⫷ Kapitel 40: Geißel der Unschlüssigkeit ⫸
Als die Tage vergingen wurde Nanouk immer unruhiger. Sie fragte sich, als das Ende der Woche näher rückte, ob sie erneut bei diesem grässlichen Fest teilnehmen musste, doch Saghani ließ ihr keine Nachricht zukommen. Vielleicht hatte sie bereits Verdacht geschöpft und wollte nicht, dass Nanouk sich mit Adassett verschwor, oder Adassett hatte seine Meinung geändert und sie als größeres Risiko eingestuft, als er tragen konnte.
Und so blieb sie das zweite Fest alleine in Wallheim zurück, als Saghani mit ihren Kurtisanen das stattliche Herrenhaus verließ.
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Obwohl es ein wenig stiller war, nun, da die wichtigsten Bewohner Wallheims fort waren, kam Nanouk selbst nicht zur Ruhe. Sie half in den Küchen und anschließend beim Wäsche waschen, lernte bei Ischka, doch in ihrem Kopf türmten sich Fragen über Fragen.
Sie wollte unbedingt Anuri wieder treffen, obgleich der beklemmenden Furcht in ihrer Brust, war sie dennoch der beste Anhaltspunkt, um zu erfahren, wie es Itam ergangen war und wie es Inaak hoffentlich ergehen würde. Das blutige pijjari glomm in ihren Gedanken auf und dann kräuselte sich sein Verwandter an der Wand in Adassetts Schlafgemach aus den wirren Tiefen ihres Verstandes. Wenn sie es nur zuließe, was gäbe es hier für sie? Reikis Aufforderung glitt ihr durch den Kopf, als sie die saubere Wäsche in die geflochtenen Weidenkörbe schlichtete. Folge den Lichtern, uki.
Sie wuchtete den Korb auf ihre Hüfte und stützte sich schwer atmend an der Mauer ab, als sie durch die engen Dienstbotengänge schlurfte. Meinte Ijiraq die Sterne? Gar die Welt hinter den Sternen? Sie dachte an ihre Begegnung mit Adassett zurück, als er sie durch die Welt der Geister geschoben hatte und wie sie sich ganz fremd vorgekommen war. Unpassend.
Nach der erledigten Arbeit und als sich schließlich die Nacht über die Welt senkte, suchte Nanouk rastlos Naujus Musikzimmer auf, der einzige Ort, an den es sie wie von selbst immer wieder zurück zog. Obwohl sie wusste, dass er ebenfalls auf dem Fest war, spürte sie einen sanften Stich der Enttäuschung, als der Raum dunkel und unbelebt im bleichen Mondlicht lag. Kurz war sie versucht zu seiner Leier zu gehen, sich selbst an der Melodie zu versuchen, die ihr ins Herz schnitt, doch sie brachte es nicht über sich.
Der Holzrahmen lag kalt und tot auf dem Fenstersims und ohne Naujus feine Finger, welche dem Gegenstand Wärme einhauchten, wirkte er bedrückend auf Nanouk. Sie berührte die Saite des höchsten Tons, spürte ein Kribbeln auf der Haut, als der Drang sie zu zupfen in ihr aufstieg, doch in kühler Einsicht verklang, ehe sie es dazu kommen ließ. Das hier war nicht ihre Welt, nicht ihr Weg.
Diese Wunde gehört mir alleine. Versuche nicht, sie zu schließen, denn das ist meine Bürde.
Naujus Worte wisperten durch ihren Geist, als sie schließlich zurück trat und das Musikzimmer auf leisen Sohlen verließ. Zwar mochte es ihr immer noch schwer fallen, ihren Muskeln die Geschmeidigkeit erneut beizubringen, doch sich lautlos zu bewegen hatte sie rasch erlernt. Es bedurfte einer anderen Art der Gewichtsverlagerung, als sie es mit zwei gesunden Beinen gewohnt war, doch wusste man um die Beschaffenheit der Umgebung, so konnte man sich diese zu Nutze machen.
Nanouk blieb am unteren Ende der Treppe, die hinauf zum Wallturm führte unschlüssig stehen. Sie kaute auf ihrer Lippe und lehnte sich mit klopfendem Herzen gegen die vertäfelte Wand des stillen Korridors. So sehr sie sich sträubte, wollte ein immer größerer Teil in ihr mehr wissen. Mehr erfahren, mehr entdecken und am wichtigsten, mehr verstehen. Und Adassett hatte ihr bisher die meisten Anhaltspunkte gegeben.
