⫷ Kapitel 5: Verkauft ⫸
»He!«, rief Nanouk so laut sie sich traute, doch auch ohne, dass sie viel Stärke in ihre Stimme legte, drang diese über das vereinzelte Schluchzen der Kinder mit Leichtigkeit hinweg.
Sie schob sich zwischen den Karren hindurch, wich den Soldaten aus, um zu diesem arroganten Kerl zu gelangen, der mit unbeteiligt verschränkten Armen einfach daneben stand, während seine Leute Kinder fesselten. Es war so ungerecht, dass sie alle, nachdem ein jeder einzelne so hart darum gekämpft hatte, überleben zu dürfen, jetzt trotz allem dem Ende entgegen blickte.
Der Winterkönig nahm ihnen ohnehin schon alles, hatte dafür gesorgt, dass ihr ataaq schwach auf die Jagd ging und dass Anjij von Schüttelfrost geplagt zu lange auf ihre Medizin warten musste. Jetzt, nachdem ihre Eltern auch endlich die Trauer um ihren Bruder begraben, Nanouk selbst jegliche Erinnerung an ein Leben davor verdrängt hatte, um ihre Mutter wieder lachen sehen zu können, marschierte ein umnachteter Fürst in ihr Leben, um es erneut zu zerreißen.
Und dass dieser Prinz noch nicht einmal in Verlegenheit geriet, ein Widerwort dahingehend zu äußern, brachte einen Teil in ihr zum Glühen. Jemand der alles und mehr besaß, dachte nicht einmal im Traum daran, was er hier anrichtete. Was er unzähligen Familien antat, indem er ihnen helfende Hände und geliebte Kinder, Hoffnungsträger in dieser unwirtlichen Zeit, einfach davonstahl.
»Ihr da!« Dieses Mal war ihre Stimme laut und wütend, in diesem Augenblick gab es nichts außer Zorn in Nanouks Herzen, keine Konsequenzen und kein Bedauern, denn wenn sie hinauf ins Zittergebirge gehen mussten, dann waren ihre Tage ohnehin gezählt.
Sie stieß den nächsten Soldaten, der nach ihr greifen wollte, grob zur Seite und entlockte diesem ein überraschtes Keuchen, als sie seine Magengrube erwischte. Doch kaum war sie zwei weitere Schritte gelaufen, stellte sich ihr ein weiterer Mann in den Weg. Ein zweiter packte sie am Ellenbogen, doch sie fuhr herum und trat ihm dabei heftig auf den Fuß.
»Lasst mich los«, fauchte sie und rempelte den anderen mit der Schulter nieder.
Doch dieser war standhafter als ihr erster Gegner, fing sein Gleichgewicht und packte zielstrebig nach ihrer Kehle. Kurz trafen sich ihre Blicke, sie starrte in das hagere Gesicht eines älteren Mannes, doch minderte sein Alter nicht seine Muskelkraft.
Nanouk wand sich in seinem Griff, stieß sich mit dem Handballen kräftig von seiner Brust weg und entfloh so seinen knochigen Fingern. In einer einzigen, ihr ins Blut übergegangenen Bewegung, zückte sie ihr Jagdmesser und hieb nach dem Arm des Soldaten, der erneut versucht war sie zu überwältigen.
Der Mann fluchte und keine Sekunde später war das Reißen von Stoff zu hören, als ihre Klinge durch den Mantel an seinem Ärmel schnitt. Er wich einen Schritt zurück, doch das reichte ihr nicht. Nanouk würde keines dieser Kinder kampflos aufgeben. Sie holte entschlossen mit der Faust aus, um den Soldaten zu Fall zu bringen, gerade weil er fast zwei Köpfe größer war als sie. Wie konnten es sich solche Monster erlauben Kinder zu entführen!
Ihr entkam ein wütendes Schluchzen durch zusammengebissene Zähne, als sie ins Leere schlug. Sie hatte damals schon niemandem helfen können, weder ihren Geschwistern, noch ihrem Großvater, nicht Ajats Bruder oder seinen Eltern, konnte immer nur zusehen, wie alles verdarb, wie ihr alle unter den Augen davon starben.
Ihr Angriff wurde abrupt zum Stillstand gezwungen, als eine Hand nach ihrer Schulter griff und sie mit einer Leichtigkeit von den Beinen fegte, dass sie nicht einmal Zeit fand, den Angreifer zu erkennen. Sie holte blindlings mit ihrem Jagdmesser aus, doch zerschnitt mit pfeifendem Stahl nichts als Luft. Keinen Atemzug später schlug sie hart mit dem Rücken auf dem kalten Boden auf, sodass ihr jegliche Luft aus den Lungen gepresst wurde.
Ihr entkam ein ersticktes Stöhnen, das in einen verbissenen Aufschrei des Schmerzes überging, als kurz darauf ein schwarzer Stiefel auf ihr Handgelenk schmetterte. Unfreiwillig gab sie das Jagdmesser aus ihren tauben Fingern frei und blinzelte durch die schwarzen Punkte, die ihr vor Augen tanzten. Stöhnend wand sie sich unter dem Gewicht desjenigen, der ihr auf das Handgelenk getreten war, krallte sich mit ihrer freien Hand in die Schnallen des Stiefels, um das Gewicht von ihr zu schieben, doch deren Besitzer blieb unnachgiebig.
Es war der Prinz, der sich nun seelenruhig nach dem Jagdmesser bückte und ihren Versuchen unter seinem Absatz zu entkommen nicht einmal Beachtung schenkte. Sie keuchte durch den stechenden Schmerz, der sie auf den Boden nagelte und schaffte es nicht, sich zu wehren, als der Prinz schließlich nach dem Kragen ihres Mantels griff und sie mit einer einzigen, wuchtigen Geste auf die Beine zog. Als wäre sie nicht mehr als ein Sack Mehl.
Sie starrte ihn schwer atmend an, blinzelte die Tränen fort und fand sich unter dem stechenden Blick zweier haselnussfarbener Augen wieder.
In der Halle war es unheimlich still geworden.
»Was für eine Freveltat!« Fürst Perrin kreischte entsetzt auf und deutete anschuldigend auf Nanouk. »Lasst mir dieses Gör hier und ich werde sie gleich heute hinrichten lassen! So eine Zumutung an den König zu senden!« Er blickte sich ruckartig um, das Weiß in seinen Augen deutlich sichtbar. »Ihre niederträchtigen Freunde werde ich auch köpfen lassen!«, zeterte er weiter, doch der Prinz schenkte ihm bloß einen Seitenblick.
»Ich habe gesagt, fesselt die Kinder und packt die Ware weg.«
Seine Stimme war entsetzlich ruhig, so teilnahmslos, dass Nanouk ihn fassungslos musterte. Die Soldaten machten sich wieder an die Arbeit und dieses Mal wagte es kein einziges Kind zu klagen. Ganz egal, was für Hoffnungen sie noch gehabt hatten, die Leichtigkeit, mit welcher der Hüne Nanouk überwältigt hatte, war wie ein Schlussstrich durch die Halle geschnitten.
Nanouk spürte eine merkwürdige Enttäuschung in sich aufsteigen. Sie hatte wirklich geglaubt, dass sie einen Unterschied erwirken konnte und dass ihre Erfahrung auf der Jagd ihr zumindest einen Vorteil verschaffte. Doch angesichts der Kraft dieses Mannes entkam ihr ein unterdrücktes, wütendes Schluchzen.
Der Prinz sah wieder auf sie herab, als hätte er beinahe vergessen, dass er sie nach wie vor festhielt und Nanouk zwang sich, seinen Blick zu erwidern. Er hatte zerzauste schwarze Haare, die ihm wild ins Gesicht fielen, eine breite Nase und eine Narbe, die sich von Wange zu Wange unter seinen Augen über den Nasenrücken zog. Er war nicht hässlich, aber ein Schönling ebenso wenig. Vor allem aber machte ihn seine Ausstrahlung, die Gleichgültigkeit in seinem Blick zum hassenswertesten und hässlichsten Mann in dieser Halle.
»Ihr könnt keine Kinder stehlen«, stieß sie schließlich mit zugeschnürter Kehle hervor, ignorierend, dass ihr Schicksal bereits besiegelt war. Sie musste den Kopf in den Nacken legen, um seinem Blick überhaupt begegnen zu können und fühlte sich dadurch noch stärker erniedrigt, als ohnehin schon durch ihr Scheitern.
Der Prinz blickte sich einmal in der Halle um, seelenruhig und ohne Eile, ehe er seine Augen zurück auf sie richtete. »Es ist nicht stehlen, wenn es freiwillig gegeben wird«, antwortete er ihr und ließ sie schließlich los. Aber nur, um sie in die Arme des nächsten Soldaten zu stoßen. Desjenigen, den sie mit dem Jagdmesser beinahe verletzt hatte. Er fing sie auf und verdrehte ihr sogleich die Hände auf dem Rücken.
