⫷ Kapitel 6: Schneepfad ins Verderben ⫸
Es gab nur zwei Laternen im Konvoi. Eine trug der Mann, der sie gefesselt hatte neben dem Prinzen auf seinem Pferd und die zweite hing am hintersten Karren und bildete somit das Schlusslicht. Die Kleinsten unter der Kinderschar hatte man gnädigerweise auf einen der zwei Karren verstaut und die anderen wurden von den Soldaten mit den stumpfen Enden ihrer Speere immer wieder vorwärts getrieben.
Es war unheimlich still um sie herum, als sie einem schmalen Pfad hinauf ins Gebirge folgten. Zu beiden Seiten schloss der dunkle Nadelwald bis zu ihnen auf und im unruhigen Flackern der Laterne erkannte Nanouk nicht mehr als die rauen Stämme und schneebeladenes Unterholz. Man ging nicht bei Nacht in den Wald und schon gar nicht ins Zittergebirge.
Ihr Atem ging hektisch und das war nur teils durch ihr schmerzendes Handgelenk zu verschulden. Ihr rauschte das Blut durch die Ohren, als sie den Prinzen vor sich und ihre Umgebung argwöhnisch musterte.
Das Knirschen von Hufen und Rädern im Schnee war das einzige Geräusch in der dunklen Nacht und Nanouk versuchte ihre Panik zu unterdrücken. So weit vorne, mit dem Rücken zum Rest, konnte sie Inaak, Paali, Qiuq und keines der anderen Kinder erkennen.
Sie war viel zu tief im Wald, viel zu nahe an einem Ort, der ihr aus unverständlichen Gründen sämtliche Haare auf ihren Armen zu Berge stehen ließ. Dass sie dabei wieder an Amkas Ammenmärchen zurückdenken musste, an Dämonen und Geister, schob sie alleinig ihrer Müdigkeit zu, welche sie zur Irrationalität drängte.
Viel wahrscheinlicher war es, dass sie von einem Schneebären gefressen wurden.
Irgendwann begann es wieder zu schneien, das Knistern der Flocken erfüllte die vorherige Stille und Nanouk kam immer öfter ins Stolpern. Das Tempo war alles andere als gnädig und ihr Keuchen hallte ihr schon bald in den eigenen Ohren wieder. Ihr Handgelenk hatte zumindest einen Zustand an konstantem Schmerz erlangt, den ihr ausgelaugter Verstand dankenswerterweise in den Hintergrund zu drücken vermochte.
Doch gleichermaßen fing dieser nun an ihr Streiche zu spielen. Aus den Augenwinkeln glaubte sie gezackte Rücken zu erkennen, knochige Gelenke und zum Sprung geduckte Raubtiere. Hinter jeder Schneewehe, tief hängendem Ast oder umgestürzten Baum versteckte sich eine Monstrosität, welche nur darauf wartete, dass sie alle unachtsam wurden.
Als hätten ihre ausgelaugten Gedanken das Signal gegeben, ertönte plötzlich ein tiefes Rauschen, ein Schatten huschte über den Pfad und ließ Nanouk heftig zusammen zucken.
Das Rascheln von Flügelschlägen glitt durch die Schneeflocken und Nanouk zog instinktiv den Kopf ein. Doch als sie nach vorne blickte, ritt der Prinz nach wie vor ungerührt auf seinem nachtschwarzen Ross vornweg. Er legte gerade einmal den Kopf in den Nacken, um den tiefen Flug des mächtigen Raben zu begutachten. Nanouk folgte dem Tier ebenso mit ihrem Blick. Sie hatte noch nie so einen gigantischen Raben gesehen.
Der Vogel stieß einen lauten, krächzenden Schrei aus, der Nanouk zusammen zucken ließ, doch auch das ließ den Hünen vor ihr auf dem Pferd kalt. Der Rest des Konvois hatte den Raben ebenfalls bemerkt und Unruhe kam unter die Soldaten, doch vor allem unter die Kinder. Man hörte es Wispern und Schluchzen und selbst Nanouk sog panisch die Luft durch die Zähne, als der mächtige Vogel mit einem erneuten, dringlicheren Schrei auf den Prinzen hinab tauchte und mit seinen arglistigen Krallen am schwarzen Federkragen seines Mantels riss.
Daraufhin reagierte er endlich und er wandte sich im Sattel um, zog dabei sein Schwert aus der Scheide und starrte nach oben in die Nacht. Er sah genervt aus. Nicht verängstigt, bloß genervt und Nanouk fragte sich, was geschehen musste, damit dieses Monstrum die Fassung verlor.
»Was will er?«, fragte der Soldat an seiner Seite ebenso mürrisch, jedoch besaß er wenigstens den Anstand ein klein wenig Beunruhigung zu zeigen. Der Konvoi kam langsam zum Stillstand und das Knistern der Eiskristalle wurde mit einem Schlag lauter.
»Uns warnen. Ihr Blut-« Der Prinz brach abrupt ab und nun fand Nanouk den Ausdruck der Überraschung auf seinem Gesicht, als sich sein Blick aufs Ende des Konvois richtete. Er fluchte, laut und unschön und das Krächzen des Raben ertönte ein weiteres Mal, als ein panisches Kreischen die Nacht zerriss.
Die Angst breitete sich wie ein Lauffeuer zwischen den Soldaten, Pferden und Kindern aus, als Nanouk begriff, was vor sich ging.
»Er hat das Blut gerochen! Kamu!« Der mürrische Soldat nickte seinem Prinzen zu und trieb sein Pferd den Pfad zurück, an Nanouk vorbei, als das Kreischen abrupt abriss und an stattdessen ein heiseres, knisterndes Fauchen trat.
Nanouk war zu weit vorne, als dass sie es eher bemerken konnte, doch als sie sich nun herumdrehte, den Strick, der sie hielt, sich dabei schmerzhaft fest um ihre Handgelenke verdrehte, erkannte sie, worauf der Prinz angespielt hatte.
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Ein dichter Nebel war zwischen den gefrorenen Stämmen hinaus auf den schmalen Pfad gesickert und das laute Knistern von brechenden Eisschollen rührte nicht nur noch von den fallenden Schneeflocken her.
Eine dunkle Furcht verwandelte Nanouks Eingeweide zu kaltem Eisen, als das heisere Fauchen erneut ertönte.
»Nein«, hauchte sie, als der Prinz sein Pferd ebenfalls an ihr vorbei trieb und damit das Ross, welches den Karren zog, an den Nanouk gefesselt war, in Panik versetzte.
Das Geschrei schwoll wieder an, hallte durch die schwarze Nacht und wurde nun begleitet von dem Gebrüll der Soldaten, die versuchten den Eisdämon in Schach zu halten. Nanouk erkannte durch den Tumult eine riesige, spindeldürre Kreatur, die in weißen Nebel gehüllt im flimmernden Laternenschein kaum zu erkennen war.
»Nicht«, wiederholte sie fassungslos und riss an dem Seil, als sie nur mit ansehen konnte, wie das Monster, das es gar nicht geben dürfte, mit seinen skelettartigen Armen ausholte. Sie erkannte Qiuq, der mit vor Schreck geweiteten Augen reglos im Schnee stand, den Kopf in den Nacken legte und hinauf blickte.
»Nein!«, brüllte Nanouk aus voller Kehle, doch niemand war rechtzeitig bei ihm. Der Tumult unter den Soldaten und den übrigen Kindern blockierte die einzige Hilfe, die den Jungen vielleicht retten hätten können.
Und dann hallte das nasse Reißen von Haut durch die Nacht. Das satte Bersten von Knochen verhieß Qiuqs Tod, der rasch und endgültig gekommen war.
Körper schoben sich vor Nanouks Sichtfeld und dann wurde sie von den Beinen gerissen, die so weich waren wie gekochtes Fett. Das Ross, welches vor den Karren gespannt war, bäumte sich panisch auf und stemmte sich ins Geschirr, versuchte dem Gemetzel hinter sich zu entkommen und Nanouk blieb nichts anderes übrig, als atemlos mitzuhalten, wenn sie nicht unter die schweren Räder gezogen werden wollte.
Sie alle waren gefesselt, niemand hatte auch nur den Hauch einer Chance, als der Eisdämon gierig nach den Kindern schnappte, leichte Beute, die ihm der Prinz auf dem Silbertablett präsentierte. Nanouk schluchzte auf und umklammerte den Strick, der sie an den Wagen band, zog daran, doch dadurch wurde der Knoten bloß fester.
»Stopp«, würgte sie hervor. »Stopp, du dummes Ding!«
Das Pferd aber wieherte nur schrill, wechselte panisch die Richtung, direkt in den Wald hinein und schleppte sie dabei unerbittlich mit. Sie grub ihre Stiefel in den Schnee, doch das Ross beachtete diesen Widerstand kaum und dann, mit einem entsetzlichen Aufschrei, stürzte das Tier zwischen die dunklen Stämme der Tannen und der ganze Karren sackte ab.