Ihre Hand legte sich um die kalte Türklinke aus Messing und das Metall biss sanft in ihre Haut, als wolle es ihr davon abraten. Aber sie wollte verstehen, was sich vor der Mauer zusammenbraute, woher der Akhlut kam und ob es noch mehr von seiner Sorte gab. Was Reiki mit den Lichtern meinte und wieso ihre Kennzeichnung zur Schamanin von so bedeutender Wichtigkeit sein sollte.
Welche Hilfe sie einem übermächtigen Gestaltenwandler schon bieten konnte.
Es war nicht abgeschlossen und Nanouk hielt schlagartig inne. Sie hatte erwartet, dass Ischka nach dem verhängnisvollen Tag im Turm wieder sämtliche Wege in diesen versperrt hatte, doch allem Anschein nach, war die Hüterin der Etikette davon ausgegangen, dass Adassett dies erledigte. Oder jemand hatte absichtlich offen gelassen.
Nanouks Herz machte einen Aussetzer und sie blickte sich in dem schlichten, leeren Korridor um. Die nähsten Räumlichkeiten waren die Küchen, hier unten gab es keine Schlafzimmer oder Speisesäle. Nanouk biss sich fest auf die Lippen und rang den Drang, umzukehren, nieder.
Ihre Samtschuhe machten kein Geräusch, als sie die Treppen hinauf stieg, nach der Hälfte aber ernsthafte Bedenken wegen ihres Vorhabens bekam. Vielleicht war die Idee eine verlockende gewesen, doch die Umsetzung stellte sich als brisanter und umständlicher heraus, als sie es sich zugestehen wollte. Ihr Bein schmerzte und ihr Atem drang laut durch die schummrige Dunkelheit, in der Lage jeden, der diese Wendeltreppe betrat, zu alarmieren.
Vielleicht war die Türe am Ende der Stufen abgesperrt, mit Sicherheit hätte Adassett sich darum gekümmert, doch als Nanouk schnaufend die Klinke hinunter drückte, gab das Schloss widerstandslos nach.
»Mist«, fluchte Nanouk zwischen zwei angestrengten Atemzügen und spähte in den stillen Korridor dahinter. Sie sollte wirklich umkehren. Doch selbst die Lampen waren gelöscht und die Turmspitze lag in völliger Dunkelheit, sodass es sie wunderte, wenn jemand hier wäre. Das Fest war bestimmt noch in vollem Gange und Nanouk musste sich eingestehen, dass ihr leichtsinniger Tatendrang daher rührte, dass sie mit eiserner Vehemenz verhindern wollte, an das grausige Blutbad zu denken. Dennoch blieb sie unschlüssig stehen. Was gedachte sie überhaupt zu tun? In einem leeren Zimmer nach Antworten zu suchen, die so prekär waren, dass niemand sie nieder zu schreiben wagte? Im schlimmsten Fall schaufelte sie ihr eigenes Grab.
Nanouk war versucht umzukehren und sich die restliche Nacht in ihrem Zimmer zu verkriechen, doch die Stille lockte sie schließlich. Vorsichtig probierte sie die einzige, weitere Türe in dem Turm, doch diese war tatsächlich verschlossen. Also blieb ihr nur noch der Raum, vor welchem sie gebangt hatte, dass Adassett sie gleich auf der Stelle enthauptete. Er hatte von einem steinernen Steg gesprochen, der den Wallturm mit der Mauer verband und sie redete sich ein, dass es von bedeutender Wichtigkeit war, zu verstehen, wie man aus Wallheim gelangen konnte, wenn man ungesehen des festlichen Trubels in seinem Inneren entgehen wollte.
Die Türe war unverschlossen und Nanouk drückte sie so sachte wie möglich auf. Die Scharniere gaben keinen Laut von sich, als respektierten oder fürchteten sie die Schwärze hinter ihrem Träger. Sie erkannte ein kleines Fenster, welches mit einem dicken Vorhang bedeckt war und daneben eine Türe.
Nanouk suchte sich vorsichtig einen Weg an den schemenhaften Möbelstücken vorbei und versuchte so wenig wie nötig zu berühren. Auch, wenn sie keinerlei Spuren hinterließe, sollte sie die Laken auf dem erkalteten Bett berühren, oder über den kühlen Stein des erloschenen Kamins streichen, wollte sie vermeiden, dass ihre Präsenz selbst zu deutlich wurde. Sie fürchtete, dass sie einen Eindruck an den Dingen jenseits der Sternen hinterlassen könnte, dass man das sanfte Lichternetz bewegt vorfand, das sich in sämtlichen Dingen dieser Welt wand.
Selbst in den unbelebten, hatte Nauju gesagt. Auch der Teppich, auf dem sie ging und das Metall der Türklinke, die sie berührte, würde später von ihrer Anwesenheit erzählen können, wenn man nur wusste, wie man danach fragte. Doch hier stieß sie das erste Mal gegen ein Hindernis. Das Schloss dieser Türe war fest verriegelt und sperrte die kalte Nacht aus. Es ist besser so, dachte Nanouk bei sich und sank in eine entlastende Position zurück. Sie sollte einfach umkehren.
Und dann erklang das harte Knirschen von Eisen auf Eisen, ein Schlüssel, der ins Schloss geschoben und gedreht wurde. Nanouks Herz setzte für mehrere, entsetzliche Augenblicke aus, als sie vor dem kleinen Fenster neben der Türe einen pechschwarzen Umriss gegen das Blau der Nacht erspähte und stolperte rückwärts.
Es war bestimmt Adassett, redete sie sich zu, als sie mit dem Knie gegen den Holzrahmen des Bettes stieß und ein stechender Schmerz ihr verletztes Bein hinab schoss. Sie geriet unbeholfen aus dem Gleichgewicht und fiel mit angehaltenem Atem auf das Bett. Kurz schwappte die frostige Luft ins Innere, als die Türe geöffnet und dann wieder geschlossen wurde und eine einzelne Kerze an der Wand daneben aufflackerte.
Es war nicht Adassett.
Die Hand noch halb erhoben, um eine zweite Kerze anzuzünden, blickte die hagere Gestalt Kamus auf sie herab. Sie rührten sich beide für einige Augenblicke nicht, doch es war der mürrische Mann, der sich zuerst wieder fing. Er stieß ein müdes Seufzen aus und schüttelte den Kopf, als er in aller Ruhe damit fort fuhr, die Kerzen zu entzünden.
»Ich glaube nicht, dass du hier sein solltest. Ob du dich verlaufen hast, oder nicht«, stellte er sachlich fest und knöpfte seinen Wintermantel auf.
Nanouk schluckte heftig und zog sich zitternd zurück auf die Beine. »Ich bin nicht hier, um zu spionieren«, verteidigte sie sich mit schwacher Stimme und Kamu rollte mit den Augen.
»Natürlich nicht. Als nächstes willst du mir erzählen, dass es dich aus Todessehnsucht heraus hier her verschlagen hat. Als hätte Ischka nicht schon genügend Gründe, dich von der Mauer zu werfen.«
»Keine Todessehnsucht«, murmelte sie und strich sich über ihren langen Zopf. »Aber ich wollte nicht alleine in meinem Zimmer darauf warten bis -«
Sie ließ das Ende des Satzes offen und warf Kamu einen Blick zu, den dieser mit dem Heben einer buschigen Braue erwiderte. Er musste nichts sagen, die Aufforderung, sich zu erklären sprach aus den väterlichen Sorgenfalten in seinem Gesicht und Nanouk schlug beschämt die Augen nieder.
»Ich kann nicht aufhören daran zu denken«, murmelte sie und blickte erst wieder auf, als Kamu zum Kamin ging und anfing Holz hinein zu schlichten. »An das, was Reiki heute tun muss.«
Kamu stieß ein Brummen aus und öffnete die Klappe im Rauchfang, ehe er den Reisig am Boden des Kamins entzündete. »Ob du daran denkst, oder nicht ändert nichts daran, dass es geschieht. Was willst du dagegen machen? Es ist schließlich nicht so, als hättest du die Kraft, dem Töten heute ein Ende zu bereiten.«
Nanouk presste die Lippen aufeinander, doch erwiderte nichts darauf. Sie beobachtete seine knotigen Hände, als er mehr Scheite nachlegte und mit dem Schürhaken herabfallende Asche zurück ins Feuer schob.
»Danke für damals«, brachte sie schließlich hervor und Kamu stand mit einem ungeduldigen Ausdruck auf dem Gesicht auf.
»Wofür? Mädchen, wir haben nicht den gesamten Abend Zeit.«
»Ich meine«, beeilte sie sich zu sagen und verschränkte die Finger ineinander, »dafür, dass Ihr mir in Aalsung nicht weh getan habt. Und ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich Euch angegriffen habe.«
Kamu winkte mit einem Seufzen ab. »Junge Leute sind alle stets voller Übereifer. Da gibt es nichts, wofür du dich entschuldigen musst. Dir und deinen Kameraden wurde Unrecht getan und du hast dieses zu verhindern versucht. Dass es nicht geklappt hat, liegt nicht an dir.«
Nanouk wollte widersprechen, doch Kamus strenger Blick hielt sie davon ab. »Lass es. Ich vertraue Adassett und dieser vertraut dir. Wenn du meinst, dass du dieser Aufgabe gewachsen bist, gibt es keinen Grund dich selbst mit irrelevanter Reue zu knechten. Ich würde mir eher Gedanken darüber machen, was dein Eindringen hier für Saghani bedeutet.«
Nanouk biss sich auf die Lippen und schaffte es nicht, das betretene Gefühl abzuschütteln. »Wenn ich ihr sage, dass ich die Gelegenheit am Schopf gepackt habe, um zu schnüffeln, wird sie es gut heißen.«
In Kamus dunkle Augen stahl sich ein Funkeln, das seiner vom Leben gezeichneten Erscheinung das erste Mal tatsächlich eine andere Regung als Groll entlockte. Er sah mit einem Mal, trotz flackernden Kaminfeuers jünger aus, verwegener und nicht gar so miesepetrig. »Dann fühl dich hier wie zu Hause.«
Nanouk lächelte matt und knetete ihre Hände, als sie den Drang verspürte, sich ihm anzuvertrauen. »Ist es klug?«, fragte sie schließlich, weil sie nicht länger an sich halten konnte. »War es klug, mich hierfür zu entscheiden?«
Sie musste nicht erklären, was sie meinte, denn Kamu konnte die stille Frage ohnehin in ihren Augen lesen. Es war vermutlich nie klug Königsmord zu planen.
»Klug würde ich hier oben nichts bezeichnen«, sagte er dann auch und legte seinen Mantel ab. »Jeder von uns lebt hier mit dem Wissen, dass jeder Tag der letzte sein könnte. Ich weiß nicht, was du daher für dich und dein Leben als klug bezeichnen möchtest. Es ist unklug, sich seinen Fehlern zu entziehen«, fügte er dann aber hinzu und hängte den Mantel neben die Türe, welche in den Korridor nach Wallheim führte. »Es ist äußerst unklug, aus Furcht heraus zu handeln und ebenso töricht sich von Dingen abzuwenden, alleine aus dem Grund, weil eine Zuwendung bedeutet, sich seinen Dämonen zu stellen.«
Nanouk versuchte die Worte nicht an sich heran zu lassen, doch scheiterte. Kamu lag unglücklicherweise näher an den Dingen, die Nanouk diese Nacht plagten, als es ihr lieb war.
»Du hast dein Herz am rechten Fleck«, fuhr Kamu fort und rieb sich die Hände vor dem prasselnden Kaminfeuer. »So, wie du deine Kameraden verteidigen wolltest. Ich kann dir nicht sagen, ob es klug war, was du getan hast, oder ob es klug ist, was du nun gedenkst zu tun. Aber ich gehe stark davon aus, dass du davon überzeugt bist, dass es das Richtige ist. Und mehr kann keiner von dir verlangen. Du wirst feststellen, dass selten jemand danach handelt, was wohl am klügsten wäre, sondern eher danach, was sie selbst als richtig empfinden und es wäre närrisch das zu verurteilen.«
»Aber nicht immer ist das, was einer als richtig empfindet auch richtig für die anderen«, hielt Nanouk leise dagegen und rieb sich das Handgelenk.
Kamu hob die Schultern und fuhr sich über die stoppeligen Wangen. »Nein, das ist es in vielen Fällen nicht. Doch wenn du dein Leben stets durch andere bestimmen lässt, wirst du eines Tages vollständig handlungsunfähig und Versagen anhand von Unschlüssigkeit ist schlimmer, als seine Fehler zu bereuen.«
Ihre Blicke trafen sich und Nanouk erkannte, was er damit sagen wollte, auch ohne dass er es aussprach. Bloß manchmal ist das Ende einiger die Rettung vieler. Man wählt seine Schlachten mit Bedacht. Das waren Adassetts Worte gewesen, ehe er einen Greis enthauptet hatte. Und sie wollte ihn dafür verurteilen, weil er sich das Recht heraus nahm über das Leben anderer zu entscheiden, ihnen die Wahl nach der richtigen Handlung raubte und brachte es dennoch nicht zur Gänze über sich. Nicht nachdem, was Kamu ihr soeben gesagt hatte.
»Willst du hier auf Adassett warten?«, rissen sie dann Kamus Worte aus den lähmenden Gedanken der von ihm angeprangerten Unschlüssigkeit.
»Wie?«
Kamu griff nach seinem Mantel und deutete auf die Türe. »Ich habe nicht vor, die ganze Nacht hier zu bleiben. Ich muss heute noch Vorkehrungen treffen, damit morgen alles fertig für die Abreise ist. Ich bleibe zwar hier und kümmere mich um die Mauer, aber das bedarf nicht weniger Zuwendung.«
»Abreise?«, fragte Nanouk mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend und warf einen Blick zum Fenster hinaus.
Kamu nickte. »Nao schickt seine Getreuen aus, damit sie die Verbrecher aus dem Tal hier hinauf schaffen. Adassett wird morgen nach Vosejn reiten.«
Als Nanouk ihn bloß entgeistert anblickte, winkte er verärgert ab. »Vosejn liegt an den östlichen Ausläufern des Zittergebirges an der Küste, keine drei Tage von hier. Mitzukommen wäre klug. Schließlich haben du und Adassett einiges zu besprechen.«
Nanouk öffnete den Mund zu einer Frage, doch Kamu kam ihr zuvor. »Viel Glück, Nanouk.«
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Nanouk blickte Kamu sprachlos hinterher und dann zurück zur Tür hinaus zur Mauer. Sie wusste nicht, ob sie auf Adassett warten wollte, es widerstrebte ihr immer noch irgendwie mit ihm alleine zu sein. Aber sie blieb, weil Kamus Frage sie irgendwie alarmiert hatte. Gab es etwas, das Adassett unbedingt mit ihr besprechen wollte?
Sie kaute unruhig auf ihrer Lippe herum. Sie musste auf alle Fälle zurück in Wallheim sein, ehe Saghani ihre Abwesenheit bemerkte, aber eine kurze Weile würde gewiss nicht schaden. Dennoch zuckte sie ertappt zusammen, als die Türe zur Mauer aufgestoßen wurde und Adassett tatsächlich eintrat.
Er sah aus, als hätte er sich eben noch durch einen Schneesturm gekämpft, das Haar zerzaust und die schillernden Federn seines Mantels standen wild von seinen Schultern ab. Sein Blick war leicht glasig, als hätte er getrunken, was Nanouk sehr plausibel vorkam, erinnerte sie sich zwar nicht genau an die Geschehnisse des letzten Fests, sehr wohl aber an die Umstände. Vielleicht war er in der Gestalt des riesigen Raben hier hinauf geflogen und Nanouk fragte sich, wie idiotisch es sein musste, betrunken zwischen den hohen Nadelbäumen durch die Nacht zu navigieren.
Adassett blinzelte und rieb sich träge über das Gesicht, als er die Türe hinter sich mit ein wenig mehr Kraft als notwendig ins Schloss warf.
Kamu konnte doch nicht allen Ernstes glauben, dass Adassett in betrunkenem Zustand irgendwelche Informationen an sie weiter zu geben vermochte. Sie holte tief Luft, um etwas zu sagen, brachte aber nicht mehr als ein zittriges »Ähm«, hervor.
»Du bist ... keine Einbildung«, stellte Adassett mit fragendem Unterton fest und deutete auf sie, als er sich den schweren Federmantel von den Schultern zog und ihn achtlos über den gepolsterten Ohrensessel neben dem Kamin warf.
Nanouk räusperte sich. »Dummerweise nicht. Es ist nicht so, dass Saghani wollte, dass ich herkomme. Und verlaufen habe ich mich auch nicht«, fügte sie rasch hinzu, als Adassett leicht wankend seinem Mantel auf den Stuhl folgte.
»Oh gut. Ich dachte schon, ich sähe Trugbilder. Es waren nur ein paar Becher Wein«, murmelte er und fuhr sich durch die Haare, die nun, da der Schnee in ihnen anfing zu schmelzen, feucht wurden. Dann hielt er inne und legte den Kopