⫷ Kapitel 58: Yuka ⫸

Nanouk schrie nicht, als das funkelnde Meer in der Abenddämmerung immer näher kam. Sie empfand nichts, als sich die scharfkantigen Felsen in der Brandung nach ihr reckten und wunderte sich, ob Sterben nach all der Last der vergangenen Wochen gar ein Geschenk des Winterkönigs war. Und vielleicht war diese Art von Tod genau jener, welcher bereits von jeher für sie auserkoren war.

Zerschmettert in den Fluten Saibikis, wo sie endlich ihren Bruder finden und um Vergebung bitten konnte. Doch als die letzten Strahlen der Sonne an ihr vorbeiglitten, huschte ein riesiger Schatten über den Himmel, verdeckte die Sonne und löschte die Lichter. Nanouk fühlte sich zurückversetzt in den Moment, als Nao über ihr zusammengebrochen war und die beiden Welten dicht an dicht ineinander geflossen waren.

Etwas packte sie mit scharfen Krallen, die sich vorsichtig in den Pelz des Mantels gruben und ihren Sturz beendeten. Nanouk schnappte nach Luft, als sie das vertraute Rauschen von Federn im Wind vernahm und für einen absurden Augenblick meinte, Adassett hätte sie gerettet. Doch als sich ihr Magen von dem plötzlichen Ruck erholt hatte und sie einen Blick über die Schulter warf, erkannte sie einen anderen Raben.

Nanouk konnte nicht genau deuten, woher sie sich so sicher war, doch der Unterschied zwischen Adassett und Reiki war wie Tag und Nacht. Vielleicht, weil dieses Geschöpf vor Leben strotzte, das schwarze Gefieder nicht von toten Sternen, doch von lebenden Sonnen erfüllt war, frei von jeglicher Bindung wieder in all seinen Farben erstrahlen durfte und das Licht in jeder noch so feinen Faser seines Körpers brach und beugte.

Sina-wa'siulliq trug sie samt Yuka fort aus dem Palast, der sich hinter Nanouk in dunkle Nacht hüllte, als Utaaki ihr Auge schloss. Naos elender Schrei hallte über die gesamte Klippe, übertönte das Tosen der Brandung und erschütterte die gesamte Bergspitze. Nanouk klammerte sich an die rauen Füße des Raben, als sie mit Entsetzen mitansah, wie der schwarze Kristall den weißen Altar Sina-was völlig einhüllte, den grauen Fels zum Splittern brachte und den gesamten Palast eroberte, wie ein lichtschluckendes Grab.

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Reiki trug sie nach Westen über das Meer, bis sich die scharfen Kanten der Klippen langsam in sanft abflachende Fjorde wandelten und erst dann drehte er und steuerte das Land an. Nanouk hing zitternd vor Erschöpfung und Schock in seinen Klauen und obwohl er ihr erneut das Geschenk seiner Kraft verliehen hatte, fühlte sie sich schwächer denn je.

Reiki tauchte in den Wald und setzte sie beide sanft im Schnee ab, nun wieder eingehüllt von nächtlicher Ruhe. Ein Bachlauf gurgelte einsam irgendwo zwischen dem lichten Unterholz und kämpfte hartnäckig gegen den Frost an seinen Rändern an. Onori kletterte langsam empor, voll und klar gestochen ruhte er in seinem Bett aus Sternen und blickte mit Interesse auf sie herab, als hätte sein Gegenstück ihm bereits von den beachtenswerten Geschehnissen erzählt.

Nanouk rappelte sich auf, als Reikis Gefieder verblasste und stürzte zu Yuka, der hustend in den Schnee sank. »Was ist mit ihm?«

»Was ist mit dir?«, keuchte Yuka und hievte sich vom Boden, doch nur, um erschöpft in Nanouks Schoß zu sinken, als sie neben ihm auf die Knie fiel. »So sauer habe ich Nao noch nie erlebt. Du musst dich wirklich grauenvoll gemacht haben. Dabei habe ich dir gestern extra gezeigt, was du unbedingt tun solltest«, lachte er matt.

Nanouk schüttelte den Kopf, als sie das Blut auf seinem Kinn berührte, als machte es das weniger real. Das Ocker seiner Augen war verblasst und im Mondlicht zu einem silbrigen Grau verwaschen. »Was hast du getan?«

Yuka krümmte sich hustend und Nanouk erkannte endlich, was er unter seinem Mantel verstecken wollte. Sie fühlte die Nässe des Pelzes noch ehe sie ihre Finger dazu zwingen konnte die Knöpfe zu lösen. Eine unbeschreibliche Vorahnung knisterte durch die hintersten Winkel ihrer Gedanken, schob sich als dumpfes, kaltes Zittern in ihre Knochen und stahl ihr den Atem.

»Das einzige«, flüsterte Yuka und sah beinahe verwundert mit an, wie Nanouk die grässliche Fleischwunde offenbarte, welche seinen gesamten Brustkorb entstellte, »was ich in meinem erbärmlichen Zustand noch zu tun vermocht habe. «

Nanouk schüttelte den Kopf, als sich das Knistern dem Leugnen dieser Tatsache gegenüber stellte und ihren Verstand mit sämtlichen Erklärungen flutete, welche diese Sachlage kategorisieren und entkräften konnten. »Du stirbst nicht.«

Yuka lachte matt auf. »Ich denke schon.«

Nanouk biss die Zähne fest zusammen und schüttelte den Kopf noch heftiger. »Nein. Heute nicht.« Sie fing an ihren eigenen Mantel zu öffnen, fingerte mit zitternden Händen nach den Knöpfen und fuhr dann zu Reiki herum. »Hilf ihm!«, schrie sie verzweifelt.

Yuka packte ihren Unterarm und führte ihre Hand stattdessen an seine Wange. »Bitte Nanouk, versprich mir etwas.«

»Alles«, schluchzte sie und versuchte nicht auf die heftige Bisswunde zu blicken, die Yukas Rippen entblößt hatte. »Wer war das?«

Yuka schloss kurz die Augen. »Ayiela. Aber Nanouk, Nanouk«, wiederholte er mit Nachdruck, als er merkte, wie sie die Nerven verlor. »Ich habe diesen Schritt freiwillig genommen.«

»Was?«, weinte Nanouk. »Du hast dich von ihr töten lassen? Deinen Mantel fort gegeben?«

Yuka atmete angestrengt durch den Mund. »Ich würde alles für sie geben. Damit sie eine Möglichkeit auf eine Zukunft hat, die ich nie haben hätte können. Mein Leben war vorbei, als ich es für das Etamashuk'siulliqs eingetauscht habe.«

Nanouk wischte sich die Tränen von der Wange, ignorierte das heiße Blut und schüttelte den Kopf. »Das war dein Grund? Du wolltest, dass ich dich zu deinem Schafott begleite?!«

Yuka stieß ein amüsiertes Schnauben aus. »Du hast es mir versprochen. Ich würde mich von niemandem lieber dorthin begleiten lassen, als von dir«, lächelte er matt und Nanouk schüttelte entsetzt den Kopf. »Und jetzt verlange ich, dass du mir ein weiteres Versprechen gibst.«

Nanouk stieß ein hässliches Schluchzen aus, als ihr Körper reagierte, noch ehe sie das Gefühl dahinter recht einordnen konnte. »Lass mich dir den Mantel geben.«

Yuka schüttelte den Kopf und presste seine Lippen in eine gerade Linie. »Ich will es so. Es gibt niemanden, der heilen kann, was mir widerfahren ist. Bitte. Lass mich gehen, solange ich noch dieses schöne Gefühl in mir trage.«

Nanouks Antwort war nur ein verzweifeltes Luftholen.

»Du hast mir dieses Gefühl geschenkt und dafür möchte ich dir danken. Alles, was ich für Ayiela getan habe, bereue ich nicht. Ich bereue deine Wahrheiten nicht, ich bereue nichts, bis auf die Zeit, die es gebraucht hat, ehe ich dies erkennen durfte. Ich bereue uns nicht. Bitte«, keuchte Yuka und nun fingen seine Lippen ebenfalls an zu zittern. »Bitte, sag Etamashuk, dass es mir Leid tut. Bitte bring ihm seinen Mantel und vergib Ayiela«, flüsterte Yuka. »Versprich mir, dass du leben wirst.«

»Sag das nicht, als wäre es vorbei«, hielt Nanouk dagegen und umklammerte Yukas Hand fest.

»Versprich es mir. Und Reiki?«

Yukas Blick wurde glasig, als er Schwierigkeiten hatte ihn zu fokussieren. Doch Reiki ging sanft neben ihnen in die Knie.

»Wenn du meine Geschwister siehst, sag ihnen, es tut mir so, so Leid.«

Reikis Brauen verzogen sich mitleidig, doch er nickte.

»Gut«, seufzte Yuka und stieß die Luft sanft aus.

»Nein«, schnappte Nanouk, »nein, nein! Sag das nicht, als wäre es vorbei, hörst du?!«

Aber Yuka antwortete nicht mehr, sondern verzog seine Lippen zu seinem letzten Lächeln, ehe auch dieses verblasste und der Funke in seinen Augen, der bisher stets sein Ich, alles was Yuka ausmachte, in die Welt blitzen ließ, erlosch.

»Sag das nicht, als wäre es vorbei!«, schrie Nanouk und krümmte sich über Yukas unbeweglichen Körper in ihren Armen. »Saghani hätte dich nicht töten dürfen, sie war auf deiner Seite! Sie hätte dich schützen müssen!«

Nanouk spürte, wie sie zerriss, als ihr Yukas lebloser Körper in den Händen so fremd wurde, dass Übelkeit in ihr aufstieg. Er durfte nicht tot sein. »Ich habe dir versprochen dich fort zu bringen, nicht in deinen Tod!«, schrie sie halb weinend und fing an sich vor und zurück zu wiegen. »Fort, wo du frei und glücklich sein kannst. Wo du wieder du selbst sein kannst. Mit mir, für immer! Lass mich nicht wieder diejenige sein, die zurück bleibt! Bitte, bitte nicht. Nicht erneut, bitte!«

Nanouk spürte, wie ihr Herz zersprang, als die Fassungslosigkeit über ihre Situation jene spiegelte, die sie doch erst vor wenigen Tagen als überwunden geglaubt hatte. Sie sollte weiterleben, während ihr Bruder gezwungen war zu gehen. Während Yuka gezwungen war zu gehen.

»Nanouk«, sprach Reiki leise und legte ihr sachte eine Hand auf die Schulter. »Er ist nicht mehr hier.«

Doch Nanouk schrie bloß aus roher Verzweiflung, spürte ihre Kehle protestieren und ihre Lungen schluchzen, als sie ihren geballten Schmerz und ihre Wut in die stille Welt hinausschleuderte. Sich wünschend, dass Nao sie fand, damit sie ihm endgültig die Kehle herausreißen konnte.

Doch es kam niemand, es rührte sich nichts bis auf das unbeteiligte Gurgeln des Baches neben ihnen und als sie meinte ersticken zu müssen, ließ sie ihren Schrei verebben. Nanouk holte keuchend Luft und biss die Zähne fest zusammen, als sich ihr gesamter Körper durch den Schmerz des Verlustes zusammenkrümmte.

»Hilf ihm«, schluchzte sie und drückte Yuka an sich. »Bitte, bitte hilf ihm.«

Doch Reiki stieß nur ein erschlagenes Seufzen aus und brachte ihren vor und zurück wiegenden Körper mit der Handzum Stillstand.

»Du bist das Leben«, krächzte sie mit wunder Kehle. »Hilf ihm zu leben.«

»Ich bin nicht mehr, als der Diener desjenigen, der euch das Leben schenkt. Doch auch Sina-wa schreitet nicht ein, alsbald er die erste Flamme entzündet hat. Er herrscht nicht über das Leben, er bezeugt es bloß.«

Nanouk schloss die Augen und ließ ihren Kopf mit einem gepeinigten Wimmern in den Nacken rollen. »Bitte.«

»Er kann keine Kerze erneut zum Leben erwecken, Nanouk. Einmal erloschen gehört sie zu Ninri. Was vergangen ist, ist vergangen.«

Nanouk heulte auf, weil es nichts gab, was das Loch in ihrer Seele zu schließen vermochte. Sie weinte, weil Adassett sie zurück gelassen hatte und sie weinte, weil Reiki Recht besaß.

»Lass es Asche sein«, würgte sie hervor und spürte einen bodenlosen Abgrund in sich aufklaffen.

Reiki entwand Yukas Körper ihren starren Fingern und hob ihn auf. »Komm mit. Wir sind noch nicht fertig.«

Nanouk blickte aus verschwommenen Augen auf ihre blutverschmierten Hände und fing ganz von vorne an zu weinen. »Ich will es aber nicht Asche sein lassen. Ich bin fertig.«

Reiki legte den Kopf schief und forderte sie mit dem Neigen des Kinns dazu auf, ihm zu folgen. Für einen Moment blitzte in ihr der Gedanke auf, sich einfach hier in den Schnee zu betten, um nie wieder aufzustehen. Vielleicht war es jetzt das beste Reiki handeln zu lassen, schließlich war er ein Advokat, ein Erster des Leben selbst. Weiser, mächtiger und stärker als sie es je sein würde. Doch Reiki stand im zarten Mondlicht und wartete auf sie.

Auf die einzige, deren Macht größer als die eines Ewigen auf Erden war. Die einzige, welche seine Fesseln brechen konnte, weil Namen Macht besaßen und gesprochen als Bindung einem Wunsch gleichkamen, welcher sämtliche Regeln zu umgehen vermochte.

Sie ließ ihre Hand in ihren Nacken wandern, wo die Glyphe der angakkuq prangte. Nanouk bildete sich ein, dass sich die feinen Linien warm anfühlten. Hätte sie nicht in ihrem kindlichen Übermut bereits so früh die Auszeichnung zur Schamanin erwirkt, wäre ihr Wunsch an taube Ohren gestoßen und kein Flehen dieser Welt hätte Reikis wahre Gestalt entfesseln können. Nanouk zog die Nase hoch und wischte sich die Wangen trocken, ehe sie auf zittrigen Beinen hinter Reiki durch den stillen Wald ging.

Hätte Adassett diesen Wunsch geäußert, wäre nichts geschehen. Hätte Nao diesen Wunsch geäußert, wäre nichts geschehen. Hätte Anuri, nach Brechen ihrer Bindung durch das Töten eines Advokaten, diesen Wunsch geäußert, wäre nichts geschehen.

»Warum hast du mir nicht bei unserer ersten Begegnung gesagt, was du von mir brauchst? Dass ich nur deinen Namen nennen muss«, wollte sie tonlos wissen, als sie Reiki folgte.

»Weil das Aussprechen meines wahren Namens wie ein Leuchtfeuer für Nao gewesen wäre. Du musst verstehen, dass dieser Name nicht nur eine Folge an Lauten ist, sondern ein Ruf in die Weite der Sterne, Nanouk. Es gibt einen Grund, weshalb die Schamanen diese nutzen, um zu den Ewigen zu sprechen. Eine Bindung geht stehst in beide Richtungen. Wenn du meinen Namen sprichst, so hört die gesamte Welt der Geister zu. Dann hört Nao zu. Und anfangs ... wusste ich nicht, ob du eine angakkuq bist. Wie viel du verstündest, ehe Nao sich auf dich stürzte. Er hätte dir auf der Stelle die Zunge herausgeschnitten, um mich – und damit auch sich – zu schützen.«

Reiki trat aus dem Wald ins Freie und Nanouk stellte fest, dass das sanfte Gurgeln des Baches langsam dem steten Rauschen des Meeres gewichen war. Sie hob den Blick von ihren Schuhen und erfasste die funkelnden Wellen vor sich im neugierigen Mondlicht.

»Ich gab dir einen Brief, eine Botschaft, welche dich leiten sollte, ohne dass Nao verstand, was ich wollte.«

Nanouk schluckte, als sie zögerlich stehen blieb und erblickte, wohin Reiki sie gebracht hatte. Die Küste war hier felsig und kiesig, große Findlinge bedeckten den Streifen zwischen Wald und Meer und dann erkannte Nanouk den kleinen Altar. Er stand zwischen Wald und Felsen und sah so einsam aus, wie Nanouk sich fühlte.

»Nur, dass mir dein Brief selbst nicht nach all den Wochen irgendein Hinweis gewesen ist.«

Reiki stieß die Luft sanft aus. »Es war alles, das ich dir niederschreiben konnte, ohne aufzufallen. Doch allem Anschein nach war sämtliche Vorsicht ohnehin umsonst«, sagte er traurig und blieb schließlich vor dem Altar stehen.

»Etamashuk«, wisperte Nanouk und folgte Reiki zögerlich. Er kniete sich vor den Altar und bettete Yukas Körper sanft auf die Erde. Im Frühling und Sommer standen hier sämtliche Heidekräuter in voller Blüte, die Kletterpflanzen würden hellgrüne Schatten auf den weißen Stein werfen und die Möwen lachend über den Wellen kreisen. Doch nun war es still und farblos, das Eis lag unbewegt in den Rissen im Gestein und zwischen dem Kies.

»Ich habe alles versucht, was ich mir erlauben konnte«, murmelte Reiki und kniete neben Yuka nieder, strich ihm sanft die Haare aus dem Gesicht und gab ihm einen zarten Kuss auf die Stirn. »Ich habe nach dem Ort gesucht, von dem du stammst, um dem Ruf der Brücken zu folgen, sie nach Hause zu bringen, damit du mich freiwünschen kannst. Doch Naos ausufernde Düsternis und seine ungeteilte Aufmerksamkeit haben mir die Suche erschwert.«

Nanouk schluckte und wusste nicht, ob sie einen weiteren Schritt an Yuka heran machen konnte. Nicht Yuka, verbesserte sie sich in Gedanken. Nur noch eine Erinnerung.

Die Tränen kamen erneut und Nanouk würgte das Schluchzen unelegant herunter. Sie konnte nicht anders als daran denken, wie sich sein Leben unter ihren Fingern angefühlt hatte, wie er sie erst heute Morgen so wehmütig angeblickt hatte, erschrocken und verständnislos, als sie von Ischka fortgezogen worden war und drohte gleich hier erneut zusammen zu brechen. Nun schmückte kein Gefühl mehr sein Antlitz, kein schiefes Grinsen, kein adrettes Heben seiner Augenbrauen.

»Ich kann nicht«, weinte sie und schlug sich die Hände vors Gesicht. »Ich kann keinen Schritt mehr nehmen.« Sie sank auf die Knie, spürte die Steifheit ihrer Verletzung und schluchzte laut auf. Alleine daran zu denken, wie er abends neben ihr gestanden und die Salbe angefertigt hatte, raubte ihr sämtliche Luft zum Atmen.

»Nanouk«, summte Reiki vorsichtig. »Du musst. Du hast nach wie vor etwas, das mir gehört.«

Nanouk hob den Blick und sah, dass Reiki ihr sanft zulächelte, wieder zu jenem Mann wurde, der ihr damals im Zittergebirge begegnet war und sie mit solch einer ehrlichen Verwunderung bedacht hatte, wie sie dies nie erwartet hätte. Wie sie ihm böse Gedanken unterstellen wollte und er sie bewusst und freiwillig in die Irre geführt hatte, damit sie bloß zu keinem falschen Zeitpunkt erriet, was es war, dass er so verzweifelt vor Nao zu verstecken versuchte.

Sie tastete über ihre Brust, bis sie die kleine Tasche fand und als Reiki dieses Mal nichts weiter tat, als zuzusehen wie sie den Knopf öffnete, schob sie ihre Finger hinein und erfühlte die kleine Blechbüchse das erste Mal seit so langer Zeit. Sie wappnete sich für das hohle, schrille Kreischen, doch es blieb still. Sie zog die Büchse mit angehaltenem Atem hervor und drückte sie auf.

Das Blech war einmal bemalt gewesen, Nanouk erkannte noch verblassendes Blau und mattes Weiß, tiefes Rot und einen Hauch von Grün, welche der Zeit zum Opfer gefallen waren. Unter den Farben befand sich ein Band aus Papier.

»Es brennt nicht«, sagte sie und griff zögerlich nach dem gefalteten Zettel.

»Nein. Weil du diese Bindung, die nicht mehr sein wollte, gelöst hast.«

Nanouk entfaltete das Stück Papier und betrachtete die unleserlichen Worte, die jedoch eine seltsame Regung in ihr auslösten. Als kitzelten sie irgendetwas in den hintersten Winkeln ihres Verstandes und als sie in sich hineinhorchte, meinte sie ein zartes Band zu spüren, das einmal von diesen Worten gehalten worden war.

Reiki nahm es ihr aus den Händen und strich es zwischen seinen Fingern glatt, fuhr mit den Daumen über die geschwungenen Buchstaben und schluckte.

»Doch die Naos existiert noch. In selber Form, dicht an seinem Herzen.«

Nanouk presste die Lippen zusammen und senkte ihr Haupt, bis sie auf Yukas stilles Gesicht blickte. Er sah aus, als würde er schlafen, bloß zu ruhig. Zu endgültig. »Was steht darauf?«, fragte sie leise und schloss die brennenden Augen.

Reiki holte leise Luft. »Vergib mir, Freund, für das, was sein wird. Vergelte nicht das, was sein muss und vergiss nicht das, was uns im Bunde hält. Nao hat ihn angefertigt. Das hier waren seine Worte. Es war nicht nur ein Schwur, sondern ebenso ein Versprechen, eine Entschuldigung. Eine Bitte und ein furchtsamer Schritt in ungewisse Dunkelheit.«

Nanouk holte zitternd Luft. »Tja«, meinte sie trocken und grub ihre Finger in die kalte Erde neben sich. »Wie viel davon überhaupt noch in Naos Verstand übrig war?«

Reiki lachte wehmütig auf. »Mehr, als du glaubst. Der Ewige der Seele ist durch seine Bindung an Nao menschlich geworden. Er spürt, was er nie hätte spüren sollen. Versteht nicht, weshalb er Reue fühlt und warum ihn seine eigene Vergeltung so entzweit. Doch auch, wenn du uns voneinander gelöst hast, weiß er, was es war, dass diesen Bund eingegangen ist. Wer ihn segnete.«

Nanouk blickte zu Reiki nach oben, der nun ebenfalls zu ihr sah. »Anuri war diejenige, welche Nao, Adassett und mir dabei half. Und so weh es mir tut, das zuzugeben, war dies der Grund für Naos abgrundtiefen Hass auf angakkuq

Er streckte ihr eine Hand hin und Nanouk ließ sich auf die Beine ziehen. »Ihr habt euch ziemlich, ziemlich verschätzt«, murmelte sie leise und Reiki verzog wehmütig das Gesicht.

»Ich nannte es ein Missgeschick der Unwissenden.«

»Ich verstehe nicht, weshalb du den Ewigen der Seele nicht erkannt hast.«

Reiki seufzte und blickte hinauf zu den Sternen. »Ich bin kein Ewiger, Nanouk. Und noch weniger bin ich allwissend. Sina-wa spricht manchmal zu mir, hört mich an, doch oftmals herrscht dort bloß großes Schweigen. Und er ist der einzige, der mit antwortet. Die Ewigen sind ätherische Geschöpfe, die nicht an die Sterblichen gebunden sind. Die Gaben«, erklärte Reiki sanft, als würde er mit einem Kind sprechen, »die ihr uns darbringt, dienen vor allem eurem eigenen Zweck. Das langlebige Gemüt eines Ewigen wandert ungezwungen durch Raum und Zeit, ist Raum und Zeit, der Uranfang und die Strecke an Nichts, aus welchem sich beide wanden. Eure Gebete sind es, welche die meinen aus ihren zeitlosen Träumereien zurück holen. Mehr nicht.«

Nanouk atmete erschöpft aus und ließ die Schultern hängen.

»Doch ich erkläre dir mehr, wenn die Zeit gekommen ist. Wir beide haben noch eine Aufgabe zu erfüllen.«

»Ich möchte aber hier bleiben«, widersprach Nanouk leise. »Bei Yuka.«

»Yuka braucht dich im Moment nicht mehr, uki. Aber die Lebenden benötigen noch immer deine Hilfe.« Als Nanouk bloß unbewegt neben Yuka stand, summte Reiki nachdenklich.

»Weißt du, vor nicht all zu langer Zeit bin ich im Wald einem jungen Mann begegnet«, erzählte er leise. »Für ihn hast du die Welt bedeutet. Er wäre für dich bis ans Ende der Welt gegangen, war bereit zu sterben, wenn er dich dadurch wenigstens ein letztes Mal sehen könnte. So wie Yuka für Ayiela. Für dich.«

Nanouk wandte den Kopf ab und sah hinaus aufs Meer. »Das zeugt nur von seiner Dummheit, nicht von seinem Heldenmut.«

»Mag sein«, sinnierte Reiki mit einem schiefen Lächeln. »Aber er war der festen Überzeugung, dass du nicht aufgegeben hast. Dass du dich niemals würdest unterkriegen lassen. Weder von Nobelmännern, Prinzen noch Königen. Er lebt und wir müssen unbedingt an den Ort, an den er zurück gekehrt ist, denn das, was ich an dir spüre, habe ich auch an ihm gefühlt.«

Nanouks Herz machte einen heftigen Satz, als ihre trägen, geschundenen Gedanken wieder in die Gänge kamen. Es gab nur eine Person, die sich wider jeder Vernunft ins Zittergebirge werfen würde, bloß um sie wütend schnaubend wieder nach Hause zu zerren.

Glaubst du, ich lass zu, dass dich ein funkelnder Prinz mit Gold und Geschmeide betört? Du spinnst wohl, du kommst zurück in den Dreck, hätte Ajat gesagt. Nanouks Herz setzte erneut aus und sie spürte, wie eine ungewohnte Hitze unter ihre Haut kroch. Eine Hitze, die von Dinge erzählte, die nicht vergessen werden wollten und unbedingt erledigt gehörten.

»Wovon sprichst du?«

Reiki griff nach ihren Händen und verschränkte ihre Finger ineinander. »Von den Bruchstücken der Altäre, Nanouk. Von dem Weg nach Hause. Einst bat ich einen angakkuq um Hilfe. Als der Ewige der Seele Nao zerfraß, zog ich aus, um ihm die Quelle seiner Macht zu nehmen. Und damit Nao sie nicht in die Finger bekam, gab ich sie fort.« Er fing Nanouks Blick. »Sein Zeichen glüht auf deinen Wirbeln.«

Nanouk fuhr sich automatisch in den Nacken und ihr entkam der Atem in einer erschrockenen Geste. »Mein ataaq

Reiki nickte.

Nanouk holte hektisch Luft, als mit einem Mal sämtliche Erinnerung an jenen Tag zurück in ihren Geist drängte. Als sie schmollend mit ihm auf die Hügel bei den Fjorden gestiegen war, obwohl sie lieber mit Ajat Schlitten gefahren wäre.

Ich habe ein fürchterliches Geschenk zum Verwahren erhalten. Damit es nicht gefunden werden kann von dem, der es sucht.

Nanouks Augen huschten über Reikis Antlitz, als er anfing zu lächeln. »Du warst das? Mein ataaq hat von dir gesprochen?«

Ein sonderbarer Mann, kleiner Bär, der so fremd wirkte wie die Sonne auf dem Meeresgrund.

Nanouk fasste nicht, wie klar ihr diese Erinnerung auf einmal in den Verstand flutete und sie musste beinahe auflachen. »Sonderbar ist eine Untertreibung gewesen.«

Reiki grinste und ein amüsiertes Funkeln schlich sich in seine dunklen Augen. »Mosopphes meint es manchmal gut mit uns.«

Nanouk legte den Kopf schief.

»Der Ewige des Schicksals«, zwinkerte Reiki.


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