⫷ Kapitel 59: Eine letzte Rast ⫸

Bevor Nanouk sich Reiki anschloss, kniete sie vor Yuka nieder und sprach ein Gebet. Sie wusste, dass Etamashuk sie nicht hören würde, doch vielleicht diente dieses stille Gebet ihr selbst, war nur für Yuka gedacht und sollte die innige Zweisamkeit ihrer beiden Leben gar nicht überschreiten.

Sie würde zu ihm zurück kehren und berichtigen, was vor so vielen Jahren versäumt worden war.

Nanouk erklärte Reiki, wo sich Tallik befand, damit er sie beide im Schutz der Nacht unbemerkt dorthin bringen konnte. Sie versuchte nicht an ihre Heimat zu denken, während das drohende Unheil Naos Wahnsinns nach wie vor ungezügelt seinen Lauf nahm und bat Reiki schließlich mit wild hämmerndem Herzen nicht direkt nach Tallik zu fliegen.

Er setzte sie zwischen den Bäumen ab, wo die Nacht tief und das Licht fern war. »Warum zögerst du?«

Nanouk schluckte und war das erste Mal dankbar für die Finsternis zwischen den Tannen und erleichtert über die Stille des Forstes. Sie sah nichts und das bedeutete, dass sie auch nichts fühlen musste, wenn sie das nicht wollte. Sie konnte so tun, als gäbe es sie gar nicht.

»Nichts, ich ...«, fing sie an, doch die Worte verweigerten sich ihr, wie so oft schon, als sie über die Berge in ihrem Geist zu klettern versuchte und an der schieren Unmöglichkeit zu sagen, was sie erschütterte, scheiterte. Wie konnte sie Reiki erklären, dass sie nicht mehr wusste, wie sie Tallik überhaupt betreten konnte? Oder durfte? Sie war nicht mehr Nanouk, die vor einem Monat die Abgaben nach Aalsung gebracht hatte. War nicht mehr mikkituq, war nicht mehr Tochter ihrer Eltern. Sie war ein vollkommen anderer Mensch geworden und wusste nicht einmal mehr, was sie mit dem Begriff Heimat anzufangen vermochte.

»Ich kann nicht-«, versuchte sie es erneut und drückte sich die Handballen auf die Augen. Sie spürte Reikis Finger vorsichtig auf ihren Schultern. »Ich kann nicht zu ihnen zurück«, flüsterte sie bestürzt. Wie konnte sie irgendjemandem wieder unter die Augen treten? Sie hatte keines der Kinder gerettet, ihre Pflichten allesamt versäumt zu erfüllen und war mit leeren Händen heimgekehrt.

Und vielleicht hatte ihre Heimat sie ebenfalls vergessen, mit ihr abgeschlossen.

»Wovor hast du Angst?«, fragte Reiki in der Dunkelheit und Nanouk fühlte seinen Atem auf dem Haupt. »Dass sie erleichtert sind, dich wieder zu sehen?«

Nanouk schüttelte den Kopf und spürte, wie ihr die Tränen aufs Neue die Kehle zuschnürten. »Dass ich nicht mehr diejenige bin, die sie vermisst haben. Dass sie eine Fremde willkommen heißen müssen, die nur das Gesicht ihrer Tochter, ihrer Freundin trägt.«

Sie hörte Reiki leise seufzen, doch es klang nicht ungeduldig oder genervt, sondern traurig, verständnisvoll. »Du bist immer noch du, uki. Und vielleicht sogar ein wenig mehr.«

Sie lächelte matt.

»Ich fühle ein Band«, fing Reiki langsam an zu sprechen und seine Hand wanderte ihre Schulter herab, bis Nanouk sie direkt über ihrem Herzen fühlte. Seine Stimme fügte sich in Nanouks Kopf mit der Nacht zu einer neuen Welt zusammen. Dunkle, stille Wasser, doch wo sie zuvor noch Furcht verspürt hatte, erfüllte sie dieses Mal nichts als samtene Geborgenheit.

Reiki ist wie das Wasser. Ein steter Fluss, bedacht und in die Tiefe hin unkenntlich, bis man in seine Stromschnellen gerät und ertrinkt. Yukas Worte glitten durch ihren Verstand und sie erinnerte sich, dass sie damals bei der Benennung dieses Gefühls erschaudert war. Doch nun gab es diese Furcht nicht mehr.

