⫷ Kapitel 46: Der Zorn Nanuqs ⫸

Nanouk erwachte mit Sonnenschein im Gesicht. Der Tag hatte vor dem Fenster einen frischen lichtblauen Farbton angenommen, der sie an die klare Luft über dem Meer erinnerte. Und sie befand sich schließlich auch am Meer. In einer Burg, welche über die Wellen blickte.

Sie hatte mit jener Erholung geschlafen, wie sie diese nur nach einem langen Tag Arbeit kannte, wenn sich die Glieder noch schwer und schlaftrunken anfühlten und jeder Muskel nach einer sanften Dehnung verlangte. Also schreckte sie sich ausgiebig und hieb Adassett dabei prompt in den Bauch. Dieser erwachte mit einem erschrockenen Keuchen und Nanouk zuckte zusammen.

Adassett krümmte sich leicht zusammen und erst, als sein verschlafener Blick auf sie fiel, setzte sich Nanouk rasch auf.

»Entschuldige«, beeilte sie sich zu sagen und wich ein wenig vor ihm zurück.

»Eine Handbreit weiter südwärts und du hättest tatsächlich etwas gehabt, wofür du dich entschuldigen müsstest«, entgegnete er mit einem amüsierten Funkeln in den Augen und Nanouk biss sich auf die Lippen.

Sie rollte mit den Augen und strich sich die zerzausten Haare aus dem Gesicht, um zu verschleiern, dass ihr Blick unweigerlich an ihm herab wanderte. Töricht, schalten ihre Gedanken. Töricht und dumm.

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Adassett musste sich den heutigen Tag mit dem Fürsten treffen, um die Angelegenheiten der Verbrecher und Waisen abzuschließen. Nanouk war daher froh, dass sie in der Burg bleiben und ein spätes Frühstück genießen durfte. Sie war zwar nicht erpicht darauf, den ganzen Tag ohne Adassett verbringen zu müssen, doch vorsichtig optimistisch, dass ihr die Frische der Abwechslung in Vosejn gut tat.

Man informierte die Kurtisanen darüber, dass der Fürst samt des Prinzen auf die Jagd gehen würde, um seinen Besuch in der Stadt ausklingen zu lassen. Nanouk wunderte sich, ob dies überall Brauch war, bloß in Aalsung nicht. Ob Fürst Perrin dafür verantwortlich war, dass sich kaum jemand in seine Stadt wagte, oder die unwirtliche Lage für sich selbst sprach.

Natürlich hatten die Kurtisanen ebenfalls zu erscheinen, denn es musste schließlich vor und nach der Jagd jemand für die werten Herren anwesend sein, um Wein einzuschenken und zu unterhalten.

Nanouk lauschte diesem Befehl mit Unbehagen. Sie war bisher noch nie so öffentlich zu einer Veranstaltung geladen worden, ohne dass Adassett Anspruch auf ihre Anwesenheit erhoben hatte. Unbehaglich kleidete sie sich schließlich in die warmen Gewänder und wurde mit der restlichen Dienerschaft in das Gefolge des Fürsten eingegliedert.

Der Weg führte sie am frühen Nachmittag aus Vosejn hinaus in den umliegenden, licht bewaldeten Küstenstreifen, wo sich die zäheren Wildtiere aufhielten. Nanouk fühlte sich beinahe wohl zwischen den anderen Damen und lauschte den Kurtisanen aus Vosejn mit Interesse. Auch wenn die Winter hier ebenfalls hart waren, stellte Nanouk mit Erleichterung fest, dass sie hier nicht gar so fürchterliche Tribute forderten. Sie wunderte sich, ob dies daran lag, dass es hier noch mehr der Lebensmagie gab, als in Aalsung, oder im Zittergebirge. Ob der Abstand zum Palast und dadurch zu Nao bedeutete, dass die Magie hier noch nicht gar so aufgezehrt war.

Abgesehen von Inja, unterhielten sich die Kurtisanen angeregt über die traditionellen Feste, die man hier im Tal nach wie vor feierte. Nanouk fühlte eine merkwürdige Ruhe, zu wissen, dass das Leben, so kalt und grausam sie es auch erlebt hatte, anderswo weiterging, dass es nach all den fürchterlichen Geschehnissen nicht überall so dunkel war.

