⫷ Kapitel 44: Lass es Asche sein ⫸
Nanouk war noch immer völlig neben sich, als Adassett schließlich eintrat und abschloss. Als er sie so entrückt vor dem Kamin sitzen sah, kam er mit gerunzelten Brauen zu ihr hinüber und kniete sich neben sie.
Nanouk beobachtete aus den Augenwinkeln, wie er vorsichtig die erkaltete Asche samt Überreste des Tannenzweiges berührte und zwischen den Fingern zerrieb.
»Was hast du gesehen?«, fragte er dann in die Stille und Nanouk wandte ihm zögerlich langsam den Kopf zu.
Ihre Gedanken wirbelten immer noch rastlos in ihrem Geist, versuchten zu begreifen, was sie eben erlebt hatte und was die körperlose Stimme erbeten hatte. Wer diese körperlose Stimme wirklich war.
»Einen Ewigen«, flüsterte sie so leise, dass sie selbst nicht sagen konnte, ob sie diese Worte aussprach, oder nur bei sich dachte. Vielleicht war sie sogar Sina-wa selbst begegnet.
Nanouks Herz fing an so heftig zu schlagen, dass sie meinte, es würde ihr aus der Brust springen. Adassett blickte sie ruhig an und legte ihr dann behutsam eine Hand auf die Schulter.
»Du musst vorsichtig damit sein«, sagte er schließlich und Nanouk schluckte. »Du weißt, dass sich solche Tore stets in beide Richtungen öffnen.«
Nanouk schüttelte langsam den Kopf und Adassett hob seine Augenbrauen.
»Du weißt es nicht? Ist das nichts, was man dir beigebracht hat?«
Nanouk legte den Kopf schief und spürte, wie sie Adassetts Worte langsam, doch endgültig zurück ins Diesseits zogen. »Wer hätte mir das beibringen sollen?«
»Du bist doch angakkuq«, stellte Adassett nun langsam in den Raum, als merkte er, dass sie beide aus unterschiedlichen Erfahrungen schöpften.
»Nein«, sagte sie daher leise und fuhr sich in den Nacken. »Das bin ich nicht. Ich habe meine Ausbildung nie beendet. Dazu kam es nicht.«
Adassett ließ seine Hand von ihrer Schulter gleiten und sank zurück auf seine Fersen. »Du bist keine ausgebildete angakkuq«, stellte er tonlos fest und Nanouk wich seinem Blick aus. »Woher weißt du dann, wie man hinter die Sterne blickt?«
»Ich habe es gesehen, als Kind«, murmelte sie schließlich und zwang sich die Hand von ihrem Nacken zu nehmen.
»Und du hast dir gedacht, du probierst es einfach, ohne um die Risiken zu wissen?«, fragte Adassett nun beinahe entsetzt und fuhr sich durch die Haare. »Du weißt, dass Nao hier draußen ist und Reiki stets die Augen offen hat, für alles, was sich in der Welt der Geister regt?«
Nanouk schüttelte zaghaft den Kopf.
»Nanouk«, stieß Adassett aus und blickte sich um, als könnte er selbst erkennen, was sich auf der anderen Seite des Schleiers abspielte. »Verstehst du denn nicht, weshalb ich dich gewarnt habe? Wenn es eine Sache ist, nach der Nao mehr dürstet als nach der Macht der Urahnen, dann ist es sämtliche Schamanen zu richten für ein Vergehen, das keiner kennt.«
Nanouk schüttelte sanft den Kopf. »Ich bin keine-«
»Und was hast du eben getan?«, unterbrach sie Adassett energisch und fuhr sich erneut durch die Haare, ehe er das Häufchen Asche aufkehrte. »Tut mir Leid«, beeilte er sich zu sagen. »Tut mir Leid, ich bin blind der Annahme gefolgt, dein Zeichen würde bedeuten, du wärst im Bilde. Du trägst schließlich die Glyphe der angakkuq.«
Nanouk kniff die Lippen zusammen, um sie am Zittern zu hindern. »Ich habe kaum meine Ausbildung begonnen«, wisperte sie und die Erinnerungen an die wenigen Lehrstunden in Beisein ihres Großvaters drohten sie zu überwältigen.