»Das Band ist unsichtbar und dennoch strahlt es wie die Sonne. Wie die Lebensflammen hinter den Sternen«, fuhr Reiki fort und Nanouk stellte es sich vor, als die Wärme seiner Hand ihr Herz und ihre Seele umfing. »Es ist wie der Ruf eines Wales in der weiten See. Und ich fühle es an dir, fühlte es an dem jungen Mann, der nach dir suchte und nun, da mich Nao nicht mehr hält, fühle ich es wie einen sanften Sog in meiner Brust. Dieser gesamte Ort hier strahlt.«

Nanouk meinte durch Reikis Erläuterungen ebenjenes Ziehen selbst zu spüren und holte erstaunt Luft.

»Du hast es nie getragen«, summte Reiki. »Das Armband.«

Sie schüttelte den Kopf und musste dann beinahe auflachen. »Ich habe mich geweigert, weil mein ataaq es mir schenkte und ich seit Imiaqs Tod keinen Schmuck mehr ertragen habe. Wie absurd«, schniefte sie und presste ihre Augen fest zusammen. »Wie absurd, dass dieser furchtbare Morgen alles war, was genügt hat, um sämtliches Unglück in Gang zu setzen, das darin gipfelte, dass Naos Heimweg versperrt war und niemand den Schlüssel hatte.«

Reiki summte nachdenklich. »Ich sehe das im Gegenteil. Ich gab die Brücken fort, weil sie Nao den Weg zu unendlicher Macht geebnet hätten. Dass du dieses Geschenk nie getragen und es ins Vergessen verbannt hast, hat diesen Augenblick genau hier überhaupt ermöglicht. Hättest du das Armband mit an den Hof gebracht, wären wir allesamt zu Grunde gegangen.«

Nanouk ließ sich das Gesagte durch den Kopf gehen und stieß dann die Luft durch den Mund aus. »So formuliert klingt es natürlich weniger tragisch.«

Reiki lachte und Nanouk stimmte leise ein. »Du bist genau das, was die Welt dort oben gebraucht hat, uki. Eine Lebende, die den Tod kennt und das Leid nicht als Hürde, sondern als Ausweg sieht. Als Wegweiser und am wichtigsten vielleicht, als Bindung.«

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Tallik lag still und dunkel unter dem Firmament, als das Himmelsleuchten in grün und orange durch das ewige Blau zog. Sie hielten am Rand des Dorfes, im Schutz der Bäume, an und spähten zwischen den Hütten und Grasodenhäusern hindurch. Einige wenige Fackeln brannten neben der Haupthütte und den wichtigen Sammelpunkten, doch selbst die Schlittenhunde waren über die Nacht aus der Kälte in die Hütten geholt worden.

»Nanouk«, fing Reiki zu sprechen an und sie warf ihm einen Seitenblick zu. »Ehe ich die Brücken wieder öffnen kann, werde ich sämtliche Geister um Beistand bitten müssen.«

Nanouk nickte. »Adassett hat mich zu den Tariaksuk geschickt, weil er hoffte, dass sie-«, sie stockte und ihr entkam ein peinliches, leicht verzweifeltes Lachen. »Dass sie dich in Schach halten und mir eine Möglichkeit geben, zuzuschlagen.«

Reikis Augen funkelten amüsiert in der Nacht und Nanouk wandte sich beschämt ab. »Dabei sagten sie mir, dass sie Reiki halten könnten, doch Ijiraq niemals wagten zu queren. Und jetzt verstehe ich auch weshalb.«

Reiki summte und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Es tut mir Leid, dass meine List auch dich so in die Irre geführt hat. Ich wäre gerne deutlicher gewesen.«

»Nao wusste es«, schüttelte Nanouk den Kopf. »Er wusste es von Anfang an, dass du gelogen hast. Dass ich gelogen habe. Und er wird niemals ruhen.«

»Lass das meine Sorge sein. Ich werde mit den Tariaksuk sprechen und auch mit den Ersten, mit den anderen Ewigen dieser Lande. Doch Nanouk, dafür brauche ich meinen Mantel. Ich muss als Ganzes zurück hinter die Sterne, oder gar nicht.«

Sie nickte entschlossen. »Natürlich.«

Reiki griff nach ihren Fingern, die bereits nach den Schnallen tasteten und drückte ihre Arme vorsichtig zurück an ihre Seiten. »Du weißt, dass mein Mantel nicht heilt, was dir zugestoßen ist, sondern bloß aufhält.«

Nanouk nickte, als sie langsam begriff, was Reiki damit ausdrücken wollte.

»Kennst du jemanden, der sich um dich kümmern kann, während ich fort bin?«, wollte er ruhig wissen und Nanouks Herz fing an heftig zu hämmern.

»Meine Mutter ... Amka ist eine gute Heilerin«, krächzte Nanouk und widerstand dem Drang, sich durch die Haare zu fahren, von denen sie wusste, dass sie zerzaust und blutig an ihrem Kopf klebten.

»Gut«, nickte Reiki sanft und drückte sie sachte vorwärts. »Es wird hoffentlich nicht lange dauern, doch bis ich einen Weg gefunden habe zu Nao durchzudringen, wäre es besser, du bist ihm aus den Augen und aus dem Sinn.«

Nanouk nickte beklommen. »Wirst du dich mit Saghani und Adassett treffen?«

Reiki runzelte die Stirn und blickte zu den Sternen. »Ich weiß nicht, wie klug es ist. Adassett wird sich nicht ohne seine Soldaten an den Palast wagen. Nanouk, du hast gesehen, was Nao getan hat. Der Palast war nicht immer so schwarz. Es ist der Teil des Ewigen der Seele in ihm, welcher langsam in die irdische Welt hinaus blutet und sämtliches Leben erstarren lässt. Ob Saghani überhaupt noch am Leben ist ... ob überhaupt noch jemand am Leben ist, nachdem, was vorhin geschehen ist, weiß ich nicht.«

Nanouk nickte abgeklärt, nicht in der Lage überhaupt erst zuzulassen zu hinterfragen, was Reiki ihr versuchte zu vermitteln. Es waren Worte, die schlecht klangen und das war alles, was sie wissen musste. Außerdem musste sie sich stählen, um die nächsten Stunden zu überstehen. Sie erinnerte sich an den Schmerz, den Nao ihr zugefügt hatte und alles zog sich in ihr zusammen, als sie auf ihre Hände herabblickte. Das Blut war in ihren Hautfalten getrocknet und unter ihren Fingernägeln kleben geblieben.

»Uki«, sagte Reiki und Nanouk holte tief Luft. Sie befanden sich knapp außerhalb des Fackelscheins, welcher die schmalen Stufen zur Haupthütte erhellte. Tallik war ruhig, doch wenn Nanouk mucksmäuschenstill lauschte, konnte sie fernes, gedämpftes Gemurmel hören, das Pfeifen und Rasseln von tiefen Atemzügen und das Winseln von Hunden im Schlaf.

Die Welt war selten so still wie heute Nacht und Nanouk wunderte sich, ob das daran lag, weil selbst die Sterne aufgehört hatten zu summen und neugierig auf das Zittergebirge herabblickten. Die Fenster des Haupthauses waren mit dicken Eisplatten zusätzlich abgedichtet, um die Wärme drinnen zu halten und hinter dem gewellten Eis flutete spärliches Licht hinaus in den Schnee.

Ohne nachzudenken griff Nanouk nach Reikis Hand und drückte sie fest. Er erwiderte die Geste wortlos und dann stieg Nanouk die Treppe nach oben, um fest gegen die Türe zu klopfen. Beinahe wünschte sie sich, dass niemand öffnete, doch dann ertönten Schritte und kurz darauf erklang das Knirschen des alten Eisenschlosses, welches Nanouk als Kind schon oft vernommen hatte. Gerade im Winter, wenn es zwischen den Hütten heftig zog, wurden die Türen allesamt abgeschlossen, um zu verhindern, dass der Wind sie nachts aufdrückte.

Nanouk hielt den Atem an, als eine kleine, alte Frau öffnete und leicht verärgert, doch dann verdutzt zu ihnen aufblickte.

