⫷ Kapitel 50: Nanouks Bürde ⫸

»Nanouk!«

Diese Stimme konnte sie eindeutig Adassett zuordnen und auch den Geruch nach warmen Holz und Winter, der in ihren trägen Geist drang, kam ihr vertraut vor.

Seltsam, dachte sie bei sich, dass es leichter ist seinen Körper zu orten, als meinen. Nanouk wollte die Augen aufschlagen, doch es fiel ihr erstaunlich schwer, sich überhaupt daran zu erinnern, wie das ging. Sie vernahm ein heftiges, rhythmisches Pochen und Rauschen, als hätte ihr Herz gerade eben herausgefunden, wie es schlug. Wie es ihr Blut dazu brachte, zu zirkulieren und wie es mit der dicken Luft umging, welche sich ihre Lungen hinab drängte. Sie spürte warme Finger, ganz anders, als die der Schattenmenschen, als die des Ewigen der Seele, die sich zwischen ihre Rippen gebohrt hatten und versuchte angestrengt, sich auf diese angenehme Empfindung im Diesseits zu konzentrieren.

»Nanouk«, wiederholte Adassett eindringlich.

»Mhm«, stieß sie unkenntlich hervor und öffnete ihre Augenlider flatternd. Sie fühlte sich ähnlich entrückt, wie damals, als sie das letzte Mal panisch durch die Welt der Geister gehastet war, wie sich ihr Körper erst wieder an die engen Dimensionen der irdischen Welt gewöhnen musste, doch dieses Mal ... dieses Mal hatte es sich endgültig angefühlt.

»Dein Herz hat aufgehört zu schlagen«, hörte sie Adassett aufgebracht sprechen und blinzelte träge, bis sich das gleißende Licht des Kamins um seine Gestalt legte und seiner Form auch Farbe verlieh. Sie stemmte sich aus seinen Armen, darauf bedacht, bloß ihre Ellenbogen zu nutzen und blickte auf ihre Hände herab. Ihr Herz machte einen heftigen Satz, als sie dort die samtenen Blütenblätter einer weißen Blume zwischen dem Käfig ihrer Finger hervorblitzen sah.

»Das hat es«, atmete Nanouk angestrengt und öffnete ihre Hände mit zittrigen Fingern. »Aber ... Adassett«, flüsterte sie und rutschte umständlich zu ihm herum, damit sie ihm die Blume zeigen konnte. »Ich bin Sina-wa'siulliq begegnet.«

Adassetts Blick fiel auf die Blüte in ihren Händen und seine Augen weiteten sich. »Er hat sich dir offenbart?«

Nanouk schluckte und strich sachte mit dem Daumen über die Blätter. »Nein«, murmelte sie und dachte an seine gleißende Silhouette zurück. »Das hat er nicht. Er sagte, ich dürfte nie wieder hinter die Sterne gehen. Nicht solange der Ewige in Nao an seinen Körper gebunden ist. Adassett«, wisperte sie eindringlich, »ich bin diesem Ewigen begegnet. Nao – oder was auch immer hinter seinen Augen lebt – hat mich erwischt, er sprach von Göttern und von Grenzen, welche die sterbliche Welt überschreite. Was auch immer ihr in ihm gebannt habt, ist nicht von hier

Adassett erwiderte Nanouks Blick mit Sorge. »Wir können nur hoffe, dass Reiki es mittlerweile herausgefunden hat.«

Nanouk schluckte. »Deswegen müssen wir ihn befreien. Ich weiß«, beeilte sie sich zu sagen, als sich Adassetts Brauen gefährlich neigten, »du kannst nichts für ihn tun, doch ich kann es.« Ihre Worte stürzten mit einem Mal über ihre zitternden Lippen, als sie von der Furcht zur Neige gehender Zeit gepackt wurde. »Auf der Hinrichtung flehte er mich an, ihm zu helfen. Er weiß längst, was ich bin.«

Adassett bedachte sie mit verschlossener, doch sorgenvoller Miene. »Und er hat es Nao nicht verraten?«

Nanouk schüttelte zaghaft den Kopf. »Ich denke nicht. Andernfalls wäre ich doch längst ... Er braucht mich, weil ich die einzige bin, die seinen Eid brechen kann.«

»Wer?«

Nanouk meinte die Wärme Sina-wa'siulliqs als schwachen Nachhall in der Blüte zu spüren. »Beide«, wisperte sie schließlich zurück. »Der Ewige der Seele kann nur durch mich aus Nao gelöst werden. Oder durch Anuri, eine angakkuq, nur von jemandem, dessen eigene Seele kein Vergehen gehen die Ewigen begangen hat.«

»Also sabotiert sich Nao selbst, indem er die angakkuq vernichtet.« Adassett rieb sich die Stirn und fluchte. »Hast du eine Idee, wie du sie befreien kannst?«

Nanouk schüttelte den Kopf. »Die Wege zu den Sternen sind versperrt, weil Reiki die Altäre zerbrach. Ohne sie kommt nichts durch die Tore, oder die Spalten sind zu schmal, als dass jemand ... mächtiges wie der Ewige der Seele hindurch passt.«

Nanouk ließ sich von Adassett aufhelfen, der sie am Ellenbogen packte, damit sie die feine Lilie nicht zerdrückte und legte sie auf das steinerne Sims über dem Kamin.

»Er behauptete so alt wie die Schöpfung selbst zu sein«, murmelte Nanouk und rieb sich über die Brust, wo ihr Herz nun wieder vollkommen beschwerdefrei schlug.

»Also müssen wir zuerst finden, was Reiki den Altären genommen hat, doch können Reiki nicht um Hilfe bitten, ehe er von Nao gelöst wird«, knurrte Adassett und fuhr sich durch die Haare.

Nanouk nickte.

»Dann passt unser Plan doch ganz gut«, lächelte Adassett grimmig. »Wir töten Nao, damit Reiki wieder frei sein kann.«

Nanouk schwieg daraufhin, weil ihr mit einem Mal nicht mehr klar war, was es bedeutete, wenn sie Nao tatsächlich tötete. Ob das Reikis Schwur brach, wenn er nicht mehr an den Menschen dahinter gebunden war. Doch es war ihre einzige Hoffnung, da sie nicht wusste, wie sie Reiki sonst befreien konnte. Sie wusste nicht, wie man eine Bindung brach, geschweige denn eine weihte.

»Es ist ein Versuch wert. Doch das zu bewirken«, sagte sie leise, aber mit einer immer stärkeren Resolution im Herzen, »ist meine Bürde.«

Adassett lächelte daraufhin schief und strich ihr vorsichtig über ihre geschundene Wange. »Werden dir die Tariaksuk helfen?«

Nanouk nickte andächtig. »Das hoffe ich sehr. Du hattest Recht, sie sind erzürnt und verängstigt, dass man ihnen Paka'siulliq gestohlen hat. Sie sitzen fest.«

Die Müdigkeit ließ nicht mehr lange auf sich warten. Nanouk kroch neben Adassett ins Bett und schmiegte sich so dicht an ihn, wie es ihr möglich war. Morgen trennten sich ihre Wege und Nanouk musste Saghani unter die Augen treten.

Sie klammerte sich an Adassett, als wäre es tatsächlich das letzte Mal, dass sie einander so nahe sein konnten und fragte sich trotz Tatendrangs, ob es nicht einfach klüger wäre, zu verschwinden. Dem Hof und dem Zittergebirge den Rücken zu kehren und sich selbst in Sicherheit zu bringen. Klug, doch nicht richtig.

Sie verwarf den Gedanken sofort wieder. Sie würde Nauju nicht zurücklassen.

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Nanouk legte die Lilie in ihren kleinen Handkoffer, weil sie nicht wagen wollte sie zu verlieren, noch sie zu zerdrücken. Der liebliche Duft, welcher sie stet an die warmen Frühlingsbrisen erinnerte, obwohl es diese Blüte nirgendwo im Norden gab, beruhigte sie und gab ihr ein Gefühl der Geborgenheit.