Adassett stieß die Luft durch die Nase aus und schüttelte leicht den Kopf. »Du bist zu jung, um deine Ausbildung abgeschlossen zu haben, ist es das, was du damit sagen willst?«
Nanouk hob ihren Blick und begegnete dem Adassetts. Für einige Momente sahen sie einander nur an, als Nanouk mit sich rang die Wahrheit ihrer Unwissenheit zu offenbaren und zwischen seinen Worten schleichend doch unmissverständlich eine weitere Frage entdeckte. Eine Frage, deren Antwort sich mit einem Mal in heißer Scham auf ihre Wangen stahl.
Bin ich noch ein Kind? Oder bereits Frau genug, um ... Nanouk schluckte heftig und blinzelte beschämt. Nauju hatte sich die selbe Frage erlaubt, doch bei ihm, so stellte sie nun fest, hatte sie die Antwort darauf wenig gestört.
»Nein«, sagte sie vehement und zwang sich, nicht weg zu sehen. »Ich hätte meine Lehren längst abgeschlossen, wenn nicht-«
Nanouk hatte vorgehabt sich zu erklären, die unangenehme Antwort auf seine versteckte Frage zu geben, ohne es aussprechen zu müssen, doch die Worte, welche sie bereits im Geist begonnen hatte zu formen, prallten gegen eine feste Mauer.
Adassett nickte zerknirscht. »Wenn das Ausüben deiner Berufung nicht Schimpf und Schande gewichen wäre. Es tut mir Leid.«
Nanouk holte tief Luft, als sie ihn anblickte und schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es nicht. Das ist nicht die gesamte Wahrheit.«
Das Herz sprang ihr in die Kehle und Nanouk verkrampfte die Finger im weichen Pelz des Wintermantels. Du kannst es nicht aussprechen.
Adassett legte den Kopf schief, um sie zum Weitersprechen aufzufordern.
»Ist dir nicht aufgefallen, wie hartnäckig ich versuche die Fehler in allen anderen zu suchen?« Es waren nicht die Worte, die sich nun mit geballter Kraft in ihre Bewusstsein drängten, doch weil sie diese nicht äußern konnte, suchte sie einen anderen Weg, um sich selbst zu erklären.
Adassett schnaubte halbherzig und wandte sich schließlich ab, um mehr Holz ins Feuer zu legen. »Es ist schwer, deinem verurteilenden Blick zu entgehen, das weißt du längst.«
Nanouk biss sich fest auf die Lippen und schloss kurz die Augen. »Ich weiß, ja.«
Sie beobachtete schweigend, wie Adassett das Feuer schürte und kaute energisch auf ihrer Unterlippe herum. Wie sollte sie die Worte finden, die sich so bemüht vor ihr versteckten?
»Aber?«, forderte Adassett sie erneut auf und stand schließlich auf. »Sprich es endlich aus.«
Nanouk schluckte und blinzelte zu ihm nach oben, als er breitbeinig und mit defensiv verschränkten Armen auf sie herabblickte.
»Was?«, fragte sie, als ihr der Schreck durch die Glieder fuhr, bei der absurden Annahme, er wüsste längst, was sie verbrochen hatte.
Adassett verzog den Mund angewidert, beinahe verletzt, als er mit dem Kinn zur Tür nickte. »Ich gebe mir Mühe, Nanouk«, grollte er schließlich und zwischen seinen Brauen bildete sich eine steile Falte. »Ich versuche es besser zu machen, als damals. Meine Fehler zu akzeptieren. Ich versuche seit sechs Jahren einen Ausweg zu finden, dem allen ein Ende zu bereiten und nichts daran bereitet mir Freude.«
Nanouk blinzelte ihn vor den Kopf gestoßen an und zog sich dann gegen das Bett gelehnt ebenfalls zurück auf die Beine. Adassett kam ihr dabei so selbstverständlich zur Hilfe, als hätte er nicht soeben begonnen seinem eigenen Frust auf ihre verschlossene, abwertende Haltung Luft zu machen. Sie nahm seine Hilfe verblüfft entgegen, entzog ihm allerdings rasch ihre Hand und vergrub sie in den Ärmeln des Mantels.
»Ich wollte nicht-«, fing sie kleinlaut an, doch Adassett fuhr sich energisch durch die Haare und schüttelte den Kopf.
»Ich suche nach keiner Entschuldigung, für das, was Nao macht. Ich suche auch nach keiner Entschuldigung dafür, was ich mache. Aber Nanouk«, sagte er dann mit frustriertem Nachdruck, »ich habe mich dazu entschieden an Naos Seite zu bleiben. Diese Dinge auf mich zu nehmen, aus schierer Verzweiflung, aber auch, weil ich überzeugt bin, dass es der einzige Weg für mich hier ist, etwas nachhaltig zu verändern. Ich kann mich nicht auf Reiki verlassen, der nun genau das geworden ist, was ich so verzweifelt zu verhindern versucht habe. Ein Sklave gebunden an seinen Eid, um dem zu dienen, der mich-« Adassett brach ab und presste seine Kiefer zusammen, ehe er nickte und dann den Kopf schüttelte, als wollte er einen störenden Gedanken loswerden. »Er war mein Freund.«
Nanouk ballte die Hände in den Mantelärmeln zu Fäusten. Du würdest staunen, wie nahe sie sich einst standen. Naujus Worte huschten ihr zurück ins Gedächtnis und dann musste sie an die fürchterliche Geschichte denken, die er ihr vor keinen drei Tagen erzählt hatte.
»Und deswegen war es in Ordnung, dass er dir Saghani zum Geschenk gemacht hat?« Die Worte waren heraus gerutscht, ehe sie Nanouk halten konnte.
Über Adassetts Gesicht huschte ein Ausdruck tiefster Bestürzung und er schloss die Augen, als seine Schultern zusammensanken. »Das dachte ich damals, ja.«
Nanouk öffnete den Mund, doch schloss ihn unverrichteter Dinge wieder. Was sollte sie darauf auch noch sagen? Die Welten zwischen damals und jetzt waren so weit voneinander entfernt, dass sie gar nicht mehr sagen konnte, wie sie einst ein und die selbe gewesen waren.
»Ich hätte niemals gedacht«, fuhr Adassett schließlich mit rauer Stimme fort, »dass ich so weit gehen müsste. Ich bin nicht unfehlbar, aber ich versuche aus diesen Fehlern zu lernen, so gut ich es kann. Ich bereue nicht, dass ich versuche Nao Einhalt zu gebieten, sondern nur den Preis, den ich andere dafür zahlen lasse. Und ja, ich schäme mich dafür, was ich Saghani angetan habe. Ich verstehe ihre persönliche Blutfehde gegen mich, ich verurteile ihren Hass nicht.«
»Du heißt ihn willkommen«, murmelte Nanouk und biss sich gleich darauf auf die Unterlippe.
Adassetts Augen kamen auf ihr zu liegen und er schnaubte frustriert durch die Nase. »Genau. Also tu es endlich. Verurteile mich und lass es endlich sein, dich hinter diesen abfälligen Blicken zu verstecken.«
Nanouk zuckte zusammen, als sie die Aggression in seiner Stimme der damals in seinen Gemächern zuordnen konnte, auch wenn sie diesmal mit einer Müdigkeit unterlegt war, die Nanouk im Herz stach. Sie holte scharf Luft und blickte zu ihm nach oben. »Nein.«
Unverständnis spiegelte sich in Adassetts Augen und dann schüttelte er verärgert den Kopf. »Wie, nein? Ich weiß längst, was-«
»Nein«, unterbrach sie ihn barsch und zwang sich ihre zu Fäusten geballten Hände zu entspannen. »Nein«, wiederholte sie etwas ruhiger und hob diese vorsichtig an, sodass Adassett erkennen konnte, dass sie nicht darauf aus war zu streiten, sondern sich zu erklären.
»Ich werde dich nicht dafür verurteilen. Nicht länger jedenfalls, weil es viel zu einfach wäre.«
Adassett löste seine verschränkten Arme und rieb sich über das Gesicht, sagte aber nichts, also fuhr Nanouk fort.
»Ich will nicht ständig um fünf Ecken denken, oder jedes Wort hinterfragen müssen bevor ich es auf eine Waagschale lege. Aber wenn ich das nicht mache«, sagte sie fest, »wenn ich mich hier einfach gehen lasse, wie so viele andere, mich den grässlichen Wahrheiten verschließe und nicht hinter die hässlichen Fassaden eines jeden blicke, dann würde ich dich, Nauju, Saghani, euch allesamt verurteilen. Und mich ebenso.«
Nanouk wandte den Kopf ab, als sie Adassetts glühenden Augen nicht länger standhalten konnte. »Und das ist genau der Punkt. Sie versuchen es. Du versuchst es und scheiterst. Fürchterlich. Und trotzdem stehst du jetzt hier.« Nanouk kniff ihre zitternden Lippen zusammen und versuchte ihre Tränen zurück zu halten, die drohten ihr die Stimme zu nehmen.
»Ich kann für niemanden, bis auf mich selbst sprechen. Kann nicht für die Glücklosen der letzten Jahre sprechen, nicht für die Kränkungen einstehen, welche schon lange vor meinem Kommen begangen wurden, doch ich kann für die letzten Wochen bürgen.«
Nanouk schluckte hart und rieb sich die Augen. »Und auch, wenn du es nicht glauben willst, wenn du in meinen Augen liest, was ich nicht zu sagen wage, erkenne ich jetzt zumindest, was es ist, das dich antreibt. Warum du dich vor deinen Taten verstecken wolltest, Ausreden und Schuld in den Taten anderer gesucht hast. Weil es einfacher war, dich deiner Vergehen zu entziehen, dich blind zu stellen für dessen, was du angerichtet hast und das der einzige Weg gewesen ist, mit dir selbst leben zu können, ohne den Verstand zu verlieren. Ich verstehe das. Und Adassett ... ich vergebe dir.«
Nanouk brach ab, weil sie anfing zu zittern und scharf Luft holte, um das Schluchzen zu unterdrücken, welches ihre Lungen krampfen ließ. Warum fühlten sich diese Worte gleichzeitig falsch und richtig an?
Energisch hob sie die Hände und ließ sich dann ermattet auf die Bettkante sinken. »Verurteilungen bringen uns nicht weiter«, wisperte sie dann und da war er wieder, dieser Drang, jene Worte endlich auszusprechen, die ihr seit Jahren wie eine schwere Fessel um den Hals lagen.
Nanouk hörte, wie Adassett tief Luft holte und sie dann langsam ausströmen ließ. Er sagte eine Weile lang nichts und sie wagte es nicht, den Blick von ihren Knien zu heben.
»Versuchst du deswegen deine Kameraden so krampfhaft zu retten? Weil du weißt, wie es ist, seiner eigenen Fehler auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein?«
Nanouk hielt die Luft an und ihre Finger gruben sich in die weiche Decke zu beiden Seiten ihrer Beine.
»Weil du etwas wieder gut machen musst, das du damals versäumt hast zu tun?«
Nanouk hob ruckartig den Kopf und erblickte Adassett, der sie mit verhaltener Neugierde betrachtete. Warum war er nicht aufgewühlt und den Tränen nahe, so wie sie, als sie ihn auf all diese Dinge ansprach? Was erlaubte ihm mit solch einer Offenheit über diese Vergehen zu sprechen? Er hatte mit keinem Wort versucht sich zu rechtfertigen, es niemals darauf angelegt die Schuld, mit welcher Nanouk ihn konfrontierte, abzustreiten und obwohl sie die zermürbende Wirkung all dieser Wahrheiten in der erschöpften Haltung seiner Schultern und den müden Konturen seines Gesichts erblickte, fand er immer noch die Kraft ihr in die Augen zu sehen und sich ihrem Urteil zu stellen. Und vielleicht hatte er bereits sämtliche Tränen vor Jahren schon vergossen, hatte nichts mehr zu geben oder zu verlieren.
Warum also fiel es ihr so schwer? »Ich ...« Nanouk wühlte nach den Worten, die sie längst hätte aussprechen müssen, doch stockte.
Adassett, dem das nicht entging, legte den Kopf schief und kam dann vorsichtig auf sie zu. Sie regte sich nicht, also ließ er sich langsam neben sie sinken und legte die Hände in den Schoß.
»Ich weiß nicht, womit du kämpfst«, fing er dann mit ruhiger Stimme an zu sprechen. »Aber wenn du mir vergeben kannst – und sei es nur aus dem Grund heraus, dass du dich aus Trotz gegen die Sitten des Hofes stellst, das Funkeln in deinen Augen habe ich gesehen«, sagte er dann mit einem schiefen Lächeln, als Nanouk ihm endlich den Kopf zuwandte. »Dann vergib dir auch selbst für deine Fehler. Du musst dich für deine Wahrheiten nicht rechtfertigen, nicht mir gegenüber.«
Nanouk konnte das leise Lächeln, welches sich auf ihre Züge stahl nicht zur Gänze verkneifen, doch senkte dann wieder den Blick, weil sie das Gefühl hatte, als könnte Adassett alleine in ihren Augen erkennen, was sie getan hatte. Doch als er sie nicht drängte, doch ebenso wenig aufstand, schluckte sie hart und hob den Kopf erneut. Fasste Mut.