Als das Feldlager errichtet wurde, mussten die Kurtisanen zwar nicht mit anpacken, doch woben sie sich lachend und scherzend unter die reiche Gefolgschaft. Nanouk erkannte, dass vor allem Saghanis Damen genau wusste, auf welche Nobelmänner sie achten mussten, wer das meiste Geld besaß und daher auch am großzügigsten entlohnte.

Sie selbst fühlte sich trotz unzähliger Lehrstunden unter Ischka hölzern und fehl am Platz, als die bunten Stoffzelte errichtet und die Pferde gesattelt waren. Die eifrigen Jagdhunde stemmten sich bellend gegen die Leinen, welche sie hielten und übertönten das emsige Treiben mit ihrem ungeduldigen Knurren.

Adassett und der Fürst würden die Jagd anleiten, um als erstes zum Zug zu kommen. Nanouk beobachtete Adassett von fern, wie er nahtlos und unheimlich überzeugend zurück in die Rolle des arroganten, selbstsicheren Henkers schlüpfte. Wie er Stallburschen mit grober Rücksichtslosigkeit begegnete und nicht einmal einen Blick für jene erübrigte, welche sich in seiner Umgebung unter seinem herrischen Blick duckten. Wie ausladend und laut er lachte, wann immer ein anstößiger Witz gerissen wurde, überhaupt nicht so, wie gestern Nacht.

Nanouk verzog den Mund, als sie fest stellte, dass sie sein leises, abgehacktes Lachen vermisste, wann immer sie ihn auf dem Platz erblickte. Das Zelt der Kurtisanen stand ein wenig abseits, doch nahe genug des Schankzeltes, sodass die Damen stets mit Wein bedienen konnten.

Nanouk war gezwungen sich ebenfalls einen Silberkrug zu nehmen und den Adeligen zu dienen. Nicht alle würden auf die Jagd mitkommen, oder durften sich in der zweiten Runde versuchen.

Als das Gelände abgegangen und das Vorgehen erörtert worden war, kamen der Fürst und Adassett zurück zum Zeltlager, um sich vorzubereiten. Nanouk stand mit einigen ihrer Genossinnen am Rand des Geschehens in der Nähe ihres Zeltes und fühlte sich nach wie vor unbehaglich.

»Ich vergesse immer, wie beängstigend ataha Adassett ist«, murmelte das Mädchen neben Nanouk und rieb sich die Oberarme selbst durch den warmen Pelz ihres Mantels.

Nanouk warf ihr einen raschen Blick zu und kniff die Lippen zusammen. »Ich schätze, das ist er.«

Das Mädchen holte erschrocken Luft und schüttelte wild den Kopf. »Nicht, dass das etwas-«

»Schon gut«, lächelte Nanouk und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Ich muss es schließlich wissen. Aber keine Sorge, ich lass nicht zu, dass er eine von euch berührt.«

Das Mädchen lächelte dankbar und Nanouk blickte zurück zu Adassett, der sich soeben mit dem Fürsten über die Auswahl der Frauen unterhielt.

Nanouk versteifte sich kaum merklich, als der Fürst schließlich zu ihnen herüber kam.

»Ich muss zugeben, dass meine Huren nicht ganz so vorzüglich sind wie die aus Wallheim.«

Adassett schnaubte. »Du kannst sie auch gerne probieren. Aber pass auf, die sind teuer. Leider versteht Saghani was von ihrem Handwerk.«

»Sie hat es ja lange genug selbst ausgeführt«, lachte der Fürst und Adassett stimmte mit einem Grollen zu.

»Was ist mit ihr?«, fragte der Fürst und deutete auf Nanouk, die sogleich die Luft anhielt. »Sie sieht exotisch aus. Normalerweise findet man keine Wilden aus dem Westen unter Saghanis Huren.«

Nanouk biss die Zähne fest zusammen, als sie an den verzerrten und entarteten Begriff der Wildheit dachte und versuchte es nicht persönlich zu nehmen, auch, wenn jegliche abschätzige Bemerkung in dieser Hinsicht persönlicher Natur war.

»Ist sie gut erzogen?«, wollte der Fürst wissen und Nanouk fing Adassetts Blick.

Sie erkannte, wie er für einen Moment mit sich rang und Nanouk hoffte inständig, dass er dieses Mal wie auch schon so oft davor mit einem bloßen Blick erriet, was sich in ihren Augen abspielte. Ich vergebe dir.

Der Moment verstrich und Nanouk konnte nur hoffen, dass er tatsächlich verstand, was sie fühlte. Adassett stieß ein kaltes Lachen aus und marschierte zu ihr hinüber.

»Gut erzogen«, spuckte er abfällig und schlang ihr einen Arm um die Taille, um sie an sich zu pressen. »Ich bin noch dabei sie zu züchtigen. Du kannst jede andere haben, außer sie. Ich brauche sie nach der Jagd frisch und ausgeruht.«

Nanouk blickte zu ihm nach oben. »Ich hoffe, Ihr seid es«, sagte sie mit einem dezent herausfordernden Lächeln.

Der Fürst lachte und Adassetts Blick verdüsterte sich, als ein unleserlicher Ausdruck über sein Gesicht huschte.

»Ich mag es, wenn die Weiber unartig sind«, lachte der Fürst. »Vor allem, sie daraufhin zu züchtigen und ihnen zu zeigen, dass sie bloß ihren Herren in den Mund nehmen dürfen.«

Adassett stimmte lachend zu und blickte zurück zu ihr nach unten. »Vor allem, wenn sich manche herausnehmen, ohne Erlaubnis überhaupt sprechen zu dürfen.«

Sie wusste nicht, was sie erwarten sollte, oder was Adassett durch den Kopf ging, als er sie für wenige Augenblicke mit diesem unverhohlen grausamen Blick ansah, doch seine nächste Reaktion erwischte sie in jeder erdenklichen Form eiskalt. Sie hatte ihn provoziert, vielleicht, weil es sie unter den Fingern juckte seine Grenzen zu erraten und vielleicht, weil sie es Leid war, ständig vor Furcht zu erzittern. Sie sollte Adassett für sich gewinnen und obwohl diese Aufgabe mit der Angst der weiterführenden Pflichten verbunden war, so war es dennoch etwas, das Nanouk freiwillig anstrebte.

Und vielleicht hatte sie das gesagt, weil sie wusste, dass Adassett nur hier, unter den Augen seines Publikums so weit gehen würde, ohne, dass sie etwas in dieser Hinsicht verlautbaren musste. Weil er ihr deutlich klar gemacht hatte, keine Grenzen zu überschreiten, wenn sie alleine waren und Nanouk nicht den Mut hatte, danach zu verlangen.

Adassett packte sie mit einem dumpfen Grollen am Unterkiefer und beugte sich zu ihr nach unten. Keinen Augenblick später presste er seine Lippen auf die ihren, in einem gierigen, beinahe strafenden Kuss, der sich trotz seiner momentanen Herablassung beinahe betörend anfühlte. Nanouk hatte es bis zu diesem Augenblick nicht begriffen, sich nicht viele Gedanken dahingehend gemacht, doch seine warmen Lippen trotz der Härte in seiner Geste auf ihren eigenen zu fühlen, sandte ihr ein beinahe versengendes Kribbeln durch den Körper.

Ihr entkam ein atemloses, leises Keuchen, als Adassett sie schlagartig losließ und rau lachte. »Also spar dir deinen Atem, du wirst ihn später noch brauchen.«

Der Fürst lachte ebenfalls laut auf und gab den Wink zum Aufbruch.

Adassett ließ sie ohne ein weiteres Wort stehen und bestieg sein massiges Ross, um die Jagd anzuführen. Nanouk biss sich atemlos auf die Lippen, als er sich ein letztes Mal zu ihr umwandte und für den Bruchteil einer Sekunde ein merkwürdig verdutzter Ausdruck über sein Gesicht huschte.

Wenn es nichts zu bedeuten hatte, dann hatte es nichts zu bedeuten und Nanouk musste sich zumindest keine peinlichen Gedanken darüber machen. Alles, was Adassett im Zuge seiner Rolle tat, konnte in Zweisamkeit völlig anders erklärt sein. Vielleicht wollte er sie auch gar nicht auf diese Weise. Vielleicht hatte er sie nur deswegen geküsst, weil es das war, was man von ihm erwartete.