»Meine Güte«, stieß sie hervor und Nanouk stockte der Atem, als sie Anatna erkannte. Ajats Großmutter, Rendruns Gattin. »Bei Sina-wa's Atem, was in aller Welten Namen ist dir geschehen?«

Nanouk öffnete den Mund, doch brachte keinen Laut hervor, als mit einen Schlag alles wieder zurück war. Der Tag in Aalsung, Rendruns verbitterter Gesichtsausdruck, Tituts weiches Fell, sein Knurren und Inaaks vor Anstrengung verzogene Gesicht, als er sich mit zwei Kisten auf einmal abmühte.

Ajats verwegener Seitenblick, sein erschreckend inoffizieller Heiratsantrag und begeisterter Ausruf, als sie ihm versprochen hatte nach Zuckermarillen Ausschau zu halten.

»Na los, komm herein, ehe uns die ganze Wärme verloren geht.«

Anatna packte Nanouk am Unterarm, zog sie in den stillen Vorraum des Hauses und zuckte nur leicht zusammen, als Reiki sich durch den Türstock duckte. »Oh. Tut mir Leid, ich habe dich in der Nacht gar nicht gesehen.«

Reiki neigte dankbar den Kopf und Nanouk erkannte, dass er sich die Kapuze seines Mantels ins Gesicht gezogen hatte, um seine auffallend roten Haare zu verdecken. »Vielen Dank für Eure Gastfreundschaft.«

Anatna winkte ab und verriegelte die Türe fest hinter ihnen. »Was hast du mit dem armen Mädchen angestellt? Sie ist völlig blutüberströmt«, zeterte Anatna und beäugte Nanouks Kopfverletzung besorgt, doch mit eben jener missmutigen Intensität, welche alleinig Großmüttern zuteil war, welche tagein, tagaus mit fahrlässigen Enkeln zu tun hatten.

»Ich bin gestürzt«, krächzte Nanouk und fühlte sich ihrer Stimme, ihrem Körper so fremd, als sich ihr Verstand durch Jahre an wehmütigen Schmerz kämpfen musste. »Er hat mich gefunden.«

»Ein Unfall?«, schnupfte Anatna und zog Nanouk zu sich nach unten, um sie genauer zu inspizieren. »Sieht mir eher danach aus, als wärst du mit Absicht gegen einen Fels gefallen.«

Nanouk entkam ein atemloses Lachen. Das hier war eindeutig Ajats Großmutter. »Entschuldige, Anatna.«

Gerade wollte die Dame etwas erwidern, als eine andere Stimme durch das von schwachem Fackellicht erhellte Vorzimmer drang.

»Nanouk?!«

Sie hob den Blick und erkannte im Türrahmen, welcher zur Küche führte, eine Frau stehen. Sie hatte die Ärmel ihres Wollwamses hochgeschoben und sich die Haare im Nacken zusammen gebunden, damit sie ihr bei der spätabendlichen Arbeit nicht ins Gesicht fielen.

»Was um alles in der Welt-«, stieß Nanouks Mutter bestürzt aus und die Schüssel aus Holz, welche sie hielt, fiel mit einem Klappern zu Boden.

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Amka und Anatna brachten sie in die Küche, wo Reiki den beiden Damen ruhig erklärte, was er benötigte. Sie blickten ihn die gesamte Zeit unverhohlen feindselig an und Nanouk wünschte sich, er hätte einen weniger auffälligen Mantel gewählt. Der feine, gepflegte Pelz ohne jedwede Verschmutzung schrie nach Adelsstand und in den Augen der beiden Damen konnte jemand, der derart auffallend gekleidet war, nichts Gutes im Sinn haben.

»Ich will, dass du mir erzählst, was passiert ist«, würgte Amka Reiki respektlos ab, als sie sich endlich von Nanouk löste und ihr die zerzausten Haare aus dem Gesicht strich. »Verzeiht, doch Ihr seid ein Nobelmann und denen traue ich nicht.«

»Mama!«, stieß Nanouk hervor, doch auf Reikis Gesicht erschien nur ein amüsiertes Lächeln. Er entschuldigte sich bereitwillig und Nanouk rollte mit den Augen.

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, murrte Nanouk, fasste jedoch so nichtssagend wie möglich zusammen, was sich zugetragen hatte. Sie hätte am Palast nach einem Ausweg gesucht und Reiki hatte ihr dabei geholfen. Die Verletzungen wären ein Unfall gewesen. Doch Amka spitzte nur die Lippen und warf Reiki einen bitterbösen Blick zu. Sie hatte begonnen Schnee im Kessel über dem Feuer zu schmelzen, während Anatna die wenigen Arzneien vorbereitete, die sie besaß.