Sie brauchte mehrere Anläufe, betrachtete stattdessen die scharfen Kanten seines Gesichts, die Grobheit seiner Erscheinung, die durch längeres Hinsehen an Schärfe verlor und selbst seine gebrochene Nase zu einem Merkmal machte, welches Adassett menschlich und beinahe einladend aussehen ließ. Weil er sie mit diesem Blick ansah, als würde er längst verstehen, was sie selbst nicht wagte zuzulassen.
»Ich war stolz«, fing sie daher langsam und stockend an zu sprechen, »dass mein ataaq mich bereits so früh unterrichten wollte. Er hatte davor seine Tochter, meine Mutter, unterrichtet, doch sie wollte wenig davon wissen. Es hat sie immer schon vor den ätherischen Kräften gegruselt. Aber ich war begeistert von seinen Erzählungen, von der Mutter der Karibus, von Ijiraq und den Ewigen. Von seinen Ersten, den Advokaten, welche auf der Erde unter den Urahnen ihre Magie verteilten. Die Quellen bewachten. Von Akhlut, von ... Nanuq.«
Namen haben Macht. Mit welcher Macht soll mir der große Wächtergeist der Schneebären gesegnet haben, wenn ich bloß Schwäche besitze, wunderte sich Nanouk traurig.
Adassett zog eines seiner Beine aufs Bett und machte es sich bequem, als stellte er sich tatsächlich auf eine Geschichte ein, die länger dauern würde. Nanouk schmunzelte, doch fiel ihr dieses Schmunzeln rasch wieder vom Gesicht.
»Ich war so stolz darauf, dass er mir das Malen von Glyphen beigebracht hat, noch bevor ich oder Ajat überhaupt schreiben konnten. Ich kann es immer noch nicht«, fügte sie mit einem leisen Stich in der Brust hinzu, verweilte aber nicht zu lange auf diesen Gefühlen. »Er hat mich mitgenommen, um den Altar Irinjoks zu sehen, wo niemand sonst von den Kindern hin durfte, weil er so tief im Südwald lag, dass sonst nur die Jägergemeinschaft den verschlungenen Pfaden im Sommer folgen. Ich war so stolz, als ich meine Tätowierung bekam«, wisperte sie und fuhr sich in den Nacken, wo das verschlungene Symbol der Bindung in ihr Fleisch gegraben war.
»Es bedeutete, dass ich den Zeremonienschmuck tragen durfte, was mit fünfzehn Jahren eine besondere Ehre war. Mein ataaq hat vielleicht bloß gefürchtet, dass ich den Glauben verlieren könnte, wie die anderen in unserem Dorf. Wie meine Mutter. Und ich habe ihn getragen, wann immer ich konnte.«
Nanouk hielt inne und zupfte an dem weichen Fell des Mantels herum. »Es ist der gleiche, den Anuri auf dem Fest getragen hat. Aus poliertem Messing und Knochenscheiben. Aus Silber und Gold. Funkelnd. Und als wir diesen Morgen auf die Jagd gingen, fühlte ich mich großartig, erhaben, wie eine Schamanin es sein sollte. Ich würde die Bindung zwischen dem Diesseits und dem Jenseits sein, die Aufgaben erfüllen, die man von jemandem meines Berufes verlangte. Die Beute weihen, den Dank verlautbaren und das Leben huldigen. Doch dafür hätte ich den Schmuck nicht gebraucht. Ich hätte den Stirnreif nicht tragen müssen, nichts dieser Schmuckstücke war wichtig für die Rolle, die ich so verzweifelt zu sein versucht habe, weil ich unbedingt mehr sein wollte als ein Kind, welches seinen Tagträumen verfallen war und von den Erwachsenen belächelt wurde.«
Nanouk verstummte, weil ihr die Stimme versagte. Stattdessen versuchte sie ihre verkrampften Finger zu lösen und durchzuatmen.
»Aber du warst doch längst mehr als das«, wandte Adassett vorsichtig ein und Nanouk hob die Schultern.
»Nicht für mein Dorf. Nicht für mich. Wir sind der Karibuherde am Waldrand entlang gefolgt, bis sie sich auf das Eis zwischen den Fjorden gewagt haben, um dort an den tückischen Böschungen nach frischem Gras zu schürfen, welches nach dem Winter dort zu finden war. Aber das Eis war noch dick, der Frühling hatte kaum Zeit gehabt die Schneedecke zu schmelzen. Also dachten wir, es sei sicher. Sicher genug, um von der Ferne zu schießen. Aber«, fuhr Nanouk fort und spürte nun, da sich ihre Schuld rot wie Blut vor sie auf die Knie ergoss, wie ihre Stimme fest und hohl wurde.
»Aber die Sonne hat sich in meinem Stirnreif verfangen und die Karibus aufgescheucht. Es war bloß ein einsamer Lichtstrahl, der uns für die kommenden Tage den Frühling schenken sollte. Aber er schreckte die Herde auf und dann ... dann ging alles schief. Das Trampeln der Hufe brachte den Eisschild zum Brechen und wir waren mitten drauf. Imiaq und ich ... wir brachen in das Eis ein und wo zuvor noch gleißender Sonnenschein auf uns nieder fiel, nahm uns kalte Dunkelheit die Sicht. Ich wollte ihm helfen, aber die Kälte zerriss meinen Kopf und lähmte meine Glieder. Die Küstenströmung unter dem Eis nahm uns mit in die luftleere Schwärze und noch heute spüre ich den Sog des Meeres, wann immer ich die Narbe an meiner Schläfe sehe. Adassett«, sagte Nanouk schließlich und schluckte heftig gegen ihr Herz an, das ihr drohte aus dem Hals zu springen.
»Adassett, ich habe meinen Bruder getötet. Ich sehe verschwommen seine Hand vor Augen, wie er sich meine Hilfe, die Hilfe seiner großen Schwester herbeisehnt, während Saibiki ihn mit ihren kalten Fingern in die Tiefe zerrt. Und ich kann ihn nicht greifen, ich erwische nichts als nasse Leere, fühle, wie ich ersticke und kann an nichts anderes denken, als an die Panik, die sein kleines Herz fühlt, als unser ataaq nach mir fischt, mich packt und mich rettet, weil ich in seinen Augen für den Fortbestand der Bindungen in dieser Welt, für seine Lehren wichtiger bin als Imiaq. Und ich habe mich an die Hand meines ataaq geklammert, anstatt Imiaqs, die sich immer noch, immer noch nach meiner reckt, während er erkennt, dass ich ihn zurück lasse. Ich fühle seine Finger an meiner Kapuze, wie sie nach Halt und Rettung suchen, nach dem Leben greifen, das ihm in diesem grässlichen Augenblick einfach durch die Finger rinnt.«
Nanouk wollte weiter sprechen, doch mit einem Mal war sie völlig leer, bis auf das erdrückende Gefühl, diese Last auch nicht ablegen zu können, wenn sie über ihre Lippen gedrungen war. Es machte sie bloß unumstößlicher, verfestigte sich und formte ein tödliches Gewicht um ihre Rippen. Sie hätte ertrinken sollen an dem Tag im Eis. Nicht Imiaq. Nicht ihr kleiner Bruder, dessen Tod einzig an ihrem kindlichen Übermut lag.
»Ich weiß nicht, ob ich mir je dafür verzeihen kann«, sagte sie schließlich in die Stille hinein, als Adassett sie bloß schweigend musterte.
Nanouk hob zaghaft den Kopf und fand Adassetts Blick auf ihr liegend, der Schmerz, welchen sie niemals als verständlich in Anbetracht dieser Welt empfunden hatte, gespiegelt in seinen Augen, als er sichtlich nach Worten rang, die er in dieser Situation nicht vermochte zu finden.
»Es ist nicht deine Schuld«, sagte er jedoch schließlich und Nanouk ließ die angehaltene Luft ausströmen. »Nicht zur Gänze. Du kannst nicht davon ausgehen, dass es nicht anders ebenso gekommen wäre«, fuhr er schließlich fort und streckte einen Arm aus, um ihr die Hand auf die Schulter zu legen.