Nanouk würde hier sterben. Genauso wie Qiuq, wie ihre Freunde.
Erschlagen von dem Wagen, zerquetscht zwischen den Rädern, gefressen, erfroren, tot.
Hektische Flügelschläge kündigten den mächtigen Raben an, der in dem blendenden Tumult auf sie herabstürzte. Nanouk keuchte auf und schützte ihr Gesicht mit den Unterarmen, als die spitzen, langen Krallen des Vogels auf ihre Hände einhieben. Er krächzte laut und markerschütternd, als er an ihrem Mantel und den Seilen zerrte, die immer noch ihre Hände fesselten, doch schnitt dabei bloß in ihre Haut.
Nanouk schlug nach ihm so gut es ging, doch geriet aus dem Gleichgewicht, als das Pferd endgültig den Hang hinabrutschte und den Karren mit sich riss. Sie schrie auf, als sich das Gefährt mit einem Splittern zwischen zwei Stämmen verkeilte und sie durch die Wucht auf die Seite der Holzlatten geschleudert wurde. Mühsam stemmte sie sich hoch und blickte sich nach dem Schneepfad und dem Vogel um.
Sie erkannte, wie sich der geisterhafte Anblick des Eisdämons im Nebel hin und her wand, mit seinen langen, schmalen Kiefern durch Wolle und Fell, Stahl und Fleisch biss.
Doch dann explodierte vor ihr auf dem Pfad die Nacht.
Eine schwarze, undurchdringliche Wolke aus Dunkelheit schluckte jegliche Bewegung, jegliches Geräusch, Laternenschein und Waffenklirren und ließ nichts außer einer dunklen Masse aus sich windenden Rauchzungen zurück, die in schwermütiger Manier zwischen die Stämme krochen.
Nanouk hörte mit einem Mal wieder ihren hektischen Atem, das erstickte Röcheln des Pferdes und das sanfte Knistern der Schneeflocken um sich herum. Es war, als hätte sich ein Loch in der Welt aufgetan und alles um sie herum verschluckt. Durch Magie.
Nanouks Herz hämmerte ihr haltlos und schmerzhaft in der Brust, als sie versuchte zu begreifen, was sie gerade erlebte, doch nichts auf dieser Welt konnte erklären, woher der Rauch gekommen war und wohin die Geräusche verschwunden waren. Magie gibt es nicht.
Sie blickte sich hektisch um und versuchte in der Dunkelheit zu erkennen, wie ihre Hände gefesselt waren und ob sie die Stricke durch irgendetwas zerschneiden konnte. Doch gerade, als sie eine Klinge zwischen den Latten schwach aufblinken sah, verflüchtigte sich der träge schwebende Rauch und gab den Blick auf den Pfad frei. Nanouk spähte zwischen den schneebeladenen Zweigen hindurch und versuchte nicht daran zu denken, dass sie das leblose Tier, welches immer noch am Karren hing und sich mittlerweile mit den Zügeln erdrosselt haben musste, langsam weiter und weiter den Hang hinab zog. Sie wusste nicht, wie tief sie fallen würde, doch sie befand sich in einem Gebirge. Jeder Abhang konnte hier den Tod bedeuten.
Wenn sie sich nur los schneiden könnte, dann hätte sie eine Chance auf einen der Äste zu steigen, doch noch bevor sie ihren Gedanken Taten folgen lassen konnte, ließ sie ein knisterndes Fauchen abermals zusammenzucken.
Der Pfad war vollkommen leer. Bis auf den rot verfärbten, aufgewühlten Schnee und einigen unförmigen Körperteilen, konnte sie keine Seele erkennen. Bloß der Eisdämon war zurück geblieben, wo auch immer der Prinz samt Konvoi hin verschwunden war.
Die wilde Kreatur hob schnüffelnd ihren spitzen, wolfsähnlichen Schädel, der jedoch eingefallen und glatt wie Eis war. Noch nie hatte Nanouk tatsächlich einen Eisdämon erblickt und nichts hätte sie darauf vorbereiten können. Seine langen, dürren Gliedmaßen, der skelettartige Körper, die spitze Rippenbögen und die blutbeschmierte Schnauze besetzt voll nadelspitzer Zähne richtete sich nach ihr aus.
Warmes Fleisch. Nanouk entkam ein hilfloses, ersticktes Schluchzen. Sie konnte nur hoffen, dass die anderen in Sicherheit waren, wo auch immer das sein mochte. Auch, wenn ein Leben am Palast sicherlich nicht schön sein würde, so hätten sie zumindest eines. Sie hingegen würde ihr Ende hier und jetzt finden. Neben Qiuq sterben, den sie zu beschützen verfehlt hatte.
Nanouk richtete sich auf ihren Knien auf und blinzelte die Tränen aus ihren Augen, die in ihren Wimpern und auf ihren Wangen zu Eis gefroren. Was schlimmer war, als zu wissen, dass sie sterben würde, war die Zeit, die sie abwarten musste, bis es so weit war. Es sollte schnell gehen.
Die Tränen auf ihren Wangen brannten in der Kälte. »Komm schon!«, schrie sie dem Ungetüm entgegen, das lauernd auf sie zu pirschte.
»Bring es zu Ende! Bitte!«, flehte sie mit entrückter Stimme, die viel zu laut in ihren Ohren dröhnte und schauerlich durch den stillen Wald hallte. Auch wenn sie sich schrecklich fürchtete und weit weg zu sein wünschte, konnte sie keinen Hass gegenüber des Eisdämons empfinden. Er versuchte zu überleben, wie alles in dieser kalten, trostlosen Welt. Sie hatte ebenfalls getötet, Leben genommen, um selbst zu überleben. Anders, als der Winterkönig und seine verdorbenen Prinzen. Trotzdem wollte sie nicht gehen, dennoch würde sie.
Der Eisdämon stieß ein letztes, aggressives Zischen aus und stürzte sich auf sie. Nanouk zwang sich dazu, die Augen geöffnet zu halten, im Angesichts ihres sicheren Todes nicht zu verzagen und scheiterte.
Sie hielt den Atem an, als sie hörte, wie die Bestie auf sie zusprang, doch im selben Augenblick schoss ein schwarzer Blitz durch die Zweige der Tannen und kollidierte in dem Moment mit dem Eisdämon, als dieser seine langen Krallen auf den Wagen setzte.
Nanouk stürzte. Der Wagen barst unter dem zusätzlichen Gewicht zweier Körper und schleuderte sie den Hang hinab. Das Seil um ihre Hände riss mit einem letzten, auflodernden Schmerz in ihrem Handgelenk in Zwei und gab sie schließlich frei. Sie schlug hart im Unterholz auf, ihr Sturz wurde durch den Schnee ein wenig abgefedert, doch sie selbst hatte zu viel Schwung und rollte weiter den Hang hinab.
Es war stockfinster, als sie mit den Rippen gegen harte Rinde schlug und mit dem Kopf gegen Steine prallte. Sie keuchte und würgte, als ihr Schnee grob in den Kragen und in den Mund geschaufelt wurde, sie schmeckte Blut und versuchte die Arme schützend vor ihr Gesicht zu ziehen. Doch ihre Versuche kamen zu einem abrupten Ende, als sie heftig mit dem Rücken gegen einen schmalen Stamm donnerte und jegliche Luft aus ihrem Körper gepresst wurde.
Um Atem ringend hing sie für einen Moment in der Dunkelheit, doch keine Sekunde später dröhnte das Krachen und Splittern von Holz durch den Wald. Nanouk zog sich zusammen und ohne weitere Vorwarnung schmetterte der Überrest des Karren hart gegen den Stamm, der sie aufgehalten hatte und riss den Baum aus seiner Verankerung. Blindlings griff sie mit ihren gefesselten Händen nach einer Möglichkeit sich festzuhalten, als sie spürte, wie der Karren das Hindernis, das sie bis eben noch gehalten hatte, zum Kippen brachte. Doch ihre Finger waren derart taub, dass sie nicht einmal sagen konnte, ob sie noch alle zehn besaß.
Atemlos stürzte sie tiefer, überschlug sich mehrmals, ehe sie endlich zum Liegen kam. Ein grässlicher Schmerz breitete sich von ihrem Bein aus, das sich merkwürdig offen anfühlte, lähmende Kälte zog ihr das Rückgrat entlang, als der Schnee innerhalb ihres Mantels zu schmelzen begann und sie hustete spuckend Blut aus dem Mund, von dem sie nicht einmal sagen konnte woher es kam. Kraftlos sank sie in den Schnee.
Sie hatte sich einen raschen Tod gewünscht und nun bekam sie den schlimmsten, den sie sich vorstellen konnte.
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