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Über den Tag machten es sich Nanouk und die anderen in dem offenen Zelt gemütlich. Als dann aber die Jagdgemeinschaft frühzeitig und in großem Tumult in der frühen Abenddämmerung zurück kehrte, drang die Unruhe wie ein Lauffeuer durch das Zeltlager.

Das Wiehern der Pferde hallte schrill zwischen dem Winseln und Bellen der Jagdhunde durch die klirrend kalte Luft und Nanouk reckte den Hals. Sie erkannte den Fürsten und Adassett, die an der Spitze der Gemeinschaft ihre schäumenden Pferde in Schach hielten, während das Gefolge in rasantem Tempo ins Lager ritt.

Nanouk zog die Luft scharf durch die Zähne, als sie das viele Blut erblickte, welches das Fell der Pferde bedeckte und sich in einer glänzenden Schicht mit dem Schweiß vermischte. Man rief nach dem Hofarzt, als die schwer verwundeten Männer von ihren Tieren gezogen und unter heller Aufruhr in eines der Zelte verfrachtet wurden.

Nanouk fluchte leise und blickte sich erneut nach Adassett um, doch dieser wirkte munter und wohlauf, während der Fürst an seiner Seite seinen Arm fest umklammert hielt und Hilfe beim Absitzen bedurfte. Jagdgemeinschaften waren immer gefährlich und was auch immer Widerstand geleistet hatte, hatte sich heftig gewehrt.

Nanouk schluckte und versuchte das Zittern in ihren Händen zu beruhigen, als sie die Jäger zählte und zu dem erschütternden Ergebnis kam, dass mindestens vier Pferde samt Reitern fehlten.

»Das verdammte Biest kam aus dem Nichts«, drang es schließlich auch bis zum Zelt der Kurtisanen durch und Nanouk beschlich ein unheimliches Gefühl.

»Der Schneebär war gigantisch!«

»Seine Pranke hat Tosan einfach samt Pferd gegen den Baumstamm geschleudert.«

»Esjor ist tot.«

»-das Pferd zerrissen-«

»-mächtige Kiefer-«

Nanouk schüttelte den Kopf und erklomm den nächsten Hügel hinter dem Zeltlager, doch als sie in den Forst hinaus blickte, war in dem schwindenden Licht nichts zu erkennen, kein Brüllen zu hören und keine Erschütterung des Bodens zu spüren. Vielleicht aber hinter den Sternen ...

Die Jagd wurde abgebrochen, doch das Zeltlager für die Nacht gehalten. Der Fürst wäre unpässlich für einen Ritt zurück in die Stadt und die anderen Männer benötigten ebenfalls rasche Arznei. Diejenigen, die fähig waren, würden mit Adassett zurück in den Wald reiten, um den riesigen Schneebären zu jagen. Nanouk versuchte sich durch den Pulk an Dienern und Dienerinnen zu drücken, um einen Bericht aus erster Hand zu erlangen, doch scheiterte. Man drängte sie zurück zu den anderen Kurtisanen und so konnte Nanouk nur mit wachsendem Entsetzen zusehen, wie Adassett an der Spitze von bloß sieben weiteren Männern zurück in den Wald ritt.

Er sah erwartungsvoll dabei aus, als würde er sich sogar noch darüber freuen mehr Blut vergießen zu dürfen und endlich einen würdigen Gegner gefunden zu haben, doch Nanouk kam nicht umhin, die Anspannung in seinen Schultern zu bemerkten. Er war nicht zufrieden damit, doch hatte eine Pflicht zu erfüllen. Das, was da draußen sein Unwesen trieb, war kein gewöhnlicher Schneebär.

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Man brachte ihnen zu Essen, doch Nanouk war nicht hungrig. Widerwillig zerrupfte sie das weiche Brot und aß es geistesabwesend, als sie nicht aufhören konnte an Adassett zu denken. Der Fürst hatte beinahe seinen Arm verloren und war keine zwei Schritte in seinem Zelt bereits in Ohnmacht gefallen.

