⫷ Kapitel 49: Die Toten und das Leben ⫸
Dieses Mal blieb Adassett bei ihr, als Nanouk sich darauf vorbereitete hinter die Sterne zu treten. Obwohl Adassett bis zu einem Punkt, an dem Nanouk nur noch mit den Augen rollen konnte, wiederholte, dass sie das nicht tun musste, legte er ihr sogar einen Polster auf den Boden, damit sie es bequem hatte. Er setzte sich hinter sie, damit sie nicht ungelenk auf dem Boden zusammensackte und Nanouk schmiegte sich trotz schmollender Worte an ihn.
Durch ihn erfuhr Nanouk schließlich, dass es kein großes Geheimnis hinter der Reise in die Welt der wartenden Geister gab. Jeder konnte diesen Weg einschlagen, wenn es nur versucht wurde.
»Wenn du mir jetzt versuchst zu erklären, dass man bloß sterben muss, um zu den Geistern zu gelangen, dann trete ich dich«, warnte Nanouk mit tonloser Stimme und Adassett schüttelte lachend den Kopf.
»Es wäre auf jeden Fall der endgültigste Weg, um mit den Tariaksuk zu sprechen.«
»Weil ich dann eine von ihnen wäre«, murrte Nanouk und versuchte die Nervosität aus ihren Fingern zu zwingen, welche den kleinen Tannenzweig hielten.
Auf die Frage hin, weshalb er es dann nicht selbst tat, runzelte er die Brauen. »Weil ich keinen Anker im Diesseits habe. Du magst zwar keine ausgebildete angakkuq sein, doch die Glyphe auf deinem Nacken ist die Erinnerung an deine Lebendigkeit. Ohne die ...«
»-würde ich den Halt verlieren und nie wieder nach Hause kommen«, vollendete Nanouk seinen Satz und eine dumpfe Furcht schlich sich in ihr gerade eben noch gewonnenes Selbstvertrauen.
»Ich habe dich nicht aus Spaß gewarnt«, erklärte Adassett. »Und ich möchte deshalb auch, dass du weißt, was auf dich zukommt. Angakkuq ist nicht alleine dazu in der Lage, hinter die Sterne zu blicken und die Ewigen samt ihrer Boten sind nicht die einzigen, die zu uns hinüber wandeln.«
Nanouk rieb sich die verschwitzten Hände an ihrer Tunika trocken und drehte sich beinahe ehrfürchtig zu Adassett um.
»Böse Geister wie der Akhlut oder Ijiraq sind ebenfalls Geschöpfe, die vom Jenseits ins Diesseits wechseln können und ich hoffe, dass du ihnen nicht begegnest.«
Nanouk lächelte vorsichtig. »Aber Reiki wird mir doch nichts tun.«
Zu ihrem Schreck blieb Adassett jedoch stumm auf ihre Aussage und deutete auf den Tannenzweig. »Du kannst es immer noch sein lassen.«
Nanouk schüttelte den Kopf und hielt den Zweig in die Flammen. »Ich werde die Tariaksuk finden. Und ihnen erklären, was du brauchst.«
Adassett nickte. »Aber sei vorsichtig. Die Tariaksuk sind nicht ohne Grund wütend.«
Nanouk rang sich ein Lächeln ab und blickte auf die Glut, hörte Adassett neben sich atmen und wollte ihn ein letzte Mal danach fragen, wie sie sich an Akhlut vorbei drängen konnte, sollte er auftauchen, doch da war sie bereits übergetreten.
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Nanouk fühlte sich von Mal zu Mal wohler in der Ruhe hinter den Lebenden. Die Lichter empfingen sie wie sonst auch schon mit neugierigen Tönen und Stimmen, die zu sanften Worten wurden, je länger Nanouk sich durch die Welt hinter der Welt schob. Die Lichter jedoch bedachten sie nun mit einer Vorsicht, die sie beschämend ihrer Hast das letzte Mal zu verschulden hatte.
Du bringst Unheil mit dir, wisperten die Stimmen und das erste Mal, seit sie in die Welt der Geister getreten war, achtete Nanouk auf die schwarze Stille zwischen ihnen. Sie hatte zuvor nichts darin erkannt, sich stets auf das Licht der Lebensflammen konzentriert, dass sie sich nun einen Dummkopf schalt. Der Ewige war auch nur durch den Zwischenraum der Sterne sichtbar geworden, hinter den Sternen gab es keine wirkliche Leere, sondern bloß Abwesenheit, welche ihr Gegenstück verkörperte.