»Sie mag zwar wirken, als ginge es ihr gut«, hakte Reiki schließlich wieder ein, als Anatna den geschmolzenen Schnee aufkochte und in Schüsseln goss, damit das entkeimte Wasser schneller wieder abkühlte, »doch ihre Verletzungen sind dringlich.«

»Das wird sie beruhigen«, murmelte Nanouk und ließ sich von ihrer Mutter auf den niedrigen Arbeitstisch drücken.

»Nanouk. Sei vernünftig«, mahnte Reiki und Amka schnaubte zustimmend durch die Nase.

»Ausnahmsweise hat er recht. Sieh dich an. Dass du überhaupt noch aufrecht sitzt.«

»Mein Mantel ist ein wenig sonderbar«, führte Reiki weiter aus und ließ seine Finger an Nanouks Kapuze entlanggleiten. Amka rümpfte die Nase, hielt aber an sich.

»Dein Mantel ist absolut normal«, sagte Nanouk mit Nachdruck und konnte in den Augen ihrer Mutter erkennen, dass sie nichts lieber täte, als seine Hände von ihrer Tochter zu schlagen. Wäre sie nicht völlig aufgelöst und gerade durch die schlimmsten Stunden ihres Lebens gekrochen, hätte sie mit den Augen gerollt und sich vielleicht sogar ein wenig geschämt, dass ihre Mutter so offenkundig abwertend gegenüber Sina-wa'siulliq war.

»Nanouk«, warf Reiki ein und verzog seine geraden Brauen zu jenem unzufriedenen Gesichtsausdruck, welcher ihr so vertraut war. »Sie müssen wissen, was geschehen ist, um sich um dich zu kümmern. Sie müssen alles wissen.«

Nanouk schüttelte jedoch nur den Kopf, als sich in ihr ein Abgrund öffnete, der sie drohte in die Geschehnisse des Nachmittags zu werfen. Sie zu verschlucken, wenn sie auch nur ein Wort darüber verlor.

»Wartet solange draußen«, herrschte Amka und deutete Reiki mit der Hand zur Türe. »Ich hole Euch, wenn wir fertig sind.«

»Nein!«, rief Nanouk aus und erschrak selbst aufgrund ihrer heftigen Reaktion.

Ihre Mutter musterte sie überrascht und strich ihr über den Kopf. Nanouk hielt die Luft an und versuchte nicht an Naos Hand zu denken, die er ihr ebenso zart über die Haare wandern hatte lassen, ehe er sie beinahe zu Tode geprügelt hatte.

»Ich meine«, würgte sie hervor und schluckte heftig gegen das Gefühl der Enge in ihrem Hals an, »ich möchte, dass er bleibt. Immerhin ist es sein Mantel.«

Anatna verzog die Augenbrauen. »Schätzchen, wir werden dich entkleiden müssen, wenn es stimmt, was du erzählt hast.«

»Darunter ist nichts, was er nicht schon gesehen hätte«, erklärte Nanouk und fühlte nun, da ihre baldigen Schmerzen unumstößlich und mit drohender Heftigkeit auf ihr Gemüt drücken würden, die Furcht erneut in sich aufsteigen.

Reiki biss sich auf die Lippen und verkniff sich ein Lächeln, als Amka empört nach Luft schnappte.

»Wie unerhört!«

»Als ich ihr den Mantel gegeben habe«, beeilte sich Reiki zu sagen. »Sie war nicht bei Sinnen.«

»Das macht es nicht besser«, schnappte Anatna empört und Nanouk spürte wie ihre Wangen, Trotz all der schrecklichen Umstände dieses Tages, anfingen zu brennen. Und ungleich peinlicher wurde es, als Reiki selbst anfing die Schnallen zu öffnen und sie zu entkleiden.

»Wenn ich ihr den Mantel abnehme«, sprach er dabei ruhig und ignorierte gekonnt die säuerlichen und empörten Mienen der beiden Frauen neben sich, »wird sie höchstwahrscheinlich in Ohnmacht fallen. Ihr größtes Gebrechen ist der Blutverlust. Versprecht mir, dass ihr sie dazu zwingt, zu ruhen. Keine Gäste, die sie aufregen könnten, am besten wäre es, wenn niemand erfährt, dass sie hier ist.«

Amka rümpfte die Nase, doch ein Hauch Beunruhigung mischte sich in ihre Haltung. Nanouk schluckte und spürte, wie ihre Hände anfingen zu zittern. Sie wollte nicht, dass sich ihre Mutter sorgte, sie glaubte beinahe immer noch zu träumen, nie erwacht zu sein und sich dieses Wiedersehen bloß einzubilden.

Ihre Mutter trug diese gesamte Situation mit verblüffender Fassung, als fürchtete sie das selbe trügerische Gefühl der Erleichterung, welches sie beim Anblick ihrer Tochter ereilte.

»Ich werde in wenigen Tagen wiederkehren und dann muss ich Nanouk erneut mit mir nehmen«, hörte Nanouk Reiki sagen, doch spürte, wie ihr der Puls viel zu laut in den Ohren rauschte, um wirklich mitzubekommen, was er da sagte.

»Kommt nicht in Frage«, fauchte Amka. »Sie bleibt hier und wenn ich Euch mit dem Kochlöffel windelweich prügeln muss. Ich möchte Euch nie wieder sehen.«

Reiki seufzte, doch Nanouk klammerte sich an Reikis Hände, als sie ihm Einhalt gebot und in die Augen blickte. »Lass mich den Mantel behalten«, würgte sie hervor und spürte, wie ihre Augen feucht wurden.

»Das kann ich nicht.«

Nanouk schluchzte auf, als sämtliche Panik zurückkam und sie sich merkwürdig entrückt über diese Reaktion wunderte. Sie hatte noch nie solch eine Angst verspürt, selbst in Naos Gemächern war sie mit einer kalten Abgeklärtheit zur Tat geschritten, hatte nichts anderes außer Schmerz gefühlt und das Verständnis über ihren eigenen Tod wahrgenommen.

Doch nun war dieser Moment vorbei, sie war in Sicherheit und die einzige Barriere zwischen der Erinnerung am Palast und dem warmen Gefühl ihrer Heimat war Reikis Pelz. Das Unvorstellbare war eingetreten, sie war Zuhause, doch das bedeutete nicht, dass alles wieder gut war. Ganz im Gegenteil. Sämtlicher Horror war mit einem Schlag um so vieles gravierender, Yukas Tod wie eine glühende Nadel in ihrer Brust und Adassetts Verschwinden erschlug sie beinahe aufs Neue.

Amkas strenge Fürsorge drängte sich zwischen diese grauenerregenden Bilder voller Blutvergießen und Knechtschaft und entriss Nanouk den Boden unter den Füßen. Sie fing an zu weinen und klammerte sich an Reiki, der sie behutsam in den Arm nahm und auf den Tisch hinunter drückte.

»Es wird alles wieder in Ordnung kommen«, summte er neben ihrem Ohr und löste ihre verkrampften Finger aus seinem eigenen Mantel. Nanouk schüttelte den Kopf und wollte wieder aufspringen, doch Reiki drückte sie bestimmend auf die Tischplatte.

»Du bist uki«, lächelte Reiki und strich ihr über die Wange, wischte ihre Tränen fort und nickte ihr fest zu. »Du bist Nanouk. Widerspenstig, Furchtlos, ausdauernd. Du hast es geschafft. Lass mich jetzt ein wenig deiner Last tragen.«

Nanouk schüttelte bloß weiterhin den Kopf, als Reiki den Mantel schließlich von ihren Schultern zog. Er behielt Recht. Der Schock der Schmerzen war derart heftig, dass Nanouk beinahe sofort in eine alles verschluckende Ohnmacht fiel.

Das letzte, was sie erkannte, war das Entsetzen auf Amkas und Anatnas Gesicht, als sie erblickten, was Nao auf ihren entblößten Brustkorb gemalt hatte und ehe sie gezwungen war die Augen zu schließen, öffnete sich die Türe zur Küche und eine Gestalt trat ein. Ein ihr bekanntes Gesicht schälte sich aus der schummrigen Dunkelheit, ehe ihr der Verstand den Dienst versagte.


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