jokim jemanden gefunden hat, der sie liebt, oder den sie liebt.«

»Oh, nein«, wandte Adassett ein und Nanouk sah ihn fragend an. »Inja hasst Jokim, sie hasst ziemlich viel, wenn nicht gar alles und jeden. Aber Jokim lässt sich nicht davon einschüchtern, er stichelt sie bloß an und schürt diesen Zorn. Sie sind wie füreinander geschaffen.«

»Eindeutig«, lachte Nanouk. »Also du bist in Tallik jederzeit willkommen.

Adassett schenkte ihr ein erleichtertes Lächeln und dann drückte sich Nanouk auf die Zehenspitzen, um ihn endlich so zu küssen, wie sie es sich seit dem Ende dieser Schreckensherrschaft ausgemalt hatte.


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