Als sich die Nacht über die Küste senkte, zog sie sich in Adassetts Zelt zurück, um ihm bei seiner Rückkehr zu Diensten zu sein. In Wirklichkeit suchte sie bloß nach einer Ausrede, alleine sein zu können. Ihre Sorgen waren in diesem Umfeld völlig unpassender Natur. Sie wanderte in dem Zelt auf und ab, war froh über die dicken Stoffplanen und die warmen Fackelständer zu beiden Seiten des Liegesofas. Nanouk drehte die unzähligen mit Kordeln besetzten Polster in den Händen und ließ sich schließlich auf dem mit dickem Teppich ausgelegten Boden nieder.

Sie warf schließlich auch den Polster energisch zurück auf das Sofa und spürte ihre Unruhe beinahe als stechenden Schmerz in all ihren Gliedern. Sie konnte doch nicht einfach nur herum sitzen und abwarten. Sie musste etwas machen. Mit nervösen Fingern griff sie in ihre Manteltasche und holte den abgerissenen Tannenzweig hervor, den sie im Laufe des Tages eingesteckt hatte. Sie wusste immer noch nicht, ob sie diesen verbrennen musste, damit sie in die Welt hinter den Sternen tauchen konnte, doch sie wollte kein Risiko eingehen.

Aber das tat sie Adassetts Warnung nach ohnehin, wenn sie es auch nur versuchte. Sie wollte nicht daran denken, dass Nao merkte, was sie tat und vor allem nicht, nachdem, was Adassett ihr über Anuri erzählt hatte. Oder über die Tariaksuk. Was, wenn Nao sie ebenfalls dazu zwang ihre Bindung zu zerstören, einen Urahn zu töten und ihr die Zunge herausschnitt?

Das Herz hämmerte ihr wild im Brustkorb, als Nanouk schließlich mit einem unschönen Fluch den Zweig in die Flammen hielt und sich vor dem niedrigen Tisch, auf dem Weinkaraffe, Gläser und eine Schale voll Wasser stand, nieder ließ. Sie achtete darauf, dass ihre Hand über dem Wasser schwebte, ehe sie sich bemühte, das Tor zu durchschreiten. Ob es überhaupt klappte, wenn sie so aufgewühlt war?

Nanouk schluckte und starrte konzentriert auf die sich durch das Holz fressende Glut, fand jedoch keine Ruhe. Sie bangte jede verstreichende Sekunde, in der es vor dem Zelt still blieb, um Adassetts Unversehrtheit. Der einzige Weg, um ihn zu finden, war den Lichtern zu folgen und die drückende Angst, fraß sich bis tief in ihre Seele.

Wenn sie doch nur verstünde, was sie tat, wenn sie doch einfach nach dem Band der Magie greifen konnte und sich an diesem in die Welt hinter den Sternen zu ziehen vermochte. Wenn sie doch einfach bloß daran denken musste.

Nanouk kaute auf ihren Lippen, bis sie salziges Eisen schmeckte und ihre Augen brannten. Sie hatte nicht geblinzelt und das Stechen wurde mittlerweile so heftig, dass sie sich nicht länger davon abhalten konnte. Energisch kniff sie die Augen zusammen und riss sie anschließend wieder auf, aus Angst, ihren Fokus verloren zu haben. Doch die Welt war mit einem Schlag dunkel.

Nanouk stockte der Atem irgendwo in sich, als sie sich bewusst wurde, dass sie längst übergetreten war. Es war beinahe wie das Einschlafen, die beunruhigenden und orientierungslosen Momente, ehe man zur Gänze in die Traumwelt driftete, wenn man die Umgebung noch deutlich wahrnahm, jedoch bereits mit einem Auge weit fort war.

Nanouk verlor keine Zeit, sondern reckte sich nach den weichen Lichtern. Sie suchte nach jenem, das sie zu Adassett führen würde, huschte in dem Strom umher, stieß mit den feinen Bändern der Magie zusammen und taumelte über ihre sanften Stimmen.

Du suchst den Erdling?

Nanouk lauschte auf die plötzliche Stimme, die so nah an ihr entlang wisperte, dass sie spürte, wie sie irgendwo in weiter Ferne eine Gänsehaut auf den Armen bekam.

Wo ist er?

Das Licht wurde heller und bewegte sich auf sie zu, floss in dem Strom träge um sie herum und reckte seine feinen Fühler nach ihr. Sei gegrüßt, kleiner Bär.

Nanouk glitt über dunkle Schneewehen und strich an niedrigem Gestrüpp vorbei, als sie sich von dem hellen Stern leiten ließ. Je länger sie ihm folgte und je stärker sie sich an das Licht heftete, desto klarer wurde ihre Umgebung. Wo sie zuvor nur unbeschreibliche Leere samt funkelnden Lebensströmen erkannt hatte, schälten sich nun die Konturen der irdischen Welt aus dem Lichtermeer. Als geriete sie näher an die Schwelle zwischen den Welten. Sie erkannte die hohen Stämme der Fichten und die umgestürzten Baumriesen als mächtige Brücken in dem lichten Wald. Sie hielt sich an dem warmen Licht fest, welches sie durch die Nacht trug und als sie an diesem herabblickte, erkannte sie riesige Pranken.

Der kräftige Herzschlag eines gigantischen Jägers hüllte sie mit einem Mal vollständig ein und erfüllte sie mit einer fast ... wütenden Wärme. Nanuq.

Du musst sie alle richten. Du musst uns helfen, kleine Bindung.

Nanouk wollte sich von dem strahlenden Geist lösen, als sie mit wachsendem Unbehagen feststellte, dass die Pranken zu ebenso mächtigen Beinen gehörten, die einen riesigen Körper durch den dunklen Wald trugen. Leise und ungehört, trotz seiner Größe. Das sanfte Licht pulsierte aus dem riesigen Körper und rieselte durch die dünne Mauer zwischen den Welten aus seinem Fell zu Boden.

Nanouk wäre erstarrt, wenn sie es gekonnt hätte. Der Geist, der sie durch das Jenseits trug war ein Urahn selbst. Mit fasziniertem Entsetzen erkannte sie, wie die geballte Magie dieses Wesens in Form von rieselnden Lichts sogar über die Grenze zwischen den Welten floss, weil kein Körper dieser Welt in der Lage war, solch eine fantastische Macht zu beherbergen.

Lautlos schlich der Schneebär durch den Wald, als wäre er gar nicht wirklich da und Nanouk erinnerte sich an die ebenso lautlose Erscheinung des Geweihträgers vor so vielen Wochen. Die ehrfürchtige Stille, mit welcher sie sich bewegten, rührte also daher, dass sie gar nicht wirklich in der irdischen Welt schritten, sondern bloß gezwungener Maßen ein Abbild manifestieren mussten, da ihre geballte Magie nicht ausreichte, um sich hinter den Sternen versteckt zu halten.

Nanouk erfüllte ein bodenloses Grauen, welches begleitet wurde von einem ebenso intensiven Gefühl der Ehrfurcht, als sie an den Ewigen dachte, die Stimme, welche um Hilfe gefleht hatte. Wenn ein Urahn bereits solch eine umfassende Macht besaß, was geschähe dann, wenn ein Ewiger selbst an die Grenze zwischen den Welten herantrat?

Nanouk schwindelte, als sie durch den Wald schwebte. Sie verstand nun, weshalb es der Ersten bedurfte, weshalb die Ewigen nicht selbst zu ihnen sprachen. Es würde das Gleichgewicht ihrer beiden Welten zerreißen und die irdische in haltloses Chaos stürzen.

Warte, sagte sie mit wachsendem Unbehagen, als sie durch die Ohren des Urahn langsam aber immer deutlicher Geräusche aus der Welt wahrnahm. Das Scharren von Hufen, das dumpfe Gemurmel von Männern.

Stopp, wiederholte sie mit Vehemenz, doch der Geist des Urahn war so riesig, dass sie selbst nicht mehr sagen konnte, wo sie anfing und aufhörte.

Er wird büßen.

Nanouk warf sich mit aller Kraft gegen den Sog, doch fühlte bereits, wie sich ein Teil in ihr mit dem Geist des Schneebären verkeilte. Fühlte, wie seine Pranken durch den Schnee zogen und seine Nase den Geruch der Reiter aufnahm, wie ihn dieser mit einer sengenden Wut erfüllte.