Ich suche die Tariaksuk. Ich erflehe eure Hilfe.
Nanouk bemühte sich, an dem gleißenden Band der Magie vorbei zu spähen, sich nicht blenden zu lassen und stattdessen die Leere zu betrachten. Nach den dünnen Armen zu suchen, die sich gelegentlich nach ihr reckten, die stummen Augen zu finden, welche sie mit intensiver Neugierde beobachteten, vielleicht schon seit sie ein kleines Kind gewesen war.
Und dann formte sich die Welt hinter den Sternen mit einem seltsamen Ruck zu einem neuen Ganzen zusammen, sodass Nanouks Magen einen heftigen Satz machte.
Die stumme Leere zwischen den Lichtern war nicht mehr leer, oder stumm. Das, was Nanouk stets als Zwischenraum der tanzenden Sterne erfasst hatte, wurde erst durch das sanfte Schimmern des verwobenen Magiebandes zu einem verständlichen Bild. Als wäre das Lichternetz bloß der Umriss der sich in der Dunkelheit befindenden Geschöpfe, der Zwischenraum ließ sie lebendig werden. Der Spalt zwischen zwei Lichtern wurde zum Arm eines Tariaksuks, der Ring aus Sternen dort zu einem Auge und der stille Tanz der Lebenden spiegelte den der toten Wartenden wieder.
Nanouk stockte der Atem, als sie unwillkürlich nach dem Band aus Licht griff, um aus der wogenden Masse der Schattenmenschen zu gleiten, die trotz ihrer stillen Sanftheit dennoch so anders beschaffen waren, als sie selbst. Eine Lebende.
Bist du sein Freund?
Oder seiner?
Die stummen Augen aus dunklem Schatten huschten über Nanouk, suchten nach ihren Beweggründen und nahmen den Platz in ihrem Kopf ein, der durch das helle Summen der Lichter entstand. Als wären auch diese beiden Gegensätze bloß in untrennbarer Zweisamkeit lebendig. So wie Utaaki und Onori, Sina-wa und Ninri.
Ich bin eine Freundin der Ewigen, dachte sie zurück. Ich bin Bindung und möchte euch helfen.
Die Tariaksuk reckten ihre dünnen, durchscheinendem Finger nach ihr, als sie neugierig näher schwebten und sich gegen ihr Licht drängten.
Genommen haben sie ihn! Eingesperrt haben sie uns! Wir warten, während er unsere Kinder tötet!
Bindung. Heimat. Paka ist fort. Der Weg zu ihm ist dunkel. Bringst du ihn zurück?
Nanouk fühlte die unsichtbaren Hände an ihren unsichtbaren Schultern und Haaren, ließ das strahlende Licht los, um sich von den Tariaksuk davon ziehen zu lassen.
Ich hoffe es. Ich will es.
Du bist eine Freundin.
Das will ich sein. Doch ich brauche eure Hilfe.
Nanouk ließ mit wachsendem Unbehagen zu, dass sie die Zwischenräume des Lichts immer tiefer in ihre Mitten zogen, bis sie das warme Schimmern der Magie bloß noch als ferne Linien erkennen konnte. Wie Sonnenstrahlen unter der Wasseroberfläche.
Das, was Nanouk daraufhin fühlte, mochte sie in dieser Welt gar nicht beschreiben. Eine dunkle Vorahnung, eine noch düsterere Erinnerung flutete ihren Geist, als sie an den Traum dachte, in welchem Ijiraq zwischen den toten Bäumen auf sie gewartete hatte. Sie hatte das hier gesehen, sich selbst, sinkend zwischen die Schatten, immer ferner dem Licht. Nanouks Körper schnappte panisch nach Luft, auch wenn Nanouk selbst keine Panik zu spüren vermochte. Sie reckte ihre Hände nach den Lichtern, versuchte in einer luftleeren Welt zu atmen und meinte, ersticken zu müssen, obwohl sie das hier gar nicht konnte.
Was willst du von uns?
Nanouk versuchte die irdischen Eindrücke der Enge und Angst zu vertreiben, spürte, wie die Tariaksuk vor ihren Gefühlen davon schreckten, verhöhnt oder verängstigt von ihrer Lebendigkeit.
Es gibt in der Welt der Lebenden eine Krankheit, erklärte sie um sich abzulenken und nicht an die grauenvollen Minuten des Ertrinkens zu denken. Ist er hier? Ist Imiaq vielleicht noch hier unter ihnen?
Die Tariaksuk gerieten in sanfte, scheue Aufruhr, als sie mit dem Namen um sich schlug, als wäre es eine Waffe.
Es gibt hier keine Namen, flüsterten die Schatten und beäugten sie misstrauisch. Nur die Wartenden.
Ich brauche eure Hilfe, dachte Nanouk betreten. Eine mächtige Dunkelheit nimmt dem Land sämtliche Bindungen. Sie lebt in Nao.
Wissen wir, wir kennen ihn nicht. Wir trauen uns nicht auf den Berg, denn dort schleicht Ijiraq durch die Welt und tötet uns.
Frisst uns.
Auch er sucht nach dem Unheil in den Schatten, flüsterte eine Stimme ganz dicht an Nanouks Ohr. Wir fürchten Ijiraq, doch sein Zorn ist unser Zorn.
Büßen sollen er und seine Schlächter, riefen die anderen Tariaksuk dazwischen und übertönten die leise Stimme neben ihr. Niqinniapuq!
Die Tariaksuk schüttelten ihre weichen Fäuste, manche klagten mit stummen Zungen und wieder andere versuchten sich hinter ihren kriegerischen Schatten zu verstecken, türmten sich auf und sanken mit fernem Seufzen in sich zusammen.
Nanouk versuchte durch die Schatten zurück zu der Stimme der Vernunft zu horchen, doch fand nur entsetzte und vor Wut verzerrte Gesichter.
Ihr müsst Ijiraq aufhalten, flehte sie schließlich ihn fangen und knechten, damit ich den Verbrecher richten kann. Ihr müsst nicht auf den Berg, bloß auf die Hänge, ihn finden und packen.
Er trägt den Namen Reiki, fuhr Nanouk fort. Ihr müsst ihn locken, damit er unachtsam wird. Damit ich zum Zug komme.
Die Tariaksuk ließen gepeinigtes Klagen hören, als sie von Ijiraq sprachen, sich flüsternd von seinen Gräueltaten berichteten und seine Zugehörigkeit abstritten.
Wir können Reiki binden, wenn du uns versprichst, Paka zu bringen. Doch wir werden Ijiraqs Pfade nicht kreuzen.
Erklärt euch, forderte Nanouk, doch die Tariaksuk schüttelten stumm ihre Köpfe.
Richte den Verbrecher. Bring uns Paka.
Nanouk suchte nach einer Begründung in den dunklen Augen der Schattenmenschen, doch stieß selbst im Schweigen auf betretene Stille.
Ich bringe euch Paka, versicherte sie schließlich zerknirscht und die Tariaksuk atmeten gemeinsam schattenhafte Erleichterung durch Nanouks Gedanken.
Ich gebe euch ein Zeichen, werde euch rufen. Wir haben nur diese eine Möglichkeit.
Die Tariaksuk summten wütend und verängstigt. Nanouk wusste, dass die Schattenmenschen nicht gewaltbereit waren, Oder Angst verspüren sollten. Diese Gefühle gehörten den Lebenden und obwohl sie nach wie vor ihre Abneigung dahingehend verspürte, erfüllte es sie mit merkwürdiger Trauer zu sehen, dass den Tariaksuk ihre gesamte Existenz entrissen wurde und Nao die Welt der Geister bereits so stark vergiftet hatte, dass selbst die unbekümmerten Toten bereit waren erneut zu hassen. Auf Rache zu sinnen.
Nanouk befiel eine tiefe Unruhe, als sie durch den dunklen See aus weichen, körperlosen Stimmen glitt. Sie wusste aus den Erzählungen ihres ataaq, dass die Tariaksuk durchaus in die Welt der Lebenden gleiten konnten, doch ähnlich wie Ijiraq geschah dies nicht auf eine Weise, welche die Lebenden erkannten. Bloß aus den Augenwinkeln blinkte ab und an ein Arm, ein Mund oder eine Schulter ins Diesseits. Doch mit wachsendem Unbehagen erinnerte sich Nanouk ebenfalls daran, dass die Tariaksuk erneut sterben konnten.
Im Diesseits wurden sie greifbar und somit verwundbar. Und ein Toter, welcher erneut getötet wurde, verlor seine Seele, seine Zugehörigkeit zu den Sternen und war für immer verloren. Die Vorstellung ein Leben so endgültig auszulöschen befiel Nanouk mit einer tiefen Unruhe und eine dunkle Vorahnung beschlich sie, als sie an die aufgewühlten Gemüter der Schattenmenschen dachte.
Wenn der Verlust Pakas sie bereits derart belastete, würden sie sehr wahrscheinlich, getrieben von der ihr so fremden Wut, auch nicht davor Halt machen, selbst zu sterben, um Gerechtigkeit walten zu lassen.
Doch die Tariaksuk zerstreuten sich, ihre Gedanken drifteten davon und entfernten sich von ihrer Bitte, flüsterten und tuschelten miteinander, huschten zurück zu ihren Häusern, um sich zu verstecken, bis Paka wieder kam, um sie zu leiten.
Nanouk blieb in ihren Zwischenräumen zurück, denn obwohl sie sich von ihr abwandten, war sie immer noch umgeben von ihren verdrehten Gliedmaßen und den schwebenden Händen.
Was für eine Gerechtigkeit war dies? Nanouk spürte einen traurigen Stich in der Seele, als sie an die Tariaksuk dachte, die so weit an ihre Grenzen getrieben worden waren, dass sie sogar ihr eigenes Wesen verraten würden. Als hätte man sie auch allesamt vor furchtbare, vollendete Tatsachen gestellt und ihnen ein Schicksal aufgezwungen, welches sie niemals ereilen hätte sollen. Man trieb sie zu Hass und Vergeltung, zwang sie dazu mit sich selbst zu brechen, bloß um der furchtbaren Aussichtslosigkeit ihrer Lage zu entkommen.
Unruhig blickte sie sich um, versuchte sich in dem Schattensee zu orientieren und zog sich an den Schultern der Tariaksuk langsam vorwärts, zurück ans Licht. Erst, als sie die sanft schimmernden Bänder zwischen den durchscheinenden Körpern erkennen konnte, wurde sie von einer Erleichterung durchflutet, die ihre vorangegangene Anspannung vertrieb. Sie machte sich bereit nach dem warmen Band zu greifen, als sie mit einem absurd irdischen Gefühl heftig gegen eine steinharte Wand prallte, die sämtliche Lichter um sie herum löschte.
Als fiele ein schwarzer Vorhang aus kaltem, schwarzem Eis um sie herum und sperrte alles aus. Die Sterne, die Lichter, das Leben. Nanouk spürte irgendwo im Diesseits, wie ihr Körper aufhörte zu atmen und alle Kraft aus ihren Muskeln wich.
Hallo, kleine Maus.
Das beängstigende Gefühl, welches sie zuvor versucht hatte zu verdrängen, kehrte mit unvorstellbarer Macht zurück. Die Kälte schloss sich fest um sie herum, wurde schwer und drückend, wie die dunklen Fluten des Meeres und die lähmende Angst schlug ihr die Klauen in die Brust.
Schleichst durch meinen Garten, wie eine Diebin, drang die Stimme von so nah an ihre Ohren, dass sie augenblicklich erstarrte. Was stiehlst du, frage ich mich.
Nanouk fühlte über die Mauer, welche sie hielt und verspürte einen heftigen Schmerz, der sich in ihren Geist fraß wie Eiswasser. Das qualvolle Kreischen von stürzenden Möwen und sterbenden Walen riss an ihr, brachte sie zum Zittern und zerteilte ihr Gefühl der eigenen Existenz, bis sie meinte, in dieser lichtlosen Glocke zu sterben.
Nicht so schüchtern, grinste die Stimme und Nanouk spürte eine schattenhafte Berührung durch ihren Geist fahren. Schrei für mich.
Nanouk schrie, als sich harte, knöcherne Finger zwischen ihre Rippen bohrten. Sie konnte nicht sagen, wie, denn ihre Lungen existierten hier nicht. Ihr Körper war leblos zusammen gesackt und hier besaß sie schlichtweg keinen.
Immer wieder schlüpfen sie durch mein Zuhause, als wüssten sie nicht, dass ich sie allesamt sehe, hauchte die Stimme und Nanouk fühlte leblosen Atem im Nacken.
Sie wand sich in der Dunkelheit, als die kalten Mauern immer näher zu ihr aufschlossen und sie zu ersticken drohten.