»Das was hier geschieht kann man wohl kaum freiwillig nennen!«, warf sie ihm vor, doch ihr wurde rasch klar, dass es diesen Männern egal war. Ob sie nun Korn, Stoffe oder Menschen ins Zittergebirge schleppten, für die Soldaten des Königs zählte schließlich nicht was, sondern nur dass sie die Abgaben zurückbrachten.
»Bevor wir oben ankommen, sind wir alle erfroren!«, schleudert sie ihm trotzig entgegen und der Prinz, der sich soeben abgewandt hatte, hielt auf dem Absatz inne. Nanouk beschlich ein ungutes Gefühl, als er sich langsam zurück zu ihr umdrehte und den Mann, der sie festhielt Seufzen hörte.
»Zu erfrieren wäre eine Gnade.« Er musterte sie von oben bis unten und Nanouk biss die Zähne zusammen. Weil wir in seinen Augen bereits das Leben von Ungeziefer führen, dachte sie zornig bei sich. Sie stemmte sich gegen den Griff des Soldaten, der sie hielt.
»Ihr seid verachtenswert!«, spuckte sie ihm entgegen, verdrehte sich die Schultern und schaffte es sogar einen Schritt für sich zu gewinnen, doch der Prinz erstickte jegliche Gegenwehr mit einer einzigen Geste im Keim.
Er packte den kleinen Jungen, den Fürst Perrin zuvor neben ihn gestoßen hatte, am Kragen und drückte ihm Nanouks Jagdmesser fest auf die Kehle. Der Junge schrie entsetzt auf, als sogleich Blut unter der Klinge hervorquoll und seinen Wintermantel benetzte.
»Du willst, dass sie vorher schon sterben? Dem kann ich nachhelfen.«
Nanouk erkannte selbst unter seinem schwarzen Pelzmantel, wie sich die Muskeln in seinem Arm anspannten, den Bruchteil einer Sekunde bevor er das Messer durch die Kehle des Winzling zog und schrie fassungslos auf.
»Stop! Nicht!«
Der Hüne hielt inne und nur das atemlose Schluchzen des Kindes hallte zwischen ihnen durch die Halle.
»Tut ihm nichts, bitte.«
Der Prinz bedachte sie mit einem angewiderten Blick und stieß den Jungen schließlich so kräftig von sich, dass dieser zu Boden stürzte.
»Braves Mädchen«, lachte er herablassend, als Nanouk keinen Finger mehr rührte und sich ohne Gegenwehr von dem Soldaten packen ließ.
Die anderen Männer stimmten in sein Lachen mit ein und die angespannte Stille löste sich langsam auf.
»Was wolltest du denn gegen ihn ausrichten?«, ertönte die mürrische Stimme des Mannes, der sie hielt. »Sei froh, wenn dein Handgelenk nicht gebrochen ist. Zügle dein freches Mundwerk, oder ihr werdet alle dafür büßen müssen.«
Nanouk schluckte benommen, aber er hatte Recht. Ihr Handgelenk pochte unaufhörlich und wüsste sie es nicht besser, hätte sie beinahe glauben können, dass der Soldat achtsamer mit ihrer verletzten Hand umging, als er sie fesselte und zu den anderen Kindern schleppte.
Sie blickte sich in der Halle um, in der nicht mehr als drei dutzend Kinder und Halbwüchsige schweigend und schniefend in einer Zweierreihe darauf warteten in ihr Verderbnis geführt zu werden. Als sie einsam an der Spitze des Zuges stand und der strenge Soldat sie direkt an den ersten Karren band, spürte sie die Verzweiflung durch die dumpfe Wut sickern.
Sie hatte aus Impuls gehandelt, war unbesonnen einfach drauf losgestürmt und hätte Ajat sie so gesehen, hätte er sie bestimmt ausgelacht. Sie kniff die Augen zusammen. Aber einfach daneben zu stehen und mitansehen zu müssen, wie die Prinzen des Winterkönigs nun auch Kinder stahlen, fühlte sich wie ein Messer an, das sich zwischen ihre Rippen ins Herz bohrte. Sie selbst mochte mit ihren achtzehn Jahren gerade so als Erwachsene gelten, doch machte dies keinen Unterschied im Angesicht der rohen Gewalt dieser Männer.
Fürst Perrin war längst verschwunden, als die letzten Kisten voller Felle auf die Karren vor den Toren des Handelskontors geladen wurden und die trübe Abenddämmerung die Schatten löschte.
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