⫷ Kapitel 61: Die Brücken der Ewigen ⫸

Je näher sie dem Palast kamen, desto klar umrissener wurden auch die Tariaksuk. Ihre langen Gliedmaßen schälten sich aus dem Dunkel der Nacht und ihre funkelnden Augen, welche die Gestalt von Sternen annahmen, durchbrachen sämtliches Dickicht des Waldes. Ijiraq war da.

Nanouk erkannte seine groß gewachsene Gestalt, das spitze ausladende Geweih eines Karibus und die rot glühenden Augenhöhlen in seinem knöchernen Tierschädel. Er war ein Monstrum, ein menschenfressendes Monstrum, welches selbst in der Nachwelt unter den Tariaksuk für Schrecken sorgte, doch selbst diese kümmerten sich nicht um den Dämon in ihrer Mitte. Scharten sich um ihn, als warteten sie darauf, dass er ihnen mit dem Arm einen stummen Befehl erteilte.

Sämtliche Augenpaare, so leer sie auch waren, richteten sich auf die Spitze des Gebirges aus, als der mächtige Schneebär aus dem wallenden See aus Schatten trat und auf seinem Rücken eine Bindung trug, die sie allesamt von Heute ins Morgen bringen sollte.

Nanouk schluckte, als sie zwischen dem felsigen Ufer die Anfänge einer steilen Treppe erblickte und mit Schrecken erkannte, dass sich der schwarze Kristall langsam aber gewiss einen Weg von dem weißen Altar in seiner Mitte bis hinunter in die Brandung gebrochen hatte.

Adassett würde von Süden her kommen, einem versteckten Pfad folgend, welcher ebenfalls von seiner Spionin in Absprache mit Saghani ans Licht befördert worden war und Nanouk wunderte sich, wer seine Spionin sein könnte und was sich in dieser einen Woche zugetragen haben mochte. Sie erinnerte sich an keine einzige Frau unter seinen Männern.

Es gab keine Ansprache, keinen Schlachtruf und kein Wort über Ruhm und Ehre. Die stummen Tariaksuk wogten hin und her, als sich ihre weichen Gliedmaßen zu harten Krallen verfestigten und ihre Gesichter wie aus Nebel ans Mondlicht drangen. Eingefallene, tote Gesichter, die mehr mit Ijiraq gemein hatten, als Nanouk lieb war. Sie traten durch die Membran der beiden Welten und machten sich damit verwundbar. Im Diesseits getötet, verblasste ein Tariaksuk für immer.

Nanouk wünschte, sie könnte ihnen mitteilen, wie sehr sie jeden einzelnen von ihnen bewunderte, wie dankbar sie für ihren Mut war, doch sie fühlte, dass die Tariaksuk dies ohnehin wussten.

Du bist für diesen Augenblick ein Teil von ihnen, erklärte Reiki und Nanouk blickte hinunter. Teil der Toten und Teil der Lebenden. Du bist die Bindung zwischen euren beiden Welten und dessen sind sie sich allesamt bewusst. Ihr Bewusstsein ist ebenso deines.

Nanouk stieß die Luft zittrig aus und nickte. »Dann lass uns die Brücken schließen und einen Eid brechen«, sagte sie mit fester Stimme und vergrub ihre Hände im dichten Pelz Reikis.

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Sie nahmen nicht die Treppe an den Klippen, sondern suchten sich einen Weg durch das stille, verschneite Dickicht an den Hängen des Zittergebirges, bis die steilen Felswände spitz und zerklüftet vor ihnen aufragten. Nanouk erinnerte sich an ihre Ankunft, an die Nacht, als sie unter dem Sternenzelt erwacht war, gehüllt in den Pelz, der sich nun zwischen ihren Fingern wie ein sanftes Feuer anfühlte.

Sie dachte, dass die steilen Hänge ein Problem sein würden, doch die Tariaksuk glitten an ihnen empor, als besäßen sie keinerlei Schwerkraft und auch Reiki sprang so leichtfüßig an den kantigen Felsen empor, dass Nanouk ein wehmütiges Ziehen durch die Brust schnitt. Ohne Reiki wäre sie nicht einmal aus dem Palast entkommen.

Aber du hast mich befreit, hielt Reiki dagegen und Nanouk zuckte zusammen, als sein Geist in ihrem mithörte. Reiki lächelte. Wir alle hören dich, kleiner Bär. Traue dir selbst ein wenig mehr zu, als bloß ein Eiskristall im Sturm zu sein.

Nanouk schluckte, doch nickte.

Vorsicht, warnte Reiki und sein mächtiger Körper hielt zwischen den Schatten im bleichen Mondlicht an. Nanouk blickte an ihm herab und erkannte zwischen den aufgeworfenen Schneewehen glatten, kalten Kristall schimmern. Die scharfkantigen Splitter aus schwarzem Mineral bohrten sich durch das Dickicht und obwohl die Tariaksuk eine feste Gestalt angenommen hatte, verschwammen sie dennoch mit den tiefen Schatten unter den Bäumen.

Nao hat sämtliches Leben ... , fing Reiki behutsam an und Nanouk ließ ihren Blick umherschweifen.

Nicht nur der Boden war aufgebrochen und zerrieben, sondern auch aus den Stämmen der Tannen quollen scharfkantige Kristallsplitter hervor, als hätte sein Wahnsinn die Lebensenergie zerfetzt. Als wäre sie beim Bersten ebenso erstarrt, wie das goldene Licht, welches unter Naos Verfall verdorben worden war.

Nanouk erkannte zwischen den spitzen Splittern totes Getier. Vor allem bis zur Unkenntlichkeit zerrissene Vögel bedeckten den Schnee und Nanouk holte erschrocken Luft. Eine endlose, unheimliche Stille ruhte zwischen den toten Bäumen und selbst im Diesseits fühlte Nanouk das unnatürliche Schweigen, das so endgültig war, dass nicht einmal Ninri wagte zu atmen.

»Wie kann sich Saghani dagegen gewehrt haben?«, hauchte Nanouk und schluckte hart.

Sie trägt die Macht Atashoq'siulliqs, ertönte mit einem Mal eine tiefe, kehlige Stimme, die voll und weit, endlos und hohl wie das Meer klang. Ihre Kiefer sind stärker als das verdorrte Leben, kleine Bindung.

Nanouk blickte sich um und erkannte Akhlut, der sich zwischen den aufgerissenen Kristallsplittern einen Weg bahnte.

Sie hat mich selbst beinahe damit zerbissen. Wenngleich es nur ein Leichnam ist, den sie führt, besitzt jede Faser Atashoq'siulliqs eine inhärente Macht auch über den Tod hinaus.

Reiki stieß ein sanftes Brummen aus und folgte den Tariaksuk, die sich schließlich um die hohen, abweisenden Palastmauern scharten.

Schließt den Ewigen der Seele ein, wies Reiki ihnen schließlich und die stummen Körper betrachteten den Schneebären mit glühenden Augen. Macht ihn blind, versperrt sämtliche Auswege. Haltet ihn fern von meinem Altar und vor allem, hindert ihn daran heute Nacht Leben zu nehmen.

Und die Tariaksuk blickten zu Ijiraq, der im beinahe gleißend hellen Mondlicht über ihnen thronte und seine roten Augen auf den Advokaten des Lebens richtete. Er sprach kein Wort, als er den Kopf neigte, seine breiten und dennoch spindeldürren Schultern streckte und heißen Atem aus den eingefallenen Nasenschlitzen blies.

Nanouk schauderte, als der böse Geist vollkommen geräuschlos in den Schatten verschwand und daraufhin der stille Aufmarsch begann.

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Nanouk schloss die Augen, als Reiki sie über die Mauer trug und fühlte in sich und in die Welt hinaus. Vielleicht war es ihre Nähe zu Reiki, doch es fiel ihr beinahe spielend einfach hinter die Sterne zu blicken, während sie in Vollbesitz ihres Körpers blieb. Sie suchte nach dem lichtschluckenden Dunkel und versuchte sich nicht davon ablenken zu lassen, dass sie hier irgendwo Adassett finden würde. Oder Saghani.

Reikis kräftige Beine brachten sie durch den Nadelwald und eine kühle Furcht beschlich sie von allen Seiten, als sie samt der anderen Geister durch den Blutwald glitt. Hier gab es so viel Tod, so viel des erdrückenden Geruchs nach Moder und Kälte, so viel Dunkelheit, selbst hinter den Sternen, dass Nanouk die Luft anhielt.

Die Bäume waren hier ebenso wie am Berghang zerborsten, kein Schimmern verriet mehr ihr Leben und kein Getier versteckte sich unter den toten Nadeln. Es war, als hätten sie das Jenseits betreten, waren weit hinter Pakas Fluss getreten und direkt in Ninris Arme gelaufen.

Fürchte dich nicht, summte Reiki. Du weißt, dass selbst das Unbelebte nicht einsam ist. Ninri ist eine ebenbürtige Ewige Sina-was. Selbst der Tod ist nicht das Ende. Selbst die lichtlose Welt bietet den Raum für einen Neuanfang. Für Fantasie und Träume, die nur durch die Abwesenheit sämtlicher Dinge möglich sind.

»Aber es schmerzt, dass diese Lebewesen gehen mussten, ehe ihre Zeit gekommen ist.«

Gräme dich nicht ihretwegen. Auch der tote Baum trägt einen Geist in sich.

Sie erreichten Wallheim und Nanouk hielt die Luft an, als sie gedanklich eine Präsenz fühlte, die gehetzt, doch zielstrebig durch den Wald hier strich.

»Ayiela!«, rief Nanouk laut und Reiki setzte sich in Bewegung, änderte die Richtung und brachte sie näher zu dem stattlichen Herrenhaus, das sie einst so warm willkommen geheißen hatte.

Das Brechen und Knacken von Gestein und das helle Knirschen von Glas hallte durch die Nacht, als sie Ayiela endlich fanden. Gehüllt in Atashoq'siulliqs Pelz ging sie auf den schwarzen Kristall los, verbiss sich in den Splittern und zerbrach sie zwischen ihren Kiefern. Blut tränkte ihre Schnauze und benetzte ihren Pelz, als die Wölfin mit einem tiefen Knurren an dem leblosen Mineral riss.