Als der Schneebär ein dumpfes Grollen vernehmen ließ, spürte sie die Vibrationen seiner Stimmbänder bis in die äußersten Fellbüschel seines majestätischen Pelzes. Der Urahn stieß nun durch die dünne Membran zwischen den Welten, ließ seinen Körper undurchdringlich werden und brach durch die Schneise auf den schmalen Pfad.

Das Knirschen und Splittern von totem Holz hallte ohrenbetäubend durch die kalte Nacht, als der Schneebär sich auf die acht Männer stürzte.

Gestohlen hat er sie! Sie gehört ihm nicht!, brüllte der Schneebär und Nanouk stemmte sich gegen ihre Pranken, die mit zielgerichteter Zerstörungswut auf die auseinander stürzenden Pferde nieder fuhren. Zwei der Rösser stiegen in wilder Panik und warfen ihre Reiter in den Schnee, drei preschten buckelnd davon und zwei erwischte der Urahn mit seinem Hieb.

Nanouk schrie lautlos auf, als sie fühlte, wie sich die scharfen Krallen des Schneebären mühelos durch das Fleisch des Pferdes schoben und mit welcher Wucht dieses samt Reiter von den Beinen gefegt wurde. Sie riss verzweifelt an den Muskeln in ihrem Arm, zog und zerrte an den Pranken des Bären und schaffte es, den nächsten Hieb von seiner Bahn zu lenken.

Adassetts Pferd bäumte sich auf und stürzte durch den heftigen Aufprall des Schneebären direkt über ihm auf den Boden.

Hör auf!

Er hat ihn genommen, hat ihn getötet und gehäutet! Richten werden wir sie, allesamt.

Panik durchflutete ihren winzigen Geist, als sie der unbändige Zorn des Urahn beinahe erstickte. Das wütende Brüllen erschütterte sie und sie sah mit an, wie Adassett sich mit einem Stöhnen unter dem gefallenen Pferd hervor zu winden versuchte.

Und dann explodierte die Nacht vor ihr in Schatten. Sie verlor jeglichen Sichtkontakt und warf ihren Kopf orientierungslos hin und her, als ein ohrenbetäubendes Flattern und Krächzen durch den schwarzen Rauch drang. Kurz darauf hieben ihr spitze Klauen ins Gesicht und ein scharfer Schnabel senkte sich in ihren Hals, wühlte durch ihren dicken Pelz und bohrte sich in ihr Fleisch.

Nanouk wand sich vor Schreck und Schmerz, schnappte mit den Kiefern blind in die Nacht und richtete sich auf die Hinterbeine, um wild um sich zu schlagen. Sie bekam etwas zu fassen und packte instinktiv zu, riss die Pranke zu Boden und beförderte einen fürchterlich grotesken Leichnam in den Schnee.

Hör auf, bitte, flehte sie stumm, als ihre Stimme so leise wurde, dass sie fürchtete, für immer zu vergehen.

Der mächtige Rabe wand sich in ihrem Griff, hackte fest und unnachgiebig auf ihre empfindlichen Fußballen, bis sie mit einem Schmerzenslaut die Pranke hob und den Vogel entkommen ließ.

Die Nacht lichtete sich, als der gigantische Rabe aufflatterte und zwischen den Fichten kaum Platz hatte, um zu fliegen. Nanouk holte erneut aus, machte einen Satz und erwischte den Flügel des Raben mit dem Kiefer. Nein!

Nanouk stemmte sich mit all ihrer Kraft gegen das Licht, welches sie hielt und trieb ihre eigenen Krallen in die Wärme. Sie würde nicht zulassen, dass der Schneebär Adassett tötete.

Sie stießen ein wütendes, kehliges Knurren aus und rissen den Raben mit einer kräftigen Kopfbewegung zu Boden. Sie schmeckten Aas zwischen ihren gewaltigen Kiefern, kosteten den Hauch des Todes, als sich alles in ihnen zusammenkrümmte.

Der Rabe schlug mit den Flügeln, doch Nanouks Kiefer schlossen sich unnachgiebig zusammen, als sie begann ihn durch den Wald zu schleifen.