Ihr Erdlinge erkennt die Grenzen nicht, welche euch die Welt zieht. Ihr setzt die Gier in Neugier, ohne zu verstehen, dass manche Dinge lieber ruhen sollten.
Wer seid Ihr? Nanouks Gedanken zitterten, als ihr Geist wie gelähmt in dem eiskalten Griff des Monsters hing, welches ihre Welt zerriss.
Weil du die Höflichkeit besitzt, mir dieses Geschenk deiner Pein zu machen, will ich dir eine Botschaft mit auf deinen kümmerlichen Weg geben. Gebannt haben deine Götter mich, in den Körper eines Erdenwurms, geknechtet haben sie mich mit einer Rune voll grausamer Macht. Sie verstehen nicht, wer ich bin, weil ich uranfänglich bin, der ersten Ordnung entsprang und der Schöpfung gleiche, welche ihre gebrechlichen Körper formte. Und ich werde mich rächen, werde eure Seelen fressen, euren Verstand entzweien und eure Herzen brechen.
Es war vorbei. Nanouk griff erfolglos nach dem warmen Band der Magie, als sich plötzlich feine Risse in der Kälte auftaten. Jemand oder etwas stieß die Dunkelheit davon, gehüllt in einen Schleier aus gleißendem Licht. Gleißender noch, als der mächtige Schneebär. Das Licht griff nach ihr, zog sie zurück an die Wasseroberfläche, während sich unter Nanouk ein Abgrund auftat, der ebenso weit und unendlich war, wie das Himmelszelt.
Doch das Licht nahm sie an der Hand und zog sie beinahe lachend mit sich davon. Sie konnte die Freundlichkeit dieses Geistes bis in ihr Herz fühlen, welches weit entfernt stotternd zum Leben erwachte. Bestärkt durch einen Schub an überirdischer Kraft wich die Kälte aus Nanouk und erfüllte sie vollkommen.
Du darfst dich nicht von ihm fangen lassen, flüsterte die Wärme und zog sie fort von dem Abgrund, hinauf zu den Wolken, bis sie durch den Himmel brachen und die funkelnden Sterne einer gleißend hellen Landschaft wichen. Eine Welt, hinter der Welt, hinter der Welt.
Nanouk schwindelte, als sich schimmernde Felder aus purem Tau vor ihr erstreckten und eine Sonne so hell schien, dass sie nicht einmal mehr sagen konnte, woher sie kam. Zwischen dem funkelnden Tau, welcher das Licht in unendlichen Farbspektren brach, erblickte Nanouk große weiße Blüten, die sie bisher nur auf den exotischen Gemälden in Wallheim gesehen hatte.
Und dann erkannte sie vor sich eine Gestalt.
Seid Ihr Utaaki?, flüsterte Nanouk ehrfurchtsvoll, doch die Wärme lachte sanft.
Mich in ihre Gewänder zu kleiden würde ich nicht wagen. So mächtig wie sie ist sonst nur Onori. Beachtung schenken sie mir beide keine.
Wer seid Ihr dann? Nanouk war versucht einen Arm auszustrecken und stellte fest, dass sie einen schimmernden, durchsichtigen Körper besaß, der ähnlich den Tautropfen in der endlosen Weide aus weißen Blüten im Licht des Geistes leuchtete. Ein Ewiger?
Nein, gab die Wärme zurück. Einer ihrer Advokaten. Doch ich habe nicht viel Zeit, wenngleich die der irdischen Welt hier keine Rolle spielt. Doch jener Ewige, welcher an Naos Körper gebunden ist, ist wie einer der meinen, wenngleich auch von anderer Ordnung.
Seid Ihr Sina-wa'siulliq? Nanouk hatte nicht gewagt diese Frage zu stellen, diese törichte Hoffnung zuzulassen, doch die gleißende Weite voller Wärme drängte sie dazu des dunklen Zynismus Geißel abzuwerfen.
Die Wärme lächelte traurig. Das bin ich. Die Gestalt beugte sich nach den Blüten und zupfte eine der weißen Blumen aus dem Feld. Das Licht krümmte sich um ihre Silhouette, sodass Nanouk nur rudimentäre Finger erkennen konnte, die ebenso durchscheinend waren wie ihre eigenen.