Sie hielt ein, als sie den Schneebären merkte und ließ mit einem Keuchen davon ab, leckte sich die blutbesudelte Schnauze und stieß ein weiteres Knurren aus.

Nanouk. Wie erheiternd, schnitt Ayielas Stimme durch Nanouks Kopf und sie hielt erschrocken die Luft an. Ich kann es kaum eine Freude nennen. Was wollt ihr?

Die saphirblauen Augen der Wölfin wanderten zu Reiki, erkannten ihn und die Wölfin stieß ein kehliges Grollen aus. Reiki, in all seiner Pracht. Gelöst von seinem Sklaventreiber, wie ich merke.

Sei gegrüßt, Wallwacht.

Ayiela ließ ihre Zunge in angestrengtem Atem aus dem Maul hängen, als das dicke, dunkle Blut an ihren Fängen herabtropfte und den Schnee verfärbte.

Nanouk schluckte heftig, als sie erkannte, wie rigoros sie den Kristall bearbeitete, der sich Meter für Meter auf das Leben in seiner Mitte zuschob, als erfühle er das goldene Licht hinter den Sternen in ihnen. Als lechzte Naos Wahnsinn danach, es zu zerschmettern und zu trinken.

»Wir sind hier, um Nao zu stürzen«, erklärte Nanouk und wischte ihre schwitzigen Hände in ihrer Hose trocken. »Dich zu retten.«

Die Wölfin schnaubte herablassend und ließ sich auf die Hinterläufe sinken. Ihre Vorderbeine zitterten vor Anstrengung. Du hast dein Versprechen nicht erfüllt, knurrte sie und fixierte Nanouk zornig. Alleine deinetwegen kämpfe ich seit Tagen um das Leben derjeniger, die ich retten konnte.

»Du bist seit Tagen auf den Beinen, um den Tod aufzuhalten?«

Die Wölfin knurrte erneut, doch lag hinter dieser Geste keine Schärfe mehr, keine Kraft und Nanouk stellte beklommen fest, wie ausgelaugt sie war. Es ist vergebens. Der Kristall wächst immer zu und ich spüre meine Kiefer nicht mehr. Es ist das Ende.

»Nein«, widersprach Nanouk. »Es ist der Anfang. Ich bringe uns in den Morgen, ich verspreche es.«

Ayiela blieb stumm.

Raste jetzt, sagte Reiki. Du hast genug getan.

Du versprichst recht viel, klang Ayielas Stimme in Nanouks Kopf. Ich frage mich, wen du damit belügst. Dich, oder diejenigen, denen du deine Hilfe versprichst.

Nanouk biss die Zähne zusammen. »Wir werden Nao Einhalt gebieten, wenn du dich uns anschließen willst.«

Natürlich, schnaubte Ayiela mit angelegten Ohren, doch blieb wo sie war.

Und dann setzte sich Reiki wieder in Bewegung.

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Sie näherten sich den hohen, kalten Wänden des Palasts, hinter dessen Mauern kein einziges Licht mehr brannte. Die schwarzen Kristalle bedeckten hier sämtliche freie Fläche und der Schneebär war gezwungen langsamer voranzuschreiten, sich durch das Labyrinth aus totem Leben zu schlängeln, bis er endlich auf einen Platz gelangte.

Es musste die Vorderseite des Palastes sein, denn über ihnen ragte die symmetrische Silhouette der Residenz hoch in den Himmel. Der Platz war zerfurcht, als der Kristall durch den Boden geschnitten war und hatte tiefe Falten und spitze Kanten hinterlassen, die sich in die eiskalte Luft bohrten.

Nanouk lauschte in die Stille und vernahm fernes Gebrüll. Alarmiert blickte sie zum Palast hinüber, als sie merkte, dass das Geschrei von dort kam. Sie erkannte dunkle Schemen, die an den Wänden empor kletterten und sämtliche Ausgänge blockierten, doch das waren die ihren und die Tariaksuk schrien nicht.

»Ist das Adassett?«, hauchte sie und der Schneebär knurrte.

Neben ihnen brach Geäst im Unterholz und ihrer beiden Aufmerksamkeit richtete sich augenblicklich danach aus.

»Nanouk?«, erklang eine ihr vertraute Stimme und obwohl Nanouk erahnte, zu wem sie gehörte, war sie dennoch verdutzt, als sie fuchsfarbenes Haar erkannte, das im schwachen Mondlicht aufblitzte.

»Inja?«

Das Mädchen blickte sie mit einem Schnauben an und winkte zurück in den Wald. »Ich hatte Recht.«

»Womit?«

Inja lächelte kalt und dann trat ein Mann neben sie, den Nanouk eindeutig erkannte. Sein flachsblondes Haar schimmerte weiß in der Nacht, als Jokim seine Kapuze abnahm und ihnen einen feindseligen Blick zu warf.

»Ist Adassett da drin?«, wollte Nanouk wissen und war bemüht, von Reikis Rücken zu rutschen, doch dieser stieß nur ein dumpfes Grollen aus und zog die Schultern hoch, damit sie nicht abrutschen konnte.