Büßen, büßen, büßen, hallte es durch ihren Verstand, als sie den sich immer schwächer wehrenden Raben über eine Lichtung zerrte und sein widerliches, totes Blut über ihre Zunge lief, zwischen ihren Zähnen in den Schnee tropfte und den Boden versengte.

Hör auf, lass ihn los! Nanouk schüttelte den Kopf, als ihr Blickfeld verschwamm, sich in zwei irritierende Bilder auflöste und in ihr ein mächtiges Schwindelgefühl auslösten. Als würde sie kippen, fallen und ins Nichts stürzen.

Sie schleppten den Raben, der sich mit den Krallen in ihren weichen Pelz stemmte, zu einer mächtigen Höhle. Adassett trat nach ihrer Schnauze, zog ihnen seine Krallen in schierer Verzweiflung fest über das Gesicht und verteilte sein Blut mit hektischen Flügelschlägen über die dunklen Wände aus Fels.

Es reicht, donnerte sie mit solch einer Inbrunst, dass der Urahn mit einem irritierten Kopfschütteln reagierte. Nanouk nutzte diesen Moment, um sich selbst zwischen Adassett und den Urahn zu stemmen, drängte sich mit unbeugsamer Kraft durch das Licht und packte die Magie des Urahn mit unsichtbaren Händen. Schob und zog und zerrte sie zurück, weg von der feinen Membran zwischen ihren Welten, bis ihre Umgebung anfing zu flimmern und dem ruhigen Strom der Geisterwelt wich.

Lass die Wut ruhen. Bitte.

Der Urahn ließ ein fernes Brüllen hören, doch was auch immer es war, das Nanouk tat, wirkte. Sie entfernten sich, wurden wieder Teil des Lichtermeeres und durch den Abstand zur irdischen Welt lösten sich auch ihre Seelen voneinander. Nanouk spürte ein Schluchzen tief in ihrer Brust, als der Geist des Urahn in Verständnislosigkeit um sie herum pulsierte.

Warum? Warum nimmst du ihn in Schutz? Er nahm uns unsere Familie. Wieso verrätst du uns?

Nanouk reckte sich nach dem Licht und schloss es in die Arme. Genug Blut wurde vergossen. Es gibt einen anderen Weg. Lass die Wut ruhen, ich bin Bindung und ich werde die eure zurück bringen.

Das sanfte Vibrieren des mächtigen Geistes brachte die gesamte Umgebung in Aufruhr, die Lichter flackerten und die Sterne beugten sich neugierig über sie beide, als Nanouk mit solch einem Nachdruck in der Stimme sprach. In den Augenwinkeln erkannte Nanouk flimmernde Schatten zwischen dem Licht, neugierige Hände und Köpfe, die sich nach dem Tumult reckten und stumm erfragten, was hier geschah.

Sie erinnerte sich an ihr Fieberdelirium, als sie meinte, dunkle Schatten reckten ihre dünnen Finger nach ihr, halbe Münder grinsten sie aus den Augenwinkeln an und neugierige Blicke wurden auf schief gelegten Gesichtern sichtbar. Sie fühlte sich in dem Moment ebenso und ein kalter Schauer kribbelte durch ihren Körper weit weg, als sie an Adassetts Erzählung über die Tariaksuk dachte.

Doch für diese Gedanken hatte sie nun keinen Platz, als sie die drängende Furcht um Adassetts Wohlbefinden zurück weichen ließ. Sie musste ihn finden. Sie ließ die Welt hinter sich, suchte in der Ferne nach ihrem Körper und stellte mit Beunruhigung fest, dass sie gar nicht wusste, wie sie zurück kam. Nanouk geriet in Panik, als sie in dem endlosen Lichtermeer keine Richtung zu deuten wusste und nun auch ohne Leitung eines Ewigen nicht mehr sagen konnte, wohin sie gehen sollte.

Sie horchte auf ihren fremden Herzschlag, der irgendwo auf der anderen Seite ihren bewegungslosen Körper am Leben hielt. Fühlte nach dem Anker, der sie in der irdischen Welt erdete und folgte ihrem eigenen Band, bis sie durch das Gefühl körperlicher Enge niedergerungen wurde.


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