⫷ Kapitel 51: Quälende Worte ⫸

Nanouk schloss die Türe zu Saghanis Gemächern leise hinter sich und stützte sich dann augenblicklich schwindelnd gegen die Wand. Ihr Kopf drehte sich und die aufgestaute Angst bahnte sich endlich einen Weg ins Freie. Sie hatte alles gemeint, was sie zu Saghani gesagt hatte, doch der schiere Wahnsinn sie derart zu brüskieren ging nicht ungestraft an Nanouk vorbei. Vielleicht würde Saghani sie trotzdem noch umbringen, wenn sie ihre Fassung gefunden hatte. Auch, wenn ein kleiner, leiser Teil in Nanouk davon überzeugt war, dass Saghani sie kein einziges Mal mehr anblicken würde.

Nanouk atmete tief ein und aus, bis sich ihr Blickfeld zu drehen aufhörte und ihre kalten Finger langsam zur Ruhe fanden. Erst dann richtete sie sich auf und fasste sich. Sie musste Nauju finden und-

»Wenn du dich übergibst, bitte ins Blumenbeet«, erklang Naujus Stimme hinter ihr und Nanouk fuhr erschrocken herum. Er lehnte an der gegenüberliegenden Wand und blickte sie mit einer überlegenen Herablassung im Blick an, die Nanouk einen heftigen Stich versetzte.

»Nauju! Ich hatte gedacht, du wärst ... «

Nauju unterbrach sie mit einem Schnauben. »Bitte. Ich muss mich nach wie vor um dein Wohlergehen kümmern! Also los.«

Ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen ging er voran durch Wallheim und Nanouk beeilte sich, ihm zu folgen. Er brachte sie direkt zu Saghanis privatem Badesaal, sagte weiterhin nichts, als er aufsperrte und dann direkt zu den Regalen mit den Keramikgefäßen ging, um eine seiner speziellen Tinkturen anzufertigen.

Nanouk stand verloren in dem großen Badesaal, durch dessen riesige Fenster die Abendsonne schien und bedachte Naujus Rücken mit wachsendem Unbehagen. Sie hatte ihn so vermisst, dass seine abweisende Haltung schmerzhaft stach.

»Was ist los mit dir?«, fragte sie leise und ging zu ihm hinüber, um zu sehen, was er auf dem niedrigen Tischchen zusammenmischte. Der Wasserdampf schimmerte golden, als sich die Strahlen der Sonne in ihm verfingen und vielzählig reflektiert Naujus schmaler Gestalt einen sanften Schein verliehen.

Er beendete seine Arbeit so rasant und ununterbrochen, als liefe ihm die Zeit davon, doch als er sich schließlich zu Nanouk umdrehte, zierte das herablassende Lächeln seine amüsierten Gesichtszüge.

»Hat dir Adassett neben deiner Unschuld endlich auch den Respekt vor der Obrigkeit genommen?«

Nanouk blinzelte verdutzt und obwohl er noch kein einziges Mal seine Hand gegen sie erhoben hatte, fühlten sich seine Worte dieses Mal an wie ein heftiger Schlag ins Gesicht. »Nauju ...«

Er hob bloß die Augenbrauen und dann auch seine Schultern, als er die Phiole vom Tisch nahm. »Mir ist es gleich«, sagte er und sein Blick wanderte an Nanouk herab. »Schließlich habe ich schon immer gewusst, was du in Wirklichkeit von mir hältst.«

»Das glaube ich nicht«, bemühte sich Nanouk ruhig zu sagen und blickte von seinem Gesicht zu seinen Händen, in welcher er die Tinktur hielt, die er eben zusammengestellt hatte. »Wenn es um das geht, was ich in Saghanis Gemächern gesagt habe, dann-

»Dann was?«, unterbrach er sie barsch, doch der amüsierte Gesichtsausdruck wollte nicht von seinen Zügen weichen. »Ihr seid euch näher gekommen. Habt jetzt sogar eine Vereinbarung getroffen, die ihren Weg zwischen deine Beine gefunden hat, möchte man meinen.«

Nanouk biss die Kiefer fest zusammen und kniff die Lippen zu einem geraden Strich, je gehässiger Nauju wurde. »Du glaubst Inja jedes Wort einfach so?«

Nauju schnaubte durch die Nase und blickte ihr zurück ins Gesicht. »Lügt sie denn?«

Nanouk begegnete seinen ockernen Augen, die von solch einer Leblosigkeit zeugten, dass ihr ganz bang ums Herz wurde, als Nauju sie derartig kalt abschmetterte. »Ich weiß nicht, was sie gesagt hat. Bestimmt aber hat sie diese ganze Sache nicht gerade zu meinen Gunsten formuliert.«

»Also ist das ein nein«, stellte Nauju schulterzuckend fest und drückte sie an der Schulter beinahe grob zum Becken hin.

»Es ist ein lass mich wenigstens erklären

»Im Moment«, unterbrach sie Nauju erneut und wandte sich zu ihr um, sodass sie beinahe gegen seine Brust stolperte, »fällt es mir schwer, dein Gesicht zu ertragen. Ich bin hier, weil Saghani es will. Oder gewollt hat. Ich weiß nicht, ob sie dir dieses Bad immer noch gönnt, nach dem wütenden Schrei, den sie deinetwegen geäußert hat.«

Nanouk wich mit einem harten Schlucken vor ihm zurück und schüttelte ungläubig den Kopf. »Es tut mir wirklich Leid, wenn-«

»Muss es nicht. Saghani ist bei Zeiten so schwer aus der Ruhe zu bringen, dass es richtig erheiternd war, sie derartig schrill Kreischen zu hören. Es zeigt mir, dass da immer noch ein Mensch in ihrer schwarzen Seele steckt, der zur Weißglut getrieben werden kann. Stell dir nur vor«, fuhr Nauju einfach in Plauderstimme fort, »wenn alle so grässlich glücklich wären wie ich! Wie langweilig.«

»Du bist furchtbar«, würgte Nanouk hervor, die mit den Tränen zu kämpfen hatte.

Nauju lachte bloß. »Ich bin ein Widerling, Nanouk. Aber ich will mal nicht so sein.«

Er hielt die kleine Phiole in die Höhe, bis sich das Sonnenlicht in der rosafarbenen Flüssigkeit brach und einen ebenso rosafarbenen Lichtstrahl auf Naujus blasses Gesicht warf. »Das hier ist ein Badeöl aus seltenen Kirschblüten, ein Baum, den du bestimmt noch nie in deinem Leben gesehen hast.«

Nanouk sagte nichts mehr und ließ es einfach über sich ergehen.

»Und Badeöl«, Nauju kippte das Glasfläschchen und ließ die viskose Flüssigkeit ins Wasser rinnen, »kommt ins Badewasser. Auch, wenn du es hasst, dich zu waschen, dachte ich, würdest du dich gerne ein wenig selbst verwöhnen.«

Nanouk hielt die Tränen zurück, die ihr in die Augen krochen, als sie merkte, wie sehr sie Nauju tatsächlich verletzt hatte. Zu welcher Unvernunft sie ihn durch ihre Abwesenheit getrieben hatte. Was Saghani vielleicht gesagt haben könnte, um ihn derart gehässig auftreten zu lassen.

»Dann darfst du dich entkleiden – gerne auch in meiner Gegenwart – und die ätherischen Öle auf deiner nackten Haut wirken lassen. Besonders gut funktioniert das, wenn man dabei einen gutmütigen Prinz an seiner Seite hat, welcher die Öle tief in die Haut einmassiert. Zu schade«, Nauju stellte das leere Fläschchen auf den weißen Rand des Beckens und wischte sich die Finger sauber, »dass letzterer momentan nicht zur Verfügung steht.«

»Nauju, bitte«, versuchte sie es, aber er hielt nur eine flache Hand in die Höhe, um sie zum Schweigen zu bringen.

»Wenn du schön tief in die Knie gehst, was dir aufgrund meiner selbstlosen Heilbehandlung schließlich wieder gelingen dürfte, dann ließe ich mich eventuell dazu herab, dir diesen Gefallen auch noch zu tun.«

Nanouk wollte nicht hier vor Nauju anfangen zu weinen, wollte ihm diese furchtbare Genugtuung nicht geben und sich selbst nicht derart erniedrigt fühlen. Aber seine abweisende Haltung brach ihr das Herz, wo sie doch mit jeglicher Faser ihres Körpers nichts sehnliche wollte, als ihn an sich zu ziehen. In diesem Zustand jedoch, hielt Nanouk es für keine gute Idee. Nauju war im Moment nicht in der Lage irgendetwas außerhalb seiner Mauern zuzulassen und ein Teil in Nanouk fügte sich dieser Herablassung willentlich. Wollte vielleicht sogar von ihm gekränkt und beschuldigt werden, schließlich fühlte sie sich wie eine Lügnerin ihm gegenüber, wusste, wie ihr Verhalten und ihre Worte auf ihn wirken mussten, doch sie besaß nicht die Fassung, diese nun alle auf einen Schlag zu berichtigen. Dafür war sie nicht besonnen genug.

»Dass du nicht annehmen willst, kränkt mich«, durchbrach Naujus erheiterte Stimme die Stille zwischen ihnen. »Doch ich bin Kummer gewohnt. Schließ hinter dir ab, wenn du fertig bist.«

Ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen warf er einen silbrigen Schlüssel neben die leere Phiole und ging.

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Nanouk sank in der dröhnenden Stille langsam auf dem Beckenrand, doch nun, als sie ihren Tränen freien Lauf lassen wollte, kamen sie nicht. Sie starrte stumm und still auf die Phiole und den Schlüssel neben sich und fühlte, wie sich die hohe Luftfeuchtigkeit auf ihrer Haut absetzte, ihre Wangen benetzte und ihre Haare kraus werden ließ.

Deine Wahrheiten schmerzen, ist dir das bewusst? Die eigenen wohl mehr, als jene, die man anderen vor die Füße wirft, nicht wahr?

Das waren Naujus Worte an sie gewesen, doch Nanouk wunderte sich, ob manche Wahrheiten nicht doch schlimmer schmerzten, als die eigenen. Ob Nauju überhaupt noch wusste, dass er das zu ihr gesagt hatte und vielleicht an erster Stelle der Anstoß für sie selbst gewesen war, ihre Wahrheiten nicht mehr als Fesseln, sondern als Waffen zu sehen. Waffen, die allem Anschein nach, tatsächlich befähigt waren, fürchterlichen Schaden anzurichten.

Nanouk entkleidete sich wie in Trance, als sie Naujus Geste, Trotz seiner Herablassung, nicht vergebens sein lassen wollte und stieg anschließend mit hochgezogenen Schultern ins Becken. Das Wasser war tatsächlich warm, viel wärmer, als sie gedacht hatte und der süßliche Duft des Badeöls hüllte sie alsbald vollständig ein.

Sie kam sich lächerlich vor, dass sie dieses Bad in purem Luxus vor allem Nauju wegen nahm und nicht, weil sie den Luxus an sich schätzte. Er hätte ihr auch einen Holzzuber hinstellen und ein Stück Seife hineinwerfen können, sie hätte sich mindestens genauso befangen gefühlt. Nanouk schluckte und ließ sich langsam auf die Knie sinken und glitt anschließend in den tieferen Bereich des Beckens, welcher direkt vor den Fenstern lag.

Die Sonne senkte sich über das Meer und den Gebirgszug, hüllte die Luft um Nanouk in goldenen Wasserdampf und für einen Moment erlaubte sie sich, einfach zu entspannen. Sämtliche Gefühl aus sich heraus fließen zu lassen. Sie verschränkte die Arme auf dem Alabaster und bettete ihr Kinn darauf, als sie Utaaki beobachtete, wie sie sich ungeachtet der Gebrechen und Streitereien unter ihren Strahlen pflichtbewusst auf den Weg ihrer Bahn begab. Zählte die Spitzen der Fichten und betrachtete die kantige Silhouette der Palasttürmchen gegen das gleißende Licht.

Ob Inaak bereits über das Meer davon gesegelt war? Ob Saibiki ihm das ebenfalls von Nauju angedeutete Mitleid entgegen gebracht hatte, um ihm eine sichere Überfahrt zu bescheren? Ob er jemals wieder nach Hause finden würde, wenn ihm keiner den Weg wies? Erzählten diejenigen, welche von Anuri fortgebracht wurden, je darüber, was ihnen widerfahren war, oder bewahrten sie einstimmiges Stillschweigen darüber, was ihnen die stumme Schamanin mit auf den Weg gegeben hatte?

Nanouk schluckte und blinzelte, als ihre Augen anfingen zu brennen. Sie war schrecklich müde, erschöpft und ausgelaugt.

Hatten seine Eltern nach ihm gesucht? Hatten ihre eigenen? Hatte Ajat?

Und da kamen ihr schließlich entgegen jedweder Vernunft die Tränen, heiß und bitter. Sie musste an den Jungen denken, den sie vor einem Monat noch als den wichtigsten und besten Freund in ihrem gesamten Leben betrachtete hatte, erinnerte sich an ihre andauernden Streitgespräche, die stets in atemlosen Lachen und liebevollem Gerangel geendet waren. Sie war mit Ajat groß geworden, hatte ihn in solch einer Vielfalt an Rollen gesehen, erlebt und gefühlt, dass sie gar nicht wusste, wie sie die Regung tief in ihrem Herzen beschreiben sollte, welche sie beim Gedanken an ihn befiel.

Sie hatte sich stets geweigert an mehr zu denken, vor allem seit sie hier oben den intriganten Getreuen des Winterkönigs in die Fänge gegangen war, doch mit allem, was ihr die vergangenen Wochen widerfahren war, musste sie beinahe über ihre jugendliche Einfältigkeit lachen. Sie wischte sich die Tränen von den Wangen und schniefte in ihre Armbeuge.

Und ihre Mutter? Amka nach dem Tod zwei ihrer Kinder wieder lachen sehen zu können hatte Nanouk die Welt bedeutet. Und nun war sie selbst Schuld an ihrem Leid und an der Trauer ihres Vaters. Kaaluut würde es nicht leicht haben, er war bereits die Jahre davor mit Gelenksentzündungen geschlagen und fiel gelegentlich wochenlang für die Jagd aus. Sie beide hatten sich auf Nanouk verlassen, in so vielerlei Hinsichten, dass Nanouk sich aufgrund ihres Bades noch eine Spur mehr schämte.

Ajat würde bestimmt darauf bestehen, dass sie ihm eine detailgetreue Liste an sämtlichen Annehmlichkeiten mitbrachte, nur um sich dann über jeden einzelnen, unnötigen Gegenstand lustig machen zu können. Also stieg Nanouk schlussendlich, als die Sonne längst gesunken war, aus dem Wasser und trocknete sich ab. Andächtig, um nichts kaputt zu machen, warf sie einen Blick in jedes einzelne Gefäß, roch am Inhalt und versuchte sich die Worte auch für jene Düfte zurecht zu legen, die sie nicht kannte.

Bei ihrer akribischen Inspektion fiel ihr auch eine schmale Türe aus weiß lackiertem Holz auf, welche an der Seite, hinter den dunklen, schweren Baldachinen in der Mauer des Badesaals lag. Es war abgeschlossen, als Nanouk probeweise am Türgriff zog. Sie warf einen Blick über die Schulter und sah den Silberschlüssel nach wie vor am Beckenrand im aufkommenden Mondlicht funkeln.

Mit einer merkwürdigen Vorahnung nahm sie ihn in die Hand und steckte ihn ins Schlüsselloch. Der Mechanismus glitt reibungslos auf, doch Nanouk zögerte, die Türe zu öffnen. Irgendetwas riet ihr dies nicht zu tun, dass es einen guten Grund gab, dass hier abgeschlossen war. Aber vielleicht befanden sich dahinter bloß mehr von den getrockneten Blüten und Blättern.

Nanouk schluckte und drückte die Türe schließlich auf. Die Scharniere quietschten nicht, als würden sie täglich geölt werden, doch stellte sie fest, dass das Türblatt dennoch schwer zu bewegen war, als bestünde es aus Eibenholz. Dahinter befand sich gähnende Schwärze.

Nanouk drückte die Türe vollständig auf und stellte mit einem Frösteln fest, dass es in dem Raum eiskalt war. Ein sanfter Lufthauch zog an ihren Fußgelenken vorbei, als die warme Luft entwich. Als würde die Dunkelheit hinter der Türe einatmen. Nanouk trat zurück und entzündete eine Kerze, mit welcher sie sich vorsichtig durch die Türe schob. Sie musste die Hand vor die flackernde Flamme halten, um sie am Ausgehen zu hindern und obwohl sie sich nun durchaus bewusst war, dass sich kein normaler Vorratsschrank in der Dunkelheit befand, hielt sie erschrocken die Luft an.

Die Türe führte direkt in einen schmalen, grob in den Stein gehauenen Gang, sodass sich Nanouk wunderte, wie das sein konnte, wenn sie sich im vierten Stock befand. Vielleicht gab es eine Felsformation, welche südöstlich an Wallheim anschloss, die Nanouk, verborgen vom dichten Nadelwald, bisher noch nicht aufgefallen war. Sie schluckte, als sie den Gang ausleuchtete und einen weiteren Schritt machte, darauf bedacht die Türe nicht zufallen zu lassen. Aus Angst, dass sie dann nicht mehr aufging und sie gezwungen sein würde mit dem Vorlieb nehmen zu müssen, was in den kalten, toten Hängen des Zittergebirges hauste.

Wie auf Geheiß fiel der Kerzenschein auf eine Treppe, welche sich steil und schief nach unten wand, ehe sie erneut in undurchdringlicher Schwärze verschwand. Das sanfte Heulen von Wind strich ihr um die Nase und der Geruch von feuchtem Gestein wehte zu ihr nach oben. Es roch nicht muffig, sondern so, als befände sich am Ende der Treppe eine Öffnung, welche direkt zum Meer führte. Herb und salzig riss eine Erinnerung an ihr, die weich und warm zugleich in ihrem Geist ruhte und sie die vergangenen Tage mehrmals heimgesucht hatte.

Ihr ataaq und der brennende Tannenzweig an den Ufern ihrer Welt.

Doch dass diese Treppe direkt zu den Klippen führte, war unwahrscheinlich. Das Heulen des Windes fern unter ihr schlug mit einem Mal zu einem hohen Wimmern um und Nanouk stellten sich sämtliche Haare an den Armen auf. Dann brach der Ton abrupt ab, als hätte der Wind gedreht, doch dem war nicht so.

Der Lufthauch strich Nanouk unverändert um die Waden. Sie machte hastig einen Schritt zurück, als sie mit einem Mal das Gefühl eines durchdringenden Paar Augen auf sich spürte. Als lauschte die Dunkelheit am Ende der Treppe auf ihre hektischen Atemzüge. Nanouk konnte die Türe gar nicht schnell genug wieder zuziehen und schloss fest ab.

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Doch mit diesem beunruhigten Gefühl war es unmöglich einzuschlafen. Nanouk stand in ihrem Zimmer, isoliert, alleine und mit den Nerven am Ende. Sie mochte sich nicht ausmalen, was in der Dunkelheit hockte, woher dieses klagende Seufzen gekommen war, oder dass bloß eine simple Türe aus Holz zwischen ihr und dem Ende der Treppe lag.

Nanouk versuchte an Sina-wa'siulliq zu denken, an den wundersamen Ort hinter der Welt der Sterne und sich von dem warmen Licht erfüllen zulassen anstatt von tintenschwarzer Nacht. Und dann fiel ihr Blick auf ihre Matratze und sie erinnerte sich an Reikis Brief. Sie zog ihn hervor und drückte das weiche Papier zwischen ihren zitternden Fingern, bis sie sich einigermaßen ruhiger fühlte und faltete den Brief dann auseinander.

Wie auch die letzten Male davor schon neckten sie die unleserlichen Worte und sie fragte sich, wie weit sie bereits die Schwelle überschritten hatte, wo eine Umkehr noch möglich gewesen war. Ob Geheimnisse an dieser Wende ihres Daseins überhaupt noch Wichtigkeit besaßen und kam zu dem Schluss, dass eine Umkehr bereits lange vor ihrer Reise nach Vosejn unmöglich geworden war.

Genau, dachte sie bei sich. Konzentriere dich auf die Dinge, die du erwirken kannst. Und nicht an-

Sie schnitt sich den Gedanken ab und begab sich zurück in die stets geschäftigen Gänge Wallheims. Bei den Schlafräumlichkeiten der Damen fing sie an, nach Naujus Gemächern zu fragen und sich zu erkundigen, wo sie ihn am ehesten aufzufinden vermochte, da er sich nicht im Musikzimmer befand.

»Du suchst also nach ataha Nauju.« Injas Stimme drang klar durch das Gesumme um sie herum und Nanouk biss die Zähne fest zusammen, ehe sie sich zu ihr umdrehte.

»Ja.«

Inja lehnte mit verschränkten Armen in einem der Torbögen und war das erste Mal, so schien es Nanouk, nicht in Seidentücher gehüllt. Sie trug die einfache Arbeitertunika und hatte ihre Haare bloß unordentlich mit einer Haarnadel aus Holz hochgesteckt. Sie sah auf einen Schlag viel reifer aus, erwachsener und nicht so absurd aufgehübscht, als hätte die Schminke davor über eine Kindlichkeit hinwegtäuschen wollen, die an erster Stelle gar nicht existierte.

»Reicht dir ataha Adassett nicht?«

Nanouk seufzte leise und rieb sich die Brauen. »Kannst du mir den Weg zu seinen Gemächern zeigen?«

Inja schnaubte. »Du willst mich nicht einmal Miststück schimpfen?«

Nanouk schüttelte müde den Kopf.

»Auch nicht Hure oder Drecksweib? Luder?«

»Nein«, entgegnete Nanouk matt und Inja verzog angewidert das Gesicht.

»Ich habe deinen Ruf zerstört. Dich bei anaana Saghani angeschwärzt und es ist dir einfach egal«, sprach Inja seltsam fasziniert und hob ihre Augenbrauen leicht an.

Nanouk blickte stumm zurück und hob sachte eine Schulter.

»So wie du aussiehst«, fuhr Inja nun wieder düsterer fort und verzog ihre Brauen, »habe ich dir allem Anschein nach sogar noch einen Gefallen damit getan. Ich hasse dich. Los, komm.«

»Aber bitte wirklich zu Nauju.«

Inja schnaubte abschätzig und deutete Nanouk ihr zu folgen. »Selbst wenn ich dich zu anaana Anuri, oder ataha Siku brächte, würde es dir wohl irgendwie gelingen, diese ganze Katastrophe zu deinen Gunsten zu drehen.«

Sie gingen durch abgedunkelte Korridore, drängten sich an tratschenden Damen vorbei und passierten einen Durchgang, welcher in die belebten und glanzvollen Säle der Gäste führte. Das Gelächter und der Klang nach bezaubernder, süßer Musik schwappte in die gedimmten Flure Wallheims und erfüllten Nanouk mit einen Gefühl der Klarheit. Das hier waren Menschen, die allesamt einem unerkannten und plötzlichen Ende entgegen blicken würden, sollte der Ewige der Seele seine Drohung wahr machen und die Welt der Sterblichen aus Rachedurst heraus zerreißen. Sie verstand nun, dass ihre Aufgabe und ihre Loyalität nicht bloß den wenigen Menschen galt, die sie selbst lieb gewonnen hatte, sondern auch all den Ahnungslosen.

Die Tragweite dieses Gedanken erdete Nanouk auf seltsame Weise, denn es gab ihr das Gefühl, auf keinen Fall versagen zu können. Zu unvorstellbar waren die Folgen für ihr Scheitern, dass sie von einer absurd widersprüchlichen Überzeugung, das Richtige vollbringen zu können, bestärkt wurde.

»Du brichst einfach nicht«, erklang Injas Stimme durch Nanouks Gedanken. »Und ich hasse dich so sehr dafür. Du brauchst nichts und niemanden, steckst das alles weg, während wir anderen vor ataha Adassett zurückschrecken, uns in unseren Betten verkriechen und unter Tränen zu allen guten und bösen Geistern beten, dass er uns nie wieder anblickt.«

Inja hielt im Korridor neben dem, in welchem das Musikzimmer lag, an und deutete auf die hinterste Türe, die in Dunkelheit im stillen Gang ruhte.

»Inja«, begann Nanouk vorsichtig und die Jüngere blickte sie von unten herauf bitterböse an. »Wenn ich könnte, würde ich das alles wieder gut machen.«

»Tja«, schnappte Inja unterkühlt. »Das kannst du aber nicht. Ich hasse dich bis ans Ende der Zeit, denn ich beneide dich für deine Kraft, einfach weiter zu machen. Und dafür hasse ich dich und mich umso mehr. Ein Dank wäre angebracht«, fuhr sie fort und Nanouk erkannte in ihrer gepressten Stimme, dass sie sich davon abhalten musste, zu weinen. »Schließlich stehst du tatsächlich vor ataha Naujus Gemächern.«

»Danke. Es tut mir L-«

»Spars dir«, fauchte Inja, schniefte wütend und schritt dann davon. Mit gehobenem Kinn und gewahrter Haltung, als hätte sie Nanouk nicht soeben ihre verletzlichste Seite gezeigt.


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