Sie wollte Adassett nicht Lebewohl sagen, küsste ihn so lange es die Umstände zuließen und verweigerte sich strikt jeglichen Blick auf seine Gestalt, alsbald sie die Garnison hinter sich gelassen hatten. Sie war wie sonst auch schweigsam, als sie durch den nebeligen Tag zurück an den Palast fuhren und schluckte beklommen, als sich das schwere Osttor schließlich hinter ihnen schloss.

Die drückende Enge des Hofes, die drohende Silhouette des Palasts überschattete den gesamten Weg durch den lichten Nadelwald, als sich Wallheims Kurtisanen schließlich von den Palastdienern trennten und die kurze Strecke durch den Blutwald zurück legten. Man empfing sie herzlich und selbst die Herrin des Hauses wartete im warmen Foyer des Gebäudes auf die Heimkehrenden. Nanouk wollte sogleich zu ihr gehen, ehe Inja dies tun konnte, doch wurde von Maha aufgehalten, die ihr entgegen strahlte. Auch die anderen Kurtisanen in dem kleinen Umkleideraum umschwärmten sie mit einem Mal voller Neugier und Staunen, da sich Nanouks fabelhafter Umgang mit dem grausamen Henker herumgesprochen hatte.

Nanouk nickte und lächelte, doch wollte nichts von den Lobpreisungen hören, als sie nur Augen für Inja hatte, die vor Saghani knickste und ihre Aufmerksamkeit vollständig auf sich zog.

»Wie war es?«

»Hast du in Vosejn mit den noblen Herrschaften sprechen können?«

»Ist dir einer ins Auge gesprungen?«

»Bist du jemandem ins Auge gesprungen?«

Nanouk wusste, dass diese Damen es gut meinten, sie sehnten sich ähnlich wie sie doch aus anderen Gründen, nach den fernen Städten voller Adeliger. Das war ihre Möglichkeit von hier zu verschwinden, so gut sie es unter Saghani auch haben mochten, hatte Adassett immer noch recht. Es war ein Gefängnis.

Die Damen holten erschrocken Luft, als sie Nanouks lädierte Wange bemerkte und Maha versprach, dass sich Nauju um ihr Gesicht kümmern würde. Er war den ganzen Tag schon verschollen, manche meinten, er wäre unpässlich doch was es auch war, rief ein ungutes Gefühl in Nanouks Magengegend hervor.

Als sie schließlich hinter Maha die Stiegen Wallheims erklomm, rumorte ihr schlechtes Gewissen mit der Furcht um die Wette. Doch als Maha an Saghanis Gemächer klopfte und die Dame öffnete, wurde sie von Erleichterung durchflutet, als sie Nauju am hinteren Ende des Raumes gegen den Kamin gelehnt vorfand.

Die Erleichterung wurde von prickelnder Vorahnung abgelöst, als sie Inja erblickte, die mit diebischen Augen zu ihr grinste.

Saghani begrüßte sie mit einer Distanz in den saphirblauen Augen, dass Nanouk bloß befangen schluckte. Bitte, flehte sie, obwohl sie wusste, dass Irinjok sie nicht hörte und umklammerte den Handkoffer mit schwitzigen Händen, bitte lass meine Wahrheiten genug sein.

»Danke Maha, du darfst gehen. Nimm Inja mit und richte das Fest aus«, verabschiedete sich Saghani von ihrer persönlichen Kammerdienerin und Inja erhob sich mit federndem Schritt, um Maha zu folgen.

»Viel Spaß«, lächelte sie Nanouk zu und zog die Türe kräftig ins Schloss.

»Setz dich, Nanouk.« Saghani deutete auf das Sofa und Nanouk gehorchte aufs Wort. Sie stellte den kleinen Koffer neben ihre Beine und wünschte sich, sie könnte die Wärme der Lilie in Händen halten. Das hier war alles größer als ein Zwist, den Saghani mit ihrer Vergangenheit hegte.

»Du hast es also geschafft, dass Adassett dir verfällt.«

Nanouk wechselte einen Blick mit Nauju und wünschte sich, sie könnten in Zweisamkeit sprechen, denn die Gefühle, welche sie in den letzten Tagen für ihn entdeckt hatte, drohten über die Ufer ihrer Fassung zu treten. Sie wünschte, er würde in ihren Augen erkennen, was Adassett ihr immer vorgeworfen hatte: Wahrheit. Ich habe dich nicht vergessen. Ich erkenne dich jetzt. Doch so nickte sie bloß.

»Es war nicht einfach«, gestand sie schließlich, »aber er vertraut mir ohne Zweifel.«

Saghani hob eine Augenbraue und schenkte sich Wein ein. »Du bist also bereit für den nächsten Schritt?«

Nanouk schluckte, doch nickte. »Das bin ich.«

»Du willst mir also sagen«, fuhr Saghani andächtig fort und lehnte sich mit dem gefüllten Weinglas zurück, »dass es für dich kein Problem sein wird, ihn auf Befehl hin zu töten, wenn der Zeitpunkt gekommen ist?«

Nanouk saß kerzengerade auf ihrem Platz und konnte nicht verhindern, dass ihre Finger an den Rand ihres Koffers wanderten. »Nein«, gestand sie mit flatterndem Herz. »Es wird sehr wohl ein Problem für mich sein, denn jedes Nehmen von Leben, welches über den Selbsterhalt hinaus geht, ist ein Problem für mich. Doch«, fuhr sie fort, obwohl ihr die Stimme drohte zu versagen, »ich erkenne nun, was es gilt zu erwirken und möchte Euch daher mit einem Rat dienen.«

Saghanis Augen lagen kalt und unnachgiebig auf ihr. Nanouk schluckte heftig, als sie sich wunderte, weshalb Nauju vollkommen still in ihrer Peripherie stand, sie nicht ansprach, oder bedachte. »Du willst mir einen Rat erteilen? Nanouk«, lächelte Saghani ohne jedwede Freude auf dem Gesicht, »für wen hältst du dich?«

»Ich weiß«, sagte sie rasch und leise, als sie spürte, wie ihre Fassung unter Saghanis raubtierhaftem Blick zu schwanken anfing. »Ich weiß, was Inja Euch erzählt hat. Doch wenn Ihr Adassett tötet, so ändert dies nichts an dem, was Ihr so verzweifelt aufzuhalten versucht. Nao wird nie Ruhe geben, sich niemals verwundbarer machen, als am Ende dieser Woche.«

Saghani schwenkte den Wein im Glas und beobachtete die blutrote Flüssigkeit für einige Momente schweigend. »Also streitest du es nicht ab?«

Nanouk verkrampfte ihre Finger ineinander und warf einen Blick zu Nauju hinüber, der sie völlig ausdruckslos, doch aufmerksam beobachtete. »Nein, ich streite es nicht ab.«

Saghani stieß ein Schnauben durch die Nase. »Du hast dich also wahrhaftig in diesen widerlichen Mörder verliebt.«

»Ja«, krächzte Nanouk und spürte, wie sich ihre Nägel in die Haut ihrer Hände bohrten. Doch noch ehe sie weiter sprechen konnte, oder Saghani das Wort erhob, stieß sich Nauju vom Kamin ab und ging. Er sagte nichts, blickte Nanouk nicht einmal ins Gesicht und das Zuschlagen der Türe verhallte in unbehaglicher Stille.

Saghani rümpfte die Nase und blickte ihm kurz hinter her. »Du willst mir also sagen, dass es dir eher gefiele, wenn du Nao abstichst?«

Nanouk zuckte bei der freizügigen Wortwahl Saghanis zusammen, als hätte sie vor Nanouk selbst mit ihren Worten zu erdolchen. »Das ist Adassetts Plan, war es schon immer gewesen«, erklärte sie sich.

»Er möchte also tatsächlich auf den Thron steigen.«

»Er möchte, dass Nao verschwindet«, entgegnete Nanouk mit rauer Kehle und räuspert sich. »Und Ihr ebenso. Lasst mich diese Aufgabe übernehmen, denn ganz gleich, was ich für ihn empfinde, gibt es nichts, was ich eher als meine Pflicht ansehe, als die Welt vor dem zu befreien, was von Nao Besitz ergriffen hat. Ich möchte Euch weder hintergehen, noch belügen. Ich kann es gar nicht.«

Die Worte fielen nun gehetzt und drängend von Nanouks Lippen, als sich ein Teil in ihr vor Furcht zusammenzog. Saghani musste begreifen, was hier geschah, Nauju musste verstehen, was sich zugetragen hatte und sie war sich feinfühlig bewusst, wie diese gesamte Situation auf ihn wirkte.

Verräterisch, heuchlerisch, verlogen.

»Adassett vertraut mir«, wiederholte sie sich energisch. »Er wird für seine Vergehen bezahlen, bezahlt längst schon mehr als er geben kann. Doch stecht einen Verbündeten nicht aus, wenn es nicht zwingend notwendig ist. Wählt Eure Schlachten mit Bedacht. Er wird eine Putsch versuchen, nächste Woche, wenn Ihr mich zu Nao schickt. Der gesamte Palast wird in Aufruhr sein und dann können wir alle dem hier ein Ende setzen.«

Nanouk hoffte in den stillen Sekunden, als ihre Worte verklungen waren, dass sie den morgigen Tag noch erleben würde. Saghani starrte sie mit glasigem Blick an, als sich keinerlei Anzeichen einer Gefühlsregung hinter den schillernden Fassaden ihrer Augen zeigte. Vielleicht plante sie bereits Nanouk hinrichten zu lassen, es gar selbst zu tun, vielleicht sogar gehüllt in den Pelz Atashoq'siulliqs.

Doch Saghani blieb bloß weiterhin stumm und schwenkte das Glas geistesabwesend.

»Ich möchte Euch helfen«, flüsterte Nanouk schließlich, weil sie die Stille nicht länger ertrug. »Und am Ende dieser Reise«, sagte sie matt, »werde ich mich Eurem Urteil hingeben. Wenn Ihr fürchtet, dass ich davon laufe, so kann ich Euch versichern, dass ich es mit diesem Bein keinen Tag lang im Zittergebirge aushielte. Nutzt mich, ehe Euch Eure Rache selbst diese zu Nichte macht.«

»Sei still«, fauchte Saghani schließlich und das erste Mal kam Regung in ihre starre Körperhaltung. Sie massierte sich mit der freien Hand die Schläfe und schloss die Augen.

»Du weißt«, setzte sie kalt fort, »dass ich dir nicht mehr trauen kann.«

»Mir nicht, aber darauf, dass ich zu Ende bringe, was Ihr euch beide wünscht.«

Saghani stellte das Weinglas mit zittrigen Händen zurück auf den Tisch. »Und warum sollte ich das tun? Du stellst eine Gefahr dar.«

Nanouk schluckte erneut und zog sich den Koffer auf die Knie. Dass Saghani sich nicht sofort auf sie gestürzt hatte, verbuchte Nanouk als Gewinn. Sie selbst verstand Saghani nicht, hatte nur stets über sie gehört und war ihr ebenso begegnet, wie sie ihr. Maskiert. Und in den wenigen Augenblicken, als Saghani aussah, als quälten sie kräftige Kopfschmerzen, wirkte sie so menschlich, so zerbrechlich, wie eine ins Alter gekommene Frau, die von unzähligen Schicksalsschlägen gebeugt wurde. Ihr geschärfter Verstand ließ sie zu einem Ernst zu nehmenden Raubtier werden, aber selbst der gerissenste Wolf erlag schließlich der Zeit. Und Saghani hatte weniger, als die meisten davon.

»Adassett weiß, dass Ihr Eure Kurtisanen dafür nutzen wollt, den Hof zu untergraben. Und er weiß auch, weshalb Maha Sikus Gunst ersucht«, fuhr Nanouk in der entstandenen Stille fort und ließ Saghanis verzerrtes Gesicht nicht aus den Augen, als diese schließlich den Kopf hob.

Nanouk begegnete Saghanis Blick das erste Mal nicht von Hure zu Zuhälterin, sondern von Frau zu Frau. Saghani sah mit einem Mal um so vieles älter aus, ausgelaugt und erschöpft – von der Zeit abgetragen, als befände sich zwischen ihrer Seele und der Welt nicht mehr als papierdünne Haut, als löse sich ihr Körper selbst mehr und mehr aus der irdischen Verankerung.

Nanouk dachte an Naos Erscheinung und dann an Naujus, wunderte sich, ob Adassett seinen Mantel so selten einsetzte, damit er nicht an diesem Missbrauch der Ewigen zu Grunde ging, wie seine Leidensgenossen und fühlte einen Stich im Herzen. Obwohl das, was Saghani angerichtet hatte und immer noch tat, den Vergehen jedes anderen hier oben gleich kam, überkam Nanouk drückendes Mitleid mit der Herrin Wallheims.

»Er weiß«, fuhr Nanouk fort und umklammerte den Koffer fest, »dass Ihr mich zu ihm schicktet, damit ich sein Vertrauen erlange, um ihm dann eigenständig einen Dolch zwischen die Rippen zu rammen, wenn er schläft. Er wusste es schon lange bevor Ihr mich zu ihm geschickt habt. Und er akzeptiert dies.«

»Du bist wahrlich eine schlechte Lügnerin. Inja hatte Recht.«

Nanouk konnte ihr mattes Lächeln nicht verkneifen. »Es tut mir Leid. Ich bin der schlechteste Spielstein, den Ihr auf das Brett gesetzt habt.«

Saghani schnaubte durch die Nase und rieb sich die Augen. »Du bist ein Biest. Ein heimtückisches, verlogenes Biest.« Doch in Saghanis Stimme klang keinerlei Zorn mit, bloß Müdigkeit. Sie hob die Schultern und fing an, ihre kunstvolle Hochsteckfrisur zu lösen.

»Weißt du, was das schlimmste dabei ist?«, fragte sie, doch Nanouk gab keine Antwort, da sich diese Frage ohnehin rhetorisch anfühlte. Sie beobachtete Saghani dabei, wie sie aufstand und den Schmuck fein säuberlich auf ihre Kommode neben dem Kamin schlichtete.

»Dass ich von dem Moment an, als Nauju einen Blick auf dich geworfen hat, wusste, dass du mir auf die eine, oder andere Weise zum Verhängnis werden würdest. Doch Adassett verlangte nach dir, ein Umstand, der sich seit Jahren kaum ergeben hat. Also habe ich auf dich gesetzt, er wollte dich, er bezahlte jeglichen Betrag, den ich ihm vorwarf, ohne zu zögern. Es war mir klar, dass er dich für seine Zwecke benutzen würde und ich war so dumm, um dich zu bemitleiden.«

Sie hielt inne, ehe sie sich die letzte Haarnadel aus der Frisur zog und ihre schwarze, volle Mähne schwer auf ihren Rücken fiel. Der weiße Muschelkalk der Nadel blitzte im Licht der Kerzen auf und die rot schimmernden Edelsteine am Ende des Schmuckstücks glänzten wie Blut. »Doch dass du dich in einen Mörder und Kinderschänder verlieben könntest, übersteigt selbst meine Vorstellungskraft.«

»Er ist kein Kinderschänder.«

Saghani stieß ein kaltes Lachen aus und stützte sich auf die Kommode. »Natürlich nicht.«

