⫷ Kapitel 43: Hinter den Sternen ⫸

Ehe sie aufbrechen konnten, wurde der Alarm oben auf dem Wachturm ausgelöst. Ein Schneebär schlich auf der Suche nach frischem Fleisch um die Garnison und hatte bis jetzt nur zeitweilig zurück in den Wald getrieben werden können.

Nanouk stand neben den anderen Kurtisanen im Foyer, als der Blondschopf, den Nanouk als Jokim meinte zu erkennen, die Nachricht überbrachte. Also würden sie mit dem Aufbruch warten, bis Adassett und seine Soldaten dafür gesorgt hatten, dass der Weg sicher war.

Unbehaglich blickte Nanouk der Truppe hinterher und verkrampfte die Hände um ihren kleinen Reisekoffer.

»Du siehst schrecklich aus«, wisperte Inja ihr ins Ohr und Nanouk zuckte leicht zusammen. Sie hatte ihre Umgebung kaum wahrgenommen, da all ihre Aufmerksamkeit auf Adassetts breitem Rücken gelegen hatte.

»Konntest wohl kein Auge zu tun.«

Nanouk blickte zu Inja hinunter und straffte die Schultern. »Nicht so recht. Ataha Adassett hat bemerkenswerte Ausdauer.« Die Worte glitten ihr von der Zunge, ohne, dass ihr Herz, noch ihr Verstand diese registrierten. Inja rümpfte die Nase.

»Erzähl doch, wie machst du es?«

Nanouk stieß die Luft heftig aus und zwang sich, die Sorge um Adassett von sich zu schieben. Er konnte sich in einen gewaltigen Raben mit mehr als vier Mannslängen Flügelspannweite verwandeln, es gab nichts in diesen Wäldern, das ihm zur Gefahr werden konnte.

»Es ist euch bestimmt aufgefallen«, fing Nanouk daher an und blickte auf, als sich auch die anderen Kurtisanen mit neugierigen Blicken näherten, »dass ataha Adassetts Tönung der meinen sehr ähnelt.«

Wissendes Nicken machte die Runde, bloß Inja starrte sie nach wie vor an, als hätte sie saure Milch getrunken.

»Nun. Er sieht ein Stück Heimat in mir.« Als Nanouk das sagte, wunderte sie sich, ob dem vielleicht auch so war, oder ob er ihr gegenüber versuchte Buße zu tun, weil er in ihr nicht bloß ein namenloses Gesicht sehen konnte.

»Ihm gefällt meine Sittenlosigkeit. Die ungeschliffene Wildheit meiner Herkunft«, sagte sie tonlos und zwang sich wenigstens ein Lächeln auf das Gesicht.

»Was haben wir doch für ein Glück«, lächelte Inja zuckersüß, während ihre wasserblauen Augen Firn sprühten. Die anderen Kurtisanen nickten leicht ehrfürchtig, leicht bemitleidend und Nanouk hob bescheiden die Schultern.

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Es wurde langsam Mittag, als die Soldaten zurückkehrten. Der Schneebär war erlegt und das Fleisch samt Pelz der Garnison überlassen worden. Ihre Mäntel waren blutverschmiert und in Adassetts Augen glomm der dunkle Wahn, welche ihr bereits bei den Hinrichtungen das Blut in den Adern gefrieren lassen hatte. Sein Blick senkte sich auf sie und Nanouk konnte es nicht verhindern, sie versteifte sich Trotz all der Momente, in denen er ihr seine sanfte Seite gezeigt hatte.

Adassett drückte Jokim sein Schwert in die Hände und kam zielstrebig auf sie zu, die Wollust in seinem Blick beinahe erschreckend glaubhaft.

»Sollen wir den Aufbruch aufschieben?«, fragte Jokim, doch Adassett schüttelte bloß mit einem gehässigen Lächeln den Kopf.

»Nein.«

Er packte Nanouk grob an der Schulter und stieß sie die Treppen wieder nach oben. Er zog sie energisch zurück in das Zimmer und schlug die Türe mit einem ohrenbetäubenden Schmettern ins Schloss.

Nanouk strauchelte beinahe, als Adassett sie sofort losließ und fing sich gerade noch an der Tischplatte ab.

»Ja, sie-«

»-erwarten es«, fiel ihm Nanouk ins Wort und Adassett hob den Blick, um den ihren zu treffen. »Ich habe nichts dazu zu sagen.«

Adassett ließ sich mit dem Rücken gegen die Türe sacken und schlug seinen Hinterkopf gegen das Holz. »Nein«, schnaubte er erschlagen und drehte den Kopf in ihre Richtung. »Aber du denkst es dir. Du siehst mich immer noch so an, als wäre alles, was ich versuche, um dir diese Angst zu nehmen, irrelevant. Ich kann es in deinen Augen lesen und das ist manchmal schwer zu ertragen.«

Nanouk seufzte energisch und strich sich die losen Strähnen hinter die Ohren. »Bis zu einem gewissen Grad ... hast du Recht. Doch ist diese Furcht durchaus etwas, das uns zu Gute kommt. Saghani will, dass ich dich aushorche, Angst vor dieser Aufgabe zu verspüren ist bloß natürlich und alles andere hätte ein viel größeres Potenzial mich zu verraten.«

Adassett schlug seinen Kopf ein weiteres Mal gegen das Holz, sachter dieses Mal jedoch und drehte sich dann zu ihr um, bis er nur noch mit der Schulter gegen die Türe lehnte.

»Ich weiß, was Saghani will und wie bereits gesagt, kannst du ihr geben, wonach sie sucht. Nach einem Weg, mich zu Fall zu bringen. Ich bin mir sicher, nach dieser Woche wird es nicht mehr lange dauern, ehe sie dir das Stilett selbst in die Hände drückt.«

Nanouk hob beide Augenbrauen. »Sie wird verlangen, dass ich dich töte?«

Adassett rollte mit den Augen. »Was denn sonst? Maha leistet hervorragende Arbeit mit Siku. Der einzige Grund, weshalb sie den Befehl noch nicht geäußert hat ist jener, dass sie abwarten will, was mein Zug ist. Sie weiß, dass ich Sikus Position sofort an mich reißen würde. Nur deswegen zögert sie, dabei würde ich es begrüßen, wenn sie diesen Heuchler hinrichten lässt. Doch ich habe keinen Zwist mit Siku, nicht nach außen hin.«

Nanouk biss die Kiefer fest aufeinander, als sie an den adretten Getreuen dachte, der einfach so kleine Kinder verschenkte und in die Prostitution zwang. Sich über Waisen lustig machte und bloß als leichter zu vermarktende Ware betrachtete, da sie nun ohnehin keine Bindungen mehr hatten, die sie hielten. Dann dachte sie an Saghani und an das, was Nauju ihr erzählt hatte. Das Herz rutschte ihr in die Hose, als sie Adassett einen Seitenblick zuwarf.

Er hatte Saghani bereits vor der Notwendigkeit seine Rolle spielen zu müssen Leid angetan. Vielleicht als unwissender Jüngling, als ein Mensch, der nicht in der Lage gewesen war zu verstehen, was er anrichtete, doch für die Hinrichtung Saghanis Bruders trug er wohl nur halb so viel Schuld, wie Saghani ihm vorwarf. All diese Kränkungen waren undenkbar kompliziert und zeugten von jener tief verwurzelten Verzweiflung, welche jeden einzelnen hier oben in die Knie zwang.

»Verstehe«, sagte sie schließlich leise und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wie lange warten wir jetzt?«

»Was denkst du?«

Nanouk rümpfte die Nase und musterte ihn von oben bis unten. »Nicht all zu lange.«

Adassett lachte empört auf und stieß sich von der Türe ab. »In jeder anderen Situation würde ich das als Beleidigung auffassen.«

Nanouk konnte sich das Grinsen, welches Trotz ihrer bedrückenden Gedanken auf ihr Gesicht huschte, nicht gänzlich verkneifen und rollte mit den Augen.

»Nicht all zu lange«, wiederholte er und schüttelte belustigt den Kopf.

Nanouk lachte lautlos in sich hinein und wandte sich von ihm ab. »Fehlt es dir?«

»Die Kurtisanen?«, fragte er so unbefangen wie möglich und Nanouk nickte. »Ich weiß, dass du das nicht hören willst«, setzte er mit ernster Miene an, »aber gelegentlich schon. Mich mit jemandem zu vergnügen macht es leichter die Welt jenseits meines Gefängnisses zu ertragen. Vor allem in den Nächten, wenn die Grenzen zwischen meinen beiden Wirklichkeiten verschwimmen.«

Nanouk schluckte und blickte auf ihre Hände herab, die an der Borte des feinen Tischtuches zupften. »Wenn ...«

»Wenn sich der Junge, der Reiki damals im Hain begegnet ist und der Mann, der rückhaltlos das Blut Unglückseliger vergießt, begegnen und die Last der Enttäuschung in diesen jungen Augen übermächtig wird, ertränke ich meine Schuld mit allem, was mich für noch so kurze Zeit erblinden lässt. Auch, wenn die Umstände, in denen ich mich betrinke und die Kurtisanen nehme, alles andere als zufriedenstellend sind.«

Nanouk wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. In Anbetracht seiner Leidensgeschichte fühlte sie sich nicht in der Position, darüber zu urteilen. Sie tat es, wenngleich auch nicht für den Wunsch des Erblindens, doch des Weges, wie er an diesen Punkt kam. Und dieser Gedanke führte unweigerlich dazu, dass sie ihn für diese ungeschönte Offenheit sogar bewunderte.

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Sie machten sich auf den Weg und Nanouk, die sich schweigend zwischen die anderen Kurtisanen in die Kutsche setzte, hatte beinahe viel zu viel Zeit, über Saghanis Vorhaben zu grübeln. Was würde es bedeuten, wenn sie zuerst Nao tötete? Konnte das ihre Blutfehde mit Adassett beenden, oder würde sie niemals ruhen, ehe er nicht selbst aufhörte zu leben? Schließlich war das Vergehen, welches er ihr gegenüber begangen hatte weitaus persönlicherer Natur, als das Gerangel um eine Machtposition.

Auch Reiki ging ihr wiederholte Male durch den Kopf. Entweder, er war so geschickt darin, seine Taten vor den anderen zu verschleiern, oder er hatte seinen Mantel auf andere Weise erlangt. Denn ganz gleich, was Adassett sagte, konnte sie sich die wundersame Wirkung nicht eingebildet haben. Sie fühlte auch jetzt noch eine verweilende Spur dieses Erlebnisses, erinnerte sich an die sanfte Wärme und den kräftigen Puls ihres Blutes, als sie in das weiße Fell gehüllt gewesen war.

Der winterliche Wald zog an ihnen vorbei und Nanouk erinnerte sich, dass der mittlere Abschnitt ihrer Reise der gefährlichste sein würde. Sie blickte aus dem Kutschfenster und spähte in die Dunkelheit des Forstes, durch die nicht einmal die schwache Sonne zu dringen vermochte. Es fing an zu schneien und die weißen Flocken sanken sanft zu Boden.

Nanouk merkte erst, dass sie sich starr in die Rücklehne ihrer Sitzbank drückte, als ihre Wirbelsäule protestierte. Insgeheim hatte sie auf das verräterische Knistern von Eis gelauscht und nach dem tückischen Nebel des Eisdämons Ausschau gehalten. Reiki hatte damals gesagt, es gäbe nichts, was ihr zustoßen konnte, solange sie an seiner Seite war. Kein Eisdämon, kein Schneebär, kein Akhlut oder anderer böser Geist würde es wagen ihr zu schaden und Nanouk fragte sich immer öfter, warum.

Sie dachte über Reikis stummen Hilferuf nach und dann an seine Aufforderung den Lichtern zu folgen. Meinte er gar die Sterne? Den Ort, an den sich Nauju sehnte und Nanouk schluckte. Es musste doch einen Weg geben, dahin zurück zu kehren, ohne sich des Kadavers eines Boten der Ewigen zu bedienen. Einen Weg, der nicht einschloss, dass sie mit ihrem irdischen Körper über die Schwelle trat, sondern losgelöst in den Raum hinter dem Leben gleiten konnte.

Ihr ataaq hatte einen Tannenzweig verbrannt und an den Ufern ihrer Welt durch Asche und Rauch, Glut und Flamme hinter die Sterne zu den Geistern geblickt. Sie hatte es gesehen, sie war dabei gewesen und ihr Herz machte einen Satz, als ihre Hand in ihren Nacken wanderte. Sie war angakkuq, die Bindung zwischen dem Diesseits und dem Jenseits. Nicht im Sinne der Lebenden und der Toten, doch dem zarten Band zwischen zwei Welten.

Nanouk versuchte ihren Atem zu beruhigen und stieß die Luft langsam durch die Nase aus. Was, wenn sie diesem Gefühl folgte, sich der verbotenen Sehnsucht hingab und sich der eigens weggesperrten Kindheit bediente? Sie hatte Adassett vorgeworfen, dass sie diese Dinge niemals erleben durfte, doch im Endeffekt hatte sie sich dieser selbst verweigert. Und die Lehren, die wenigen Stunden mit ihrem ataaq waren nicht fort, bloß versteckt.

Nanouk schloss die Augen und ließ sich zwischen dem sanften Summen der Stimmen um sie herum in den Sitz sinken. Das Schaukeln der Kutsche wiegte sie hin und her, ein wenig zu grob für den geschmeidigen Wellengang der See und dennoch rhythmisch genug, dass sie in dieser Bewegung Ruhe fand.

Sie suchte in der Schwärze hinter ihren Augen nach dem strahlenden Licht der Sterne, versuchte sich das Bild ins Gedächtnis zu rufen und das Gefühl zu beschwören.

Die Stille um sie herum, die durch das leichte Summen und Singen von harmonischen Tönen durchbrochen und erfüllt wurde.

Eine wechselhafte Melodie aus Hochs und Tiefs, fern und nah.

Die unendliche Weite, als sie den Kopf hob und hinauf zu den Sternen sah.

Wie sich das glitzernde Meer bis jenseits des Horizonts erstreckte und die fernen, kosmischen Nebel in atemberaubenden Farbtönen vom Tanz der Ewigen erzählten.

Von der Brücke, dem Band, der Bindung zu ihnen auf die andere Seite der irdischen Welt.

Nanouks Atem versiegte, als sie ein sanftes Zupfen in der Brust verspürte, als zöge jemand an ihrem Mantel. Forderte sie auf, sich zu erheben und in diese Welt voller fließenden Lichts zu treten, sich selbst zurück zu lassen und zwischen das pulsierende Netz der Lebensflammen zu tauchen. Sie stellte sich vor, wie sie den Fuß hob, die Trennlinie zwischen den Welten als schimmernde, durchsichtige Wand direkt vor sich erkannte. Es war so einfach, nicht mehr als ein Schritt, doch als sie sich durch dieses beinahe schon schauerlich lebhafte Bild ihrer Gedanken schob, zuckte sie zusammen und ihr Herz machte einen gewaltigen Satz, als wäre sie soeben tatsächlich mit dem Fuß ins Leere getreten.

Nanouk riss die Augen auf und schnappte nach Luft, als hätte sie ihren Atem bereits seit mehreren Minuten angehalten. Die Damen blickten sie von der Seite an und Nanouk beeilte sich mit einem Lächeln davon abzulenken, was sie eben noch gespürt hatte.

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Sie erreichten die mittlere Garnison, als es bereits dunkel wurde. Im Gegensatz zu gestern gab es gerade einmal halb so viele Bedienstete, welche sich um die basalen Erhaltungsarbeiten des Gebäudes kümmerten.

Die Garnison besaß ebenfalls einen Wachturm, doch dieses Mal umrahmte eine hohe Steinmauer das gedrungene Gebäude. Auch die Stallungen befanden sich innerhalb des rudimentären Bollwerks und während die Dienerschaft den Speisesaal aufheizte und in die Küchen strömte, führte man die Kurtisanen in den ersten Stock, wo sich die Schlafräume und der kleine Salon befanden.

Nanouk mochte es sich gar nicht vorstellen, tagein und tagaus mitten in den unheimlichen Weiten des Zittergebirges zu leben, wo jeder Hauch von Schatten den Tod bedeuten konnte. Sie folgte den anderen Kurtisanen, doch wie auch letztes Mal wurde sie von einem der Diener aufgehalten. Nanouk kniff die Lippen zusammen, widersprach aber nicht, als man sie erneut in das separate Gemach führte. Auch, wenn Adassett dies bestimmt aus guter Begründung, ihr eine gewisse Ruhe zu verschaffen, tat, musste es bestimmt seltsam auf die anderen Kurtisanen wirken.

Alleine in der schummrigen Stille des Zimmers saß Nanouk schließlich vor dem Kamin und starrte in die Flammen. Sie stellte fest, dass es im Gegenzug zur letzten Garnison viel kälter war. Die Wandteppiche fehlten und der Boden war barfuß bloß in der Nähe des Kamins zu betreten. Vermutlich, weil diese Zimmer nicht ständig geheizt wurden und so fernab der Zivilisation nie genügend Menschen vorhanden waren, welche die klamme Kälte aus dem Gebäude drängten.

Sie wunderte sich, ob sie wie ihr ataaq durch die Flammen zu den Sternen blicken konnte, oder ob sie dazu irgendetwas bräuchte.

Ein Verständnis dieser Dinge, dachte sie bedrückt bei sich, wäre schon mal ein Anfang.

Einer Eingebung folgend, stand sie auf und ging zum Fenster hinüber, schob die dichten Vorhänge zur Seite und drückte den Hebel auf. Das Zimmer befand sich auf der Rückseite der Garnison und direkt an der Mauer schlossen die hohen Nadelbäume dicht zum Gebäude auf. Ihre Finger wurden beinahe augenblicklich eiskalt, als sie sich aus dem Fenster reckte und eine der Zweigspitzen abbrach.

Nanouk verriegelte das Fenster mit bibbernden Händen und zog sich gleich darauf den Wintermantel wieder über, als sie sich so dicht ans Feuer setzte, wie nur möglich. Nach dem sie mehrere Holzscheite nachgelegt hatte, hielt sie auch den Tannenzweig in die Flammen und wartete.

Mit einem Zischen schmolz der Schnee und die Hitze ließ zuerst die Feuchtigkeit verdampfen. Der hohe Laut, welcher dabei aus den wachshaltigen Nadeln drang, erinnerte Nanouk bereits an einen der unzähligen Töne, zu denen sie sich gesellen wollte. Der Zweig fing schließlich knisternd Feuer, der schwelende Rauch stach ihr in der Nase, doch Nanouk hatte nur Augen für die gleißende Glut an der Stelle, an welcher das Feuer Leben zu Asche verwandelte.

Sie ließ ihren Atem ausströmen, konzentrierte sich alleinig auf die stechenden Flammen, bis sie selbst das Gespür ihrer Finger verlor, welche den flackernden Zweig umklammerten. Sie hielt die Luft an, als das Pfeifen des sterbenden Astes all ihre Sinne einnahm und sie sich fühlte, als würde sie fallen.

Vielleicht fiel sie auch. Als Adassett sie über das Gesimse in den nachtschwarzen Abgrund geschoben hatte, meinte sie auch gefallen zu sein. Kurz schwindelte sie, als sie nicht mehr genau sagen konnte, wo oben und unten war, sie blinzelte heftig, als sich das glühende Abbild des brennenden Zweiges in ihre Netzhaut grub und als sie sich mit den Knöcheln die Augen reiben wollte, war der Zweig samt Kamin nicht mehr da.

Kurz packte sie die Panik, vielleicht zu lange in das gleißende Licht gestarrt zu haben, doch dann wurde sie sich einer Ruhe bewusst, die von allen Seiten durch sie hindurch floss.

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Nanouk öffnete die Augen und mit diesen ihren Geist.

Mit einem Mal war die Welt um sie herum dunkel, doch gleichermaßen mit Licht erfüllt, dass ihr Verstand nicht recht beschreiben konnte, was sie sah. Als sie mit Adassett durch die Ebene der Geister geschritten war, da hatte sie sich wie ein Fremdkörper gefühlt, wie eine schwere Last, ein Ungetüm, welches laut und ungebeten an einen Ort gekommen war, an dem man es nicht haben wollte.

Doch nun gab es keine weite Ebene, auf dessen nachtblauer Seide die Lebensfunken aufgestickt waren wie flüssiges Garn. Nanouk war das fließende Netz aus purem Licht, glitt an den magischen Banden zwischen den Welten entlang und ihr Bewusstsein strich um die schemenhaften Umrisse ihrer Umgebung.

Sie fühlte, roch und hörte sämtliche Regungen in dem Zimmer, in welchem sie saß, spürte jedes noch so kleine Lebewesen als leise summende Entität in dieser wundersamen Welt, erkannte die Seele jedes einzelnen Geschöpfs und fühlte die Wärme, welche von der Magie ausging.

Und die Wärme fühlte zurück.

So körperlos, wie sie es war, fügte sie sich ein in das Lichternetz und stieß in der sanften Flut gegen andere Geschöpfe, wurde eins mit ihnen und schlüpfte durch ihre Existenz, wie ein Vogel durchs Geäst. Sie wurde zum Geäst, spürte ihr Leben bis in die äußersten, kalten Tannennadeln, fühlte das Knistern unter der Borke, wie der Lebenssaft des mächtigen Baumes träge nach oben gezogen wurde und wie sich die Rinde nach der Wärme der Sonne sehnte.

Sie wurde zum Schnee, glitt entlang der Eiskristalle hinüber in den Wind und ließ sich treiben, ließ sich von dem sanften Singen und Flöten um sie herum vollständig einnehmen. Sie wunderte sich, ob sie hier auch die Tariaksuk antreffen könnte, ob sie mit ihnen sprechen durfte. Ob sie ihr Auskunft geben könnten über Reiki und Nao. Doch sie fühlte sich so fremd in dieser Welt, hatte kein Gespür für die sanften Ströme um sie herum, dass sie vermutlich einfach durch die Schatten hindurch schwebte, ohne es zu merken. Ohne bemerkt zu werden.

Sie suchte in dem steten Strom zwischen den Dingen nach dem Weg aufwärts, auch, wenn es diese Richtung hier nicht gab, schwang sich höher und höher, glitt durch die Wolken, die sich an die Steilhänge des Gebirges schmiegten, bis sie schließlich meinte, das Sternenlicht selbst zu fühlen.

Lange her. Wer bist du?

Nanouk hätte die Luft angehalten, wenn sie es denn gekonnt hätte, doch so ließ sie sich von der Stimme treiben und stellte fest, dass das sanfte Flöten mehr und mehr zu Worten wurde, die murmelnd umher drifteten.

Wer war sie? Die Frage vibrierte stumm im Raum um sie herum und Nanouk konnte es beim besten Willen nicht sagen. Jemand der den Weg, sich selbst aus den Augen verloren hatte und nun nicht mehr wusste, wohin sie ihre Füße setzen sollte. Sie richtete den Blick in die Richtung der Stimme und erblickte die Weite des Nachthimmels. Sie befand sich mitten in den Sternen.

Ich folge den Lichtern, dachte sie und die Lichter um sie herum wurden auf sie aufmerksam. Fühlten nach ihr, berührten ihre nicht existenten Schultern und Hände, strichen durch ihr Haar und über ihre Beine. Sie fühlte, wie ihr Körper irgendwo in der Ferne hart schluckte, wie ihr der Schweiß auf die Stirn trat, als sie immer weiter und weiter mit dem Band mit wehte, doch spürte sie keinerlei Verbindung mehr zwischen Geist und Körper.

Wen suchst du? Wen will sie?

Rat, eine Weisung, dachte sie sehnsüchtig und wirbelte sanft im Kreis, bis sich die Sterne über ihr anfingen zu drehen.

Einen Rat?

Die Stimme war so nah und doch so fern, erfüllte den Raum mit Leben und ließ die klirrenden Sterne auf dem samtenen Nachthimmel erzittern. Sie zog Nanouk weiter, immer weiter in die Sterne, bis Nanouk das Gefühl eines endlosen Raums um sich herum ereilte. Völlig losgelöst von der irdischen Welt.

Die Tore sind versperrt, wer schickt dich?

Nanouk erzitterte, als die Stimme durch den Kosmos hallte und sich tief in ihrer Brust verankerte. Reiki schickt mich.

Die Nacht kräuselte sich, als sich das Licht der Sterne beugte und sich zu einer unbestimmten Mitte neigte.

Er ist gebunden, kleines Erdenkind. Er bat darum, doch nun ist dort nur noch Dunkelheit und Stille. Kälte, wo einst Leben war.

Wer seid Ihr? Nanouk wusste, dass sie diese Frage gar nicht stellen musste, das Licht um sie herum war eins mit ihr, alles, was sie spürte, wurde in jeder Faser dieser Welt reflektiert.

Ich bin der erste Laut und die letzte Stille. Doch haben wir nicht viel Zeit. Der, welchen du Reiki nennst nahm unseren Advokaten die Brücken. Nun sind wir blind. Ich fühle ... wie das Leben versiegt. Du bist die erste Bindung, die sich seit vielen Jahren hinter die Sterne begibt, hinter die Sterne schlüpft und sich durch die Dunkelheit zu uns wagt.

Nanouk spürte eine tiefe Unruhe in sich aufsteigen, als sie den körperlosen Worten lauschte. Jede Silbe ließ die Welt erzittern, jagte ihr Schauer um Schauer über den Rücken und füllte die Nacht mit Trauer und Schmerz.

Was ist geschehen? Kennt Ihr Nao?

Die Sterne stießen ein vielstimmiges Seufzen aus. Eine Hülle, mehr nicht. Doch er nimmt uns unsere Kraft.

Die Sterne wölbten sich nach außen, das Licht wand sich um den eigenen Schatten und Nanouk wirbelte haltlos mit dem Strom mit.

Finde die Bindung, die nicht sein will.

Nanouk glaubte einen Schemen zu erkennen, welcher sich im Zwischenraum der Sterne bewegte, bloß durch ihre Abwesenheit zu einer erfassbaren Gestalt wurde und spürte, wie sich ihr Verstand verkrampfte. Wenn das dort ein Ewiger war, der zu ihr sprach, musste er unendlich groß sein, wenn selbst die Sterne nicht mehr als Staubkörner waren, die um seine Silhouette tanzten.

Zerbrich den Schwur, der ihn hält.

Aber wie?

Du bist Bindung, kleiner Bär, flüsterten die Sterne mit einem Lächeln in ihren strahlenden Körpern. Namen haben Macht. Namen sind Wünsche.

Der Zwischenraum der Sterne entfernte sich und dann lag der Nachthimmel erneut spiegelglatt vor ihr. Das Firmament begann sich zu kräuseln, als hätte jemand einen Kiesel in ruhiges Wasser geworfen und Nanouk spürte, wie sie ein steter, beinahe schmerzhafter Sog zurück durch die Wolken riss. Sie tauchte an scharfen Felskanten vorbei durch weißes Dickicht, segelte über die rauschende Küste und erblickte über sich eine schwarze, zackige Silhouette. Der Palast des Winterkönigs.

Alles in ihr zog sich zusammen, Nanouk wollte zurückrudern, gegen den Strom schwimmen, doch der Schub, welchen sie von den Sternen erhalten hatte, sandte sie direkt auf die zerklüftete Nordseite des Palastes zu.

Sie dachte an Reiki, an das Funkeln in seinen Augen, seinen Hilferuf und das grässliche Nehmen von Leben zu Füßen des Winterkönigs. Immer rasanter schoss sie auf die Felswand zu, kniff ihre nicht vorhandenen Augen zusammen, doch pfiff durch die Spalten im Gestein direkt ins Innere des Berges. Eine drückende, lähmende Kälte stürzte auf sie ein, als sie vor sich einen Raum erkannte, der bloß in den Stein gehöhlt worden war und von der hoch sprühenden Gischt benetzt wurde.

In dem kleinen Raum direkt über den Klippen befand sich ein Altar, der weiß und fremd in dem sonst so schwarzen Gestein ruhte.

Nanouk?

Die Nennung ihres Namens fuhr so erschreckend durch ihren Geist, dass sie selbst in weiter Ferne merkte, wie ihr Körper heftig zusammen zuckte. Und dann wurde sie durch die Ebenen zurück geschleudert, bis sie mit solch einer Wucht in ihren Körper schlug, dass sie mit einem Keuchen nach hinten stürzte und sich den Kopf auf dem Boden stieß.

Hustend schnappte sie nach Luft, fühlte die Schwere ihrer Gliedmaßen mit einem Mal wie Fesseln an ihrem Geist ziehen und rollte sich keuchend auf den Bauch. Sie blinzelte in das schummrige Licht des kleinen Zimmers, welches auf einen Schlag noch gedrungener und winziger wirkte. Als schlossen sich die kalten Wände über ihr zusammen, um ihr die Luft zu stehlen.

Nanouk hielt schwer atmend inne, als sie sich mit Mühen dazu zwang zurück in ihren Körper zu finden. Sie fühlte die raue Wolle unter ihren Fingern, bemerkte einen stechenden Schmerz in den Fingerkuppen, wo sie den brennenden Ast gehalten hatte und wand sich augenblicklich zurück zum Kamin. Doch der Zweig war schwelend auf den kalten Stein gefallen und zerfiel langsam zu Asche.

Nanouk rappelte sich auf und strich sich die losen Haare aus dem Gesicht, ehe sie sich behutsam vor den Zweig kniete und die immer noch rauchende Asche berührte. Die Erinnerung an das Feuer biss in ihren Fingerspitzen, als sie die Glut zerdrückte und mit einem Schlucken auf ihr kräftig pochendes Herz lauschte.

Wer dort draußen, hinter den Sternen, kannte ihren Namen?


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