»Er lockt den König heraus«, sagte Inja. »In einen Hinterhalt.«

»Er ist alleine dort drin?!«

Inja schnaubte. »Du sorgst dich. Wie niedlich. Doch nein. Er ist nicht alleine. Kamu und einige seiner Männer sind dort drinnen. Ich habe mir sagen lassen, dass Anuri ihnen allesamt mit deiner Hexerei weiterhilft.«

Nanouk kickte Reiki mit den Fersen. »Lass mich runter, ich muss sofort zu ihm! Das ist keine Hexerei!«

Inja schnaubte. »Wie du meinst. Doch gewöhnliche Menschen zeichnen keine Bilder und tun so, als wäre das alles, was es bräuchte, um einem tollwütigen Monstrum auf der Nase tanzen zu können.«

Der Schneebär knurrte tief und Jokim spannte seinen Bogen. »Ein Mucks und ich schieße. Was ist das? Woher kommst du? Ich kann nicht zulassen, dass du unsere Arbeit zu Nichte machst. Verschwinde, Nanouk.«

»Du kannst ihn nicht töten«, schnappte sie und hieb Reiki gegen den Kopf, damit er sie endlich absitzen ließ.

Uki, warnte er verärgert und schüttelte den Kopf. Hör auf. Wenn Adassett Nao zu uns bringt, ist uns geholfen. Du weißt, dass Nao seinen Schwur stets bei sich trägt. Doch bevor wir ihn brechen können, muss ich die Brücken freigeben und das kann ich nur an meiner eigenen. Der weiße Altar im Berg.

»Was?«, entkam es Nanouk entsetzt und sie stellte ihre Versuche ein, von Reikis Rücken zu klettern. »Du musst bis da nach unten?!«

Der Schneebär seufzte. Ja. Und ihr müsst dafür sorgen, dass Nao nicht zu mir gelangt, denn ich werde etwas Zeit brauchen.

Erst dann wechselte er die Gestalt und Nanouk spürte, wie sie auf dem Boden aufkam und keinen Moment später griff Reiki nach ihrer Hand.

»Achso«, entkam es Jokim, als er Reiki erkannte und senkte langsam den Bogen, ehe er ihn misstrauisch wieder hob.

»Das war nicht der Plan!«, fauchte Nanouk und blickte Reiki ins Gesicht. »Ich werde sicherlich nicht hier draußen warten, während du dein Leben riskierst!«

»Nanouk«, meinte Reiki beschwichtigend. »Ich bin das Leben. Im Notfall entschwinde ich in die Schatten. Nao mag mächtiger sein als ich es bin, doch bin ich immer noch einer der Ersten. Vertrau mir. Er trägt seinen Schwur immer bei sich und ihr müsst ihn an euch nehmen. Seid vorsichtig«, wandte er sich schließlich auch an Inja und Jokim.

»Warum muss hier alles voller Gespenster sein?«, knurrte Jokim und sah über alle Maße unbehaglich aus. Inja warf ihm einen belustigten Blick zu, schien aber der gleichen Meinung zu sein, sagte jedoch nichts.

Nanouk biss die Zähne fest zusammen und schaffte es nicht zu nicken. Stattdessen blickte sie Reiki bloß tief in die Augen. »Komm zu mir zurück, hörst du?«

Reikis Augen funkelten. »Natürlich.«

Und dann war er fort. Nanouk erkannte nur noch einen Raben, doch dieses Mal jenen, der sie damals vor so vielen Wochen auf dem Schneepfad gerettet hatte, der in den Himmel schoss und samt ihres Armbandes ins Innere des schwarzen Palastes schlüpfte.

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Nanouk ließ sich von Jokim und Inja erklären, was ihr Plan war und machte ihnen im Gegenzug klar, dass sämtliche Geister heute Nacht, so unheimlich sie auch wirkten, auf ihrer Seite standen. Genauso wie Reiki, ein Umstand, der von den meisten mit Misstrauen erfasst wurde. Die Männer, welche mit gezückten Klingen und gespannten Bögen im dunklen Dickicht warteten bedachten Nanouk beunruhigt.

Sie würden Nao mit Pfeilen durchbohren, sobald er ans Licht kam und Nanouk versuchte ihnen mitzuteilen, worauf sie sich gefasst machen sollten. Keinen Menschen, sondern ein Ungetüm, gekleidet in den Tod selbst.

»Beruhigend«, knurrte Jokim und Nanouk kniff ihre Lippen zu einem festen Strich zusammen.

Sie blickte immer wieder zwischen den Toren und den versteckten Bogenschützen hin und her, die sich um den gesamten Platz aufgestellt hatten und wurde mit jeder verstreichenden, stillen Minute unruhiger. Wo blieb Adassett? Wo blieb Reiki?

Inja streckte sich neben ihr und schüttelte die Hand aus, mit welcher sie den Bogen hielt und stellte ihn schließlich ab. Nanouk beobachtete sie dabei eingehend und fragte sich, woher Inja überhaupt wusste, wie man mit Waffen umging. Sie hatte sich verändert und Nanouk stellte fest, dass in ihren wasserblauen Augen im Gegensatz zu ihrer zornigen Furcht in Wallheim nun ein resoluter Funken aus Selbstsicherheit glomm.

Ihr Blick wanderte an ihrer festen Woll- und Lederkleidung herab und blieb schließlich an ihrem Gürtel hängen. Sie öffnete den Mund, doch kam kein Laut über ihre Lippen, als sie ihr Jagdmesser dort erblickte.

Inja, der das nicht entging hob die Schultern. »Adassett hat es mir gegeben.«

»Ich verstehe«, sagte Nanouk und richtete ihren Blick zurück auf das Tor.

»Er dachte, du seist tot.«

»Beruhigend«, knurrte Nanouk zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und wünschte sich, sie hätte wenigstens daran gedacht, sich zu bewaffnen, ehe Reiki sie davon getragen hatte.

Inja seufzte und rollte mit den Augen. »Du kannst es selbstverständlich wieder haben. Ich töte lieber auf Distanz.«

Nanouk blickte zurück zu Inja, die sie mit einem hinterlistigen Lächeln bedachte und schließlich das Jagdmesser aus ihrem Gürtel zog.

»Na los. Nimm es«, forderte sie Nanouk auf und drückte ihr die Lederscheide schließlich heftig vor die Brust.

Nanouk griff aus Reflex danach und ließ ihre Finger vorsichtig um den glatt geriebenen Knochengriff gleiten. »Danke.«

Inja schnaubte nur und nahm ihren Bogen wieder auf, als ein hohes Heulen durch die kalte Nacht schallte. Der Boden erbebte, als ein fernes Splittern die Fenster des Palastes zum Bersten brachte und ein funkelnder Schauer aus Glasscherben im Mondlicht aufblitzte.

Nanouk steckte das Jadgmesser an ihren Gürtel und suchte vor sich nach Anzeichen von irgendeiner Menschenseele. Das Beben schwang zu einem Donnern um, als eine heftige Erschütterung die Vorderseite des Palast zerriss und Chaos auf die Welt hereinbrach.

Schwarzer Kristall sprühte gehüllt in dunklen Nebel in alle Richtungen, als ein gigantischer Rabe aus den herabstürzenden Trümmern hervorschoss und getroffen von dem schweren Stein hart auf den Boden schmetterte.

Nanouk stieß einen stummen Schrei aus, als ihm Nao folgte und sie mit Grauen feststellte, dass die Verderbtheit bereits seinen gesamten Körper entstellte. Als wären die Wände seines Gefängnisses bereits derart dünn gescheuert, dass kein menschliches Band mehr in der Lage wäre, ihn länger zu halten. Der schwarze Kristall hatte seinen Brustkorb erreicht, ließ seine Arme und Schultern in dunklem Glanz erstrahlen und erweckte in Nanouk das merkwürdige Gefühl, dass man ihn – ähnlich wie Glas – einfach zerbrechen könnte.

Hinter seinen Schultern bohrten sich verdrehte Splitter in den Himmel und Nanouk bildete sich ein, auf jedem einzelnen etwas zu erkennen, das sie entfernt an Augen erinnerte. Die Luft um seine Gestalt herum flimmerte und flackerte, zog die Sterne zu sich und stieß sie ab, verschluckte sie und brach in sich selbst, wann immer er sich bewegte.

»Er bricht durch die Mauer«, hauchte sie und blickte sich um. Adassetts Männer starrten mit ähnlichem Entsetzen auf das Ungetüm und es war schließlich Jokim, der sich fing und brüllend den Befehl gab zu schießen.

Das Zischen und Surren von Bogensehnen, die ihre Pfeile freigaben erfüllte die Luft und mischte sich in das Knistern von Kristall und Eis. Und erneut erfasste Nanouk zu spät, was dieses Geräusch ankündigte.

Der weiße Nebel hatte sich langsam durch das Dickicht gedrückt und sickerte um sie herum aus dem Wald. Eine eisige Vorahnung brannte sich in ihren Verstand, als Nanouk sich umwandte und erkannte, wie sich nicht nur einer, sondern ein Dutzend Eisdämonen durch das Unterholz schoben.

Nanouk stockte der Atem, als sie verzweifelt nach dem Messer an ihrem Gürtel griff, im Geiste nach Reiki rief und nach jedem noch so sanften Funken an Licht haschte, an das sie sich erinnern konnte. Doch die Eisdämonen beachteten sie gar nicht, sondern drückten sich lauernd, dann energisch an ihnen vorbei ins Freie.

Der kurze Moment der Panik und Irritation verging, als die spindeldürren Kreaturen gehüllt in Todeshauch hinaus auf den Platz sprangen, um sich gegen das Monstrum zu werfen, das auch ihr Leben beenden würde, gebot ihm niemand Einhalt. Ihre spitzen Mäuler schnappten nach dem schwarzen Kristall, der wie ein Gegenstück zu ihren hellen Körpern glänzte, ihre scharfen, langen Krallen schnitten durch den Schnee und ihre Körper sprachen in Einklang mit ihrem Geist.

Diese Nacht gibt es nur eine Beute. Diese Nacht dürsten wir nach Tod, anstatt nach Leben.

Nanouk beobachtete die Eisdämonen mit Entsetzen und dennoch mit einer merkwürdigen Dankbarkeit. Gesetzlose Natur traf es ziemlich genau auf den Punkt.

Der Rabe rollte sich unter Naos wütenden Klauen hinweg und kam wieder auf die Beine, als hätte er den Absturz gar nicht gespürt. Sie wollte unbedingt zu ihm, um zu helfen, doch das war mit der erneuten Salve an Pfeilen nicht möglich. Die Geschosse zersplitterten am schwarzen Kristall und bespickten den aufgerissenen und zerwühlten Boden.

Nao spreizte seine Splitterschwingen, die ihren eigenen Schatten seltsam verzerrt mit sich zogen, als befände sich hinter der Mauer eine weitaus größere Masse, welche ihren Schatten ebenfalls in die Welt der Lebenden warf.

Der Rabe erhob sich in die Lüfte, doch die spitzen Splitter folgten ihm, als Nao nach ihm griff, anfing zu laufen und mit einem gewaltigen Satz in die Luft sprang, um den Flug des Raben zu beenden.

»Haltet ihn auf!«, brüllte Jokim und zielte auf Naos Arm.

Neben Nanouk lösten sich Pfeil um Pfeil aus den Sehen der Schützen, doch das Holz prallte von Naos Arm ab und stellten bestenfalls ein Ärgernis dar.

Naos Krallen fuhren in Adassetts Flügel, als er ihn zu Boden riss und mit einem wütenden, unmenschlichen Kreischen seine andere Hand in sein Gefieder grub. Schwarzes Blut und ebenso dunkle Federn lösten sich aus dem Körper des Raben, als dieser mit den Krallen nach Naos Arm trat und sich in seinem Griff wand.

»Du denkst die erbärmliche Macht eines Leichnams würde mich aufhalten können?«, donnerte Naos Stimme über den Platz und bohrte sich selbst hinter den Sternen in ihrer aller Verstand. »Es braucht mehr als Sterblichkeit, um mich zu beenden!«

Nao hievte den Raben vom Boden und verpasste ihm so einen heftigen Tritt, dass er sich überschlug und knapp am Waldrand zu liegen kam. Währenddessen schlug Nao nach den Eisdämonen, die sich in seine Fersen verbeißen wollten und nach seinen Flügeln schnappten, als wären sie nicht mehr, als lästige Fliegen. Nanouk war es nicht eher aufgefallen, doch nun erkannte sie, dass Nao nicht nur seine menschliche Gestalt verloren hatte, sondern ebenfalls in Größe zugenommen haben musste. Der schwarze Rauch, welcher gespickt mit Sternen um seine Gliedmaßen wallte, erschwerte es überhaupt zu erkennen, was sich dahinter abspielte.

Naos Füße hatten sich ebenfalls zu langen Klauen verformt mit denen er beinahe mit Leichtigkeit das Rückgrat eines der Eisdämonen brach und der erstickte Schrei des Geschöpfs ging Nanouk durch Mark und Bein. Es gab nichts, das ihn aufhalten konnte, als er auf den geschundenen Raben zu stampfte, während der schwarze Kristall in seiner Spur aufbegehrte.

»Adassett!«, schrie sie aus voller Kehle und lief los, ehe sie auch noch einen weiteren Gedanken daran verschwenden konnte, dass es aussichtslos war. Doch ihr Bein knickte auf halber Strecke ein, als der Schmerz so intensiv wie schon lange nicht mehr durch ihren zerstörten Muskel schnitt und Nanouk ging zu Boden.

Nao legte den Kopf schief, als seine pechschwarzen Augen auf ihr zu ruhen kamen und er sie über den Platz hinweg anblickte, als wäre er überrascht. Doch dann richteten sich seine Augen auf einen Punkt hinter ihr und Nanouk stockte der Atem.

Sie hätte es nach ihrem Gespräch mit Ayiela nicht für möglich gehalten, hätte erwartet, dass sie bloß sich selbst und ihre Schützlingen verteidigen würde, doch als die schwarze Wölfin mit blutverschmiertem Pelz aus dem Schatten der toten Bäume hervor brach, gab es in ihrem leuchtenden Blick nichts anderes, als Vergeltung. Vergeltung, die ebenso hell loderte, wie die des Akhlut, der auf der anderen Seite des Platzes schäumend aus dem Wald brach.

Nao zu besiegen bedeutete schlussendlich die Freiheit, war der einzige Weg, um jemals wieder frei sein zu können und Ayiela würde niemals zu lassen, dass sich jemand zwischen sie und ihr Ziel stellte. Selbst ein entstelltes Wesen mit rasiermesserscharfen Krallen und der Macht eines Ewigen würde vor ihr scheitern.

Der Rabe machte einen Sprung zur Seite, als er die Wölfin erblickte, die mit gefletschten Zähnen und tiefem Knurren auf ihn zu hielt, doch ihre kräftigen Hinterläufe spannte und sich direkt gegen Nao warf. Ihre mächtigen Kiefer schlossen sich endgültig um Naos Kehle, der durch den Aufprall ihres Körpers aus dem Gleichgewicht geriet und stolperte. Akhlut prallte von der anderen Seite gegen ihn, packte Naos Bein mit seinen breiten Kiefern und bohrte seine Tatzen in den zerwühlten Erdboden.

»Halt!«, schrie Jokim und die Schützen senkten die Bögen, als es beinahe unmöglich war ihr Ziel zu treffen, ohne dabei jemand anderes als Nao zu erwischen.

Nanouk rappelte sich auf und spürte, wie eine Erschütterung durch den Berg fuhr, die gesamte Welt zum Erzittern brachte und für einen Moment teilte sich auch Nanouks Sichtfeld. Die Welt spaltete sich in Dies- und Jenseits, als der Palast vor ihnen mit einem unheilvollen Leuchten von innen heraus begann zu glühen. Das gleißende Licht drängte sich durch den halb opaken Kristall und schoss aus den zerschlagenen Fenstern in die Nacht hinaus, bohrte sich in den Himmel und brachte die Sterne über ihnen zum Brennen.

Die Welt kippte, als sich beide Ebenen übereinander schoben und Nanouk das helle Glimmen der Lebensflammen erblickte, die flackernd wie in stürmischem Wind überall um sie herum aufleuchteten.

Nanouk erkannte die unzähligen Körper der Tariaksuk, die in Naos Schatten aufblinkten und dafür sorgten, dass er auf dem Boden blieb, ihre eigenen Finger in seinen Körper bohrten, um seine Seele fest zu pinnen und ihn daran zu hindern, den Raben oder die Wölfin zu töten. Inmitten des Tumults erspähte Nanouk Ijiraq, der gemeinsam mit seinesgleichen die Schatten des Ewigen auf den kalten Kristall spannte und seine Flügel zerriss, sodass die Luft von Funkelnden Splittern erfüllt war.

Es herrschte Chaos auf der Bergspitze, als sich zwischen die unzähligen, flüsternden Geister mit einem Dröhnen auch die Körper der Lebenden mischten. Überall um sie herum schossen Wölfe und Schneebären, Krähen und Adler, Eulen und Füchse hervor, um ihre Zähne in die löchrige Substanz des Ewigen zu schlagen und ihn zu fesseln. Selbst Singvögel und Nagetiere flitzten durch das Unterholz, allesamt gerufen von dem Leben, das sie leitete.

Jokim und seine Männer zogen sich zurück, wichen dem Getier aus, bloß Inja blieb wo sie war und starrte mit einem Leuchten in den Augen auf die Zerstörung vor ihnen.

Und dann endlich, als das Licht im Palast im Jenseits so gleißend wurde, dass Nanouk beinahe die Augen zusammenkniff, obwohl sie wusste, dass es im Diesseits dunkle Nacht blieb, breitete sich eine Druckwelle über das Zittergebirge aus, die Nanouks Verstand verdrehte. Als rastete etwas in ihrem Geist ein, als fügte sich die Welt endlich wieder so zusammen, wie sie seit jeher sein sollte und ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, war sich Nanouk sicher, dass Reiki in diesem Moment die Brücken allesamt wieder geöffnet hatte.

Die Nordlichter rissen den Himmel in farbige Streifen, als Paka zurückkehrte. Die Tariaksuk stießen ein gesammeltes Seufzen aus, als ihre Körper begannen zu flackern und ihre Finger sich aus Naos Schatten lösten. Ihre Aufgabe war zu Ende.

Nanouk schleppte sich vorwärts, auf die Anomalie des Lichts zu, welche immer noch von unzähligen Mäulern auf den Boden genagelt wurde. Sie fühlte den Geist Tasevuu'siulliqs inmitten des Tosens um sie herum, spürte Atashoq'siulliq heulen und erkannte, durch Naos wütendes Gebrüll, dass er mit einer Sache Recht hatte. Es bedurfte mehr als Sterblichkeit, um einen Ewigen zu töten.

Es bedurfte mehr als Sterblichkeit, um die Bindungen zu den Ewigen zu zerstören. Und nun, da die Brücken allesamt wieder heil waren, gab es auch einen Weg zurück zu geben, was gestohlen worden war.

Naos Geist löste sich auf, als die Grenzen seines Käfigs überschritten wurden und der Ewige der Seele Zugang zu sämtlicher Macht hatte, die er sein Eigen nannte. Der schwarze Kristall explodierte um ihn herum, schleuderte Atashoq'siulliq und Akhlut von ihm und hüllte den gesamten Platz in brüllende Dunkelheit.

Nanouk achtete nicht auf die Warnrufe von Inja, schüttelte ihre Hand ab, mit der sie Nanouk zurückhalten wollte und stürzte sich mitten in die endlose Schwärze der Seele. Sie musste seinen Schwur finden und ihn brechen, damit er Heimkehren konnte.

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Es war kalt und laut, endlos und beengend, als Nanouk samt Körper und Geist auf den Ewigen der Seele zu kroch. Sie spürte die scharfen Kanten der Kristalle in ihren Fingern und gleichermaßen schob sie sich hinter den Sternen immer tiefer in die körperlose Masse des Ewigen. Sie wand sich durch Erinnerungen und Gefühle, verbrannte sich an den Schmerzen einer Existenz, die so fürchterlich waren, dass ihre eigenen kaum noch Bedeutung besaßen.

Nanouk konnte nicht sehen, wohin sie sich zog, doch tastete nach etwas, das sich anfühlte wie eine Ewigkeit, wie die Dimensionen eines Körpers unter ihren kalten, blutigen Fingern. Und dann sah sie es. Das zarte, einsame Licht inmitten all der erdrückenden Dunkelheit.

Nanouk blendete die Schreie und das Gejaule der irdischen Welt aus und drückte sich im Geiste vollständig durch die dünne Membran um Naos Verstand. Und dann war dort nur noch Stille.