Doch ich trage viele Namen, so zahlreich, wie es Leben gibt. Ich bin die Mutter der Karibus, Sina-wa'siulliq, Hüter der Lilien oder einfach jener, welcher den Kindern dieser Welt ihre Namen schenkt, das Licht in ihnen entzündet und ihre kleinen Kerzen am Leben erhält, ehe sie sich auf den nächsten Abschnitt ihrer Reise begeben.
Dann seid Ihr in großer Gefahr, hauchte Nanouk und wollte nach dem strahlenden Licht greifen. Nao sucht Euch, um sich jegliches Leben Untertan zu machen!
Das Leben drehte die weiße Blume in den Fingern und streckte dann selbst eine Hand nach ihr aus. Es ist nicht Nao, vor welchem ich mich fürchte. Sondern die Macht hinter seiner Barriere. Er bricht sein Wesen jedoch ebenso, wie er diese Welt zerbricht. Sein Geist ist umnachtet, geschunden und zerrissen aufgrund der Qual in seiner Existenz.
Nanouk schluckte und musste daran denken, was Adassett ihr erzählt hatte. Dass eine Dunkelheit auf die Erde gefallen war, jedoch körperlos bloß vom Verlust des Lebens erzählte. Und dann erinnerte sie sich bruchstückhaft an jene Worte, welche Reiki ihr damals im Zittergebirge zugeraunt hatte.
Ein Kind, seiner Heimat beraubt, sucht nach dem Weg nach Hause. Doch findet den Weg blockiert. So tut es das einzige, wozu ein Kind fähig ist. Es schlägt um sich und stiehlt, was es denkt rechtmäßig besitzen zu müssen.
Genau, antwortete das Leben vor Nanouk. Sein Heimweg wurde ihm genommen, aus dem Missgeschick der Unwissenden heraus. So böse ihr die Seele auch glaubt, erleidet sie unendliche Schmerzen. Kein Geist, kein Ewiger sollte je an die irdische Welt gebunden sein und gerade die Seele, deren Vollkommenheit durch die Abwesenheit jeglicher irdischer Bande definiert ist, sollte sich nicht einmal auf die andere Seite wagen.
Aber ein Freund nannte sie ein Kind. Wenn sie so mächtig ist, wieso ...
Weil, kleiner Bär, die Seele von der Neugierde lebt. Zeitlos und endlos schwebt sie durch die Hallen der Sterne, will entdecken und erkunden.
Und dann rutschte sie auf die Erde, der einzige Ort, an dem sie verloren gehen würde, fügte Nanouk entsetzt hinzu und das Licht vor ihr summte in einem zarten Ton der Trauer.
Sina-wa'siulliq griff nach Nanouks Hand und hob sie zwischen sich. Und sie ging sich dabei selbst verloren. Hat vergessen, wer sie ist, ist gebrochen und gesplittert. Jetzt ist sie nicht mehr eins und der Teil in Nao ... dieser Teil wird nie wieder ganz sein können. Hör mir gut zu, kleiner Bär.
Das Leben drehte Nanouks durchscheinende Hand mit der Handfläche nach oben und hielt sie sanft in der eigenen. Ich kann dich dieses eine Mal vor seinen suchenden Augen verbergen. Nanouk fühlte die Wärme in ihrem Körper, als das Leben ihr die abgezupfte Blume in die Hand drückte.
Halte die Lilie fest und tauche zurück auf den Grund deiner Welt. Komm nie wieder hier her zurück, denn es wird dein Untergang sein.
Habt Ihr im Traum nach mir gerufen?
Die Wärme lachte stumm. Dies ist keine Kunst, die ich zu vollbringen vermag. Vertraue ein wenig mehr auf dich selbst, Nanouk. Du kennst die Lösung dieser Rätsel längst.
Nanouk wollte Sina-wa'siulliq aufhalten, nach seiner Hand greifen, um nicht von ihm gehen zu müssen. Der Weg zurück zur Erde klang unheimlich und kalt, trostlos und gefährlich. Doch ihre Finger glitten durch die sanfte Wärme seiner Erscheinung, als die endlose Lilienwiese zu verschwimmen begann. Sie hielt die zarte Blüte vorsichtig in ihren Händen, schirmte sie gegen die Welt ab so gut sie konnte und ließ sich widerwillig fallen. Sie folgte ihrem Anker, stürzte durch die sich windenden Sterne, hinunter in das Netz aus Lebensflammen und dann durch die scheidende Dunkelheit zwischen dem Diesseits und dem Jenseits.
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