Nanouk biss sich auf die Unterlippe, als sie die Wärme seiner Hand durch den Mantel spürte. »Hätte ich den Schmuck nicht getragen-«
»Wäre das Eis vielleicht trotzdem gebrochen in dem Moment, in dem der erste Pfeil geschossen wurde«, unterbrach Adassett und schüttelte den Kopf entschieden. »Ihr habt beide reagiert, wie es in diesem Moment möglich war. Weißt du, warum er nach dir gefischt hat und nicht nach deinem Bruder?«
Nanouk schüttelte schuldbewusst den Kopf. »Ich habe ihn nie gefragt. Wollte nicht-«, sie brach ab und presste ihre zitternden Lippen zusammen. »Wollte nichts mehr, als diesen Tag vergessen und meinem ataaq nie wieder in die Augen sehen.«
Adassett seufzte leise. »Also. Selbst den Erfahrensten unterlaufen Fehler und du warst nur ein Kind.«
Nanouk wollte den Kopf schütteln, sich diese Bürde nicht nehmen lassen, doch Adassetts sanfter Ausdruck und die Wärme seiner Hand entrissen ihr diese Worte noch ehe sie diese im Geiste ausformulieren konnte.
»Du kannst deine Schuld nicht begraben, Nanouk«, sagte er dann mit einem schiefen Lächeln, »sie ist es, die begräbt. Lass es nicht zu. Du kannst nichts daran ändern. Selbst Asche hält bloß den Nährboden für die Zukunft bereit und kann den Baum, aus dem sie entstanden ist, nicht wieder erwecken. Nur etwas neues entstehen lassen. Und genauso wie deine Fehler unleugbar sind, sind sie der einzige Weg vorwärts zu kommen, zu lernen. Und daran zu wachsen. Nanouk.« Sein Blick lag so intensiv und tief auf ihr, dass sie den Atem anhielt, als Adassett ihren Namen aussprach.
»Lass es Asche sein.«
Nanouk fühlte sich, als hätte Adassett ihr ein Messer mitten ins Herz gerammt und ihren Brustkorb der Länge nach geöffnet. Als würden sich all ihre Verzweiflung und die erdrückende Angst, das Schuldgefühl und der Zorn auf das Versäumnis ihren Bruder zu retten, vor ihr in dunklem Blut auf den Boden ergießen. Sie fühlte, wie ihr unzählige stumme Anschuldigungen durch die Finger flossen, mit denen sie sich selbst jahrelang geknechtet hatte, die jedoch nun, gerade in Gegenwart eines Mannes, der sich unerträglich viel mehr zu Schulden kommen ließ, in seinen tröstlichen Worten keinen Halt mehr fanden.
Vielleicht hatte Adassett Recht, vielleicht wäre es so oder so gekommen wie es gekommen war. Nanouk wagte sich an diesen Gedanken heran zu treten und ihn zu betrachten. Vielleicht war es genug, sich diese Schuld einzugestehen. Und vielleicht war es wirklich Zeit die kindliche Angst dieses furchtbaren Tages endlich abzulegen, da sie ihr in keiner Weise mehr dienlich war.
Sie musste jetzt nach vorne blicken, sich all ihrer Fähigkeiten bemächtigen, um diejenigen zu retten, die noch nicht von ihr gegangen waren. Die sie noch nicht hatte gehen lassen. Und vielleicht war der Weg ihres ataaq nun der einzige, der ihr dabei helfen konnte.
»Ich weiß gar nicht, was ich darauf sagen soll«, murmelte sie schließlich, als sie sich endlich soweit gefasst hatte, um die Stimme zu erheben. »Wie ich dir danken soll.«
Nanouk holte tief Luft und richtete sich auf, blickte zuerst auf Adassetts Hand, die immer noch auf ihrer Schulter, halb auf ihrem Rücken lag und dann in seine Augen.
Adassett zog daraufhin rasch seinen Arm zurück und hielt die Handflächen nach außen. »Mir genügt es schon, wenn du mich nicht noch einmal schlägst«, lachte er dann und Nanouk konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
»Ich möchte mir das Handgelenk nicht brechen, keine Sorge.«
»Gut«, grinste er dann und stand auf, »denn dieses Mal, fürchte ich, müssen wir uns ein Bett teilen.«
Nanouk blickte erschrocken zu ihm und stand hektisch auf.
»Oh nein«, widersprach er den Worten in ihren Augen und schüttelte den Kopf. »Es ist viel zu kalt, dass du auf dem Boden schläfst, schau dich an. Du trägst selbst jetzt noch deinen Wintermantel.«
Nanouk klappte den Mund zu und verschränkte die Arme abwehrend vor der Brust. Er hatte Recht und so wenig es ihr behagte, spürte sie dennoch, wie ihr Herz einen Sprung machte.
»Es gibt aber nur eine Decke«, meinte sie in schwachem Widerstand, konnte jetzt, da sie durch das Durchleben solch umfassender Emotionen völlig ausgebrannt und kalt in dem Raum stand, aber nicht mehr leugnen, dass ihr Körper wie ihr Verstand nach einer angemessenen Ruhe verlangte.
Adassett seufzte tief und legte noch einmal ordentlich Holz in den Kamin, ehe er sich die Stiefel von den Füßen streifte. »Ich weiß, was du verhindern willst«, sagte er dann und kam dicht vor ihr zum Stehen. »Es könnte ja durchaus sein, dass ich bei der kleinsten Berührung nackter Haut den Verstand verliere und mich dir aufzwingen will.«
Nanouk musste den Kopf in den Nacken legen und biss die Zähne fest zusammen, als er sie von oben herab mit einem leicht belustigten, doch vorwiegend grimmigen Lächeln bedachte. Er legte den Kopf schief und sie sah, wie er merklich schluckte.
»Und das nach allem, was ich dir erzählt habe.«
Nanouk stieß ihren Atem heftig aus und wusste gar nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie fühlte sich seltsam zerstreut und zerrissen, als könnte sie gar nicht mehr beurteilen, wie sie sich zu verhalten hatte, nun, da sie in Adassett so viel mehr erkennen konnte, als denjenigen, der ihr Leben zerstört hatte. Was streng genommen nur zur Hälfte zutraf.
»Wenn du meinen Worten nicht traust, dann traust du vielleicht meinen Taten.«
Das hatte er auch bei ihrer ersten, richtigen Begegnung gesagt, als er ihr angeboten hatte, sie zu ihren Freunden zu bringen. Im Gegenzug für eine Frage. Nanouk wollte etwas darauf antworten, wollte ihm sagen, dass das nicht nötig war, nicht mehr, doch da hatte er bereits die Hand gehoben und ihr mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze gestupst.
»So«, stellte er dann fest. »Ich fühle mich unverändert. Dann hätten wir den Worten auch Taten folgen lassen.«
Nanouk blinzelte ihn völlig verdattert an und fasste sich intuitiv an die Nase, wo sie eben noch Adassetts warmen Finger gespürt hatte. Sie musste wahrlich verwirrt aussehen, denn Adassett fing an zu lachen und trat einen Schritt zurück.
»Tut mir Leid«, brachte er schließlich hervor und winkte ab.
Nanouk entkam ebenfalls, völlig ohne ihr Zutun ein schwaches Lachen und sie schälte sich zögerlich aus dem Wintermantel. »Danke, dass du nichts unversucht lässt.«
Sie schob sich unter die Decke und zog sich diese bis zur Nase hoch, als Adassett den Stoffmantel ablegte, sein Wams allerdings unverschnürt anbehielt. Bloß ihretwegen. Nanouk schloss die Augen, weil sie sich wie zuvor schon so furchtbar schuldig fühlte, ihn zu Unbequemlichkeiten zu zwingen, bloß, weil sie sich unbehaglich fühlte ein Bett mit ihm zu teilen. Das, oder ihm war ebenfalls kalt.
Sie spürte, wie sich die Matratze neben ihr senkte und ein kurzer Schwall frischer Luft unter die Decke fuhr, als Adassett sich zu ihr legte.
»Du bist kein schlechter Mensch«, sagte sie dann in die schummrige Dunkelheit, die vom sanften Knistern des Kaminfeuers durchdrungen wurde.
»Wenn ich es vermeiden kann«, besserte er sie ebenso leise aus, sodass seine raue Stimme wie sanfter Donner durch die Matratze rollte.
Nanouk schluckte, als die Wärme des Bettes, aber auch die Adassetts in ihre müden Glieder sickerte und ihren Kopf benebelte. »Dann habe ich wohl Glück gehabt, dass ich dir etwas bieten kann«, murmelte sie schlaftrunken.
»Es tut mir Leid, dass du eine Ausnahme bist und nicht die Regel.«
Nanouk wollte etwas darauf erwidern und in Gedanken tat sie dies auch bestimmt, doch die Müdigkeit übermannte sie schlussendlich so endgültig, dass sie einschlief, noch ehe sie ihren Gedanken vollenden konnte.
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