Einsame, kalte Stille und die Einöde einer verlassenen Seele, die in Nanouk sämtliche Bande zu ihrem Körper und ihrer Welt kappte. Sie erinnerte sich an den Moment, als Nao sie hinter den Sternen geschnappt hatte und ähnlich jede Verbindung zerrissen war, doch dieses Mal erschien ihr dieser Umstand erleichternd.

Fort war das tosende Gebrüll unzähliger Seelen, fort war das Gewitter unzähliger Sterne und fort war die irritierende Masse an unzähligen Körpern und scharfkantigem Kristall. Hier gab es nur noch Nanouk und den Ewigen der Seele.

Du darfst endlich nach Hause, sagte sie leise, als sich das kleine Licht zitternd auf der Stelle bewegte, so völlig alleingelassen von den Sternen im Jenseits. Der Weg ist nun offen.

Gebunden, hallte ein schwacher Gedanke durch die Schwärze um sie. Geknechtet, verraten, vergessen.

Gefühle der Bitterkeit und Kränkung schwammen durch das kleine Licht und stießen leise Töne aus, die Nanouk vertraut waren. Sanftes Glockenspiel im Wind, zartes Flöten und hohes Wimmern.

Nanouk blickte sich um. Du bist nicht vergessen, sagte sie schließlich, als sie anfing in der Dunkelheit zu suchen. Die Schwärze glitt an ihren Armen und Fingern vorbei wie Tinte, als wühlte sie sich nicht durch Nacht, sondern durch beengendes Wasser.

Das Licht erzitterte und Nanouk streckte ihre Finger danach aus, fühlte die sanfte Wärme des kleinen Körpers und wurde von tiefem Mitleid erfasst. Zeig mir deine Bindung, bat sie und das sanfte Klingeln und Flöten durchflutete Nanouks Geist.

Sie kniff die Augen zusammen und erkannte schließlich ein zartes Band aus verblassendem Licht inmitten des schwarzen Sees. Sie bewegte sich darauf zu und merkte, wie ihr das winzige Licht zögerlich folgte, als hätte es selbst längst vergessen, was es einst gewesen war und wohin dieses zarte Band führte.

Lass mich gehen.

Nanouk nickte und fühlte, wie eine Myriade an Bildern dumpf in ihrem Geist aufflackerte. Sternnebel, endlose Weite, die jedoch Friede statt Angst versprach, warme Sonnen, kühle Wasser, Gefühle der Geborgenheit und der Freude. Der Neugierde. Und am Ende dieser verblassenden Sinneseindrücke ruhte eine blecherne Büchse. Lhimeliel.

Nanouk stieß die Luft aus, als das zarte Licht verblasste und die stille Dunkelheit von ihr fiel.

Die Welt kam zurück, als sich der Körper unter Nanouk regte, mit einem Klirren und Bersten von Gestein die Arme hob, um sie zu packen. Nanouks Hand lag auf der Büchse, welche versteckt unter Naos zerfetztem Wams ruhte und sie packte fest zu, als das schrille Kreischen die vorangegangene Eintracht in ihrem Geist zerriss. Mit einem Schlag waren die Qualen, die Wut und die Verzweiflung, der Wunsch nach Vergeltung und Blut wieder zurück und sie schnappte nach Luft.

»Angakkuq«, fauchte Nao und seine spitzen Finger packten sie am Unterarm.

Nanouk holte tief Luft und klappte die Büchse auf, zog das Band Papier hervor und sah Nao in die Augen. »Kehr Heim, der Weg ist frei.«

Nanouk fühlte den Namen des Ewigen tief in ihrer Brust, zerriss den Schwur und mit ihm den leuchtenden Anker in dieser Welt. »Du sollst frei von deinen Bindungen sein, Lhimeliel

Naos Augen weiteten sich, als die Welt für einige Sekunden lang still stand. Und dann fuhr ein Flackern durch die Scherben seiner Existenz, entzog ihnen die schluckende Schwärze und erfüllte sie mit gleißendem Licht, ehe sie unter den Nordlichtern aufblinkten und verschwanden.

Zurück blieb Nao, bloß ein Mensch, eine Hülle, die atemlos nach Luft rang. Der Winterkönig stürzte vor Nanouk auf die Knie und sie packte seine Schultern, um ihn vorsichtig auf den Boden zu betten. Sie wusste nicht, was sie erwarten musste, wer das hier war, doch war sich Nanouk eins gewiss, Nao war bereits tot.

Die blassen Augen des Königs glitten über ihr Gesicht und seine Brauen verzogen sich in Schmerz, als sein ausgebrannter Körper schwand. Er reckte seine zitternde Hand nach ihr und Nanouk ergriff sie, spürte, wie dünn seine Haut war und schluckte.

Nao holte ein letztes Mal stockend Luft, als wollte er etwas sagen, fand Nanouks Blick und sie nickte, als tiefe Bestürzung über sein Gesicht glitt. »Auch du darfst jetzt ruhen.«

Nao hauchte den letzten Atem seines Lebens in die stille Nacht, als sein Kopf endgültig zu Boden sank und sämtliches Leben aus seinem Geist wich.


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