»Er bedauert, was er Euch angetan hat.«

Saghanis Arme verkrampften sich und ihre Nägel knirschten über die Edelsteinintarsien des Möbelstücks, als ihre Stimme mit einem Mal scheußlich scharf und zornig erklang. »Kein Bedauern bringt meine Unschuld zurück. Kein Bedauern bringt Iraighn zurück und kein Bedauern auf der Welt kann wieder gut machen, was er Irun angetan hat. Was sie ihm beide angetan haben.«

Nanouk biss die Zähne fest zusammen und öffnete den Koffer, damit sie die weiße Blüte in Händen halten konnte. »Die Vergangenheit ist das schlimmste Gefängnis von allen, doch der Schlüssel ruht in uns.« Die Lilie fühlte sich immer noch warm an, doch kühlte langsam aus, als der Segen Sina-wa'siulliqs sie verließ.

»Saghani«, sagte Nanouk vorsichtig, doch fest. »Du musst vergeben.«

Saghani fuhr zu Nanouk herum und in ihren Augen spiegelte sich abgrundtiefer Zorn, als sie rabiat aufschrie. »Du wagst es, von mir zu verlangen, diesem sittenlosen Mörder zu vergeben? Nanouk, du bist nicht ansatzweise-«

»Nicht Adassett«, unterbrach Nanouk mit lauter Stimme und Saghani zuckte tatsächlich heftig dabei zusammen. »Du musst zu aller erst dir selbst vergeben.«

Saghanis Augen wurden weit und rund, als sich ihr gesamtes Leben in ihren gepeinigten Augen spiegelte. Ihre Brust hob und senkte sich heftig im Takt ihres aufgebrachten Atems und ihre Nasenflügel bebten aufgrund des Zorns. Nanouk hielt die Luft an, als sie mit jeder verstreichenden Sekunde einen tödlichen Hieb erwartete, doch dann strich sich Saghani durch die offenen Strähnen, als wäre nichts geschehen. Schluckte und schloss die Augen, stieß die Luft heftig durch die Nase aus und biss die Zähne zusammen.

»Geh mir aus den Augen«, sagte sie hohl und Nanouks Schultern sackten endlich zusammen.

Sie erhob sich leise und schloss den Koffer, um vorsichtig zu Saghani zu gehen. Die Herrin Wallheims beobachtete sie aus stillen nun wieder völlig leeren Augen, als Nanouk vor ihr stehen blieb und nach ihrer Hand griff.

Saghanis Arm war schlaff und leicht, als bestünde er nicht aus mehr als Haut und Knochen. Ihr Atem strich Nanouk über das Haupt, als sie ihre Handfläche aufdrückte und ihr die weiße Lilie gab.

»Ihr nanntet mich stets Eure Blume«, sagte Nanouk leise und schloss Saghanis lange, spinnenhafte Finger um die weiche Blüte. »Also will ich dir eine Blume sein. Dies hier ist dein Neuanfang. Sina-wa'siulliq gab sie mir, um mich sicher vor Nao zu verstecken, als ich durch die Sterne tauchte. Ich wage nicht, dieses Geschenk aus Gier erneut zu benutzen. Aber dir soll es eine Erinnerung sein, ein Versprechen. Denn so wie jeder Winter und jede Dunkelheit und jede Kälte eines Morgens von Frühling, Licht und Wärme abgelöst wird, so kannst auch du dich diesem zuwenden. Und vielleicht«, fügte Nanouk leise hinzu und trat vor der edlen Dame zurück, die nun beinahe verloren auf die zarte Blüte in ihren Händen blickte, »musst du dich am Ende dieser Geschichte gar nicht um eine gerechte Strafe für meine Wenigkeit bemühen. Vielleicht finde ich mein gerechtes Ende bereits selbstständig.«

Nanouk ließ Saghani schließlich in Stille zurück, in der Hoffnung, sich nicht maßlos überschätzt zu haben. Doch sämtliche Worte, welche sie in ihren Gemächern gesprochen hatte, entsprachen der Wahrheit. Ihrer Wahrheit und Nanouk hatte erst begonnen die Welt mit dieser zu richten. Wenn sie damit ihren Weg zum Schafott ebnete, dann sollte es ihr auch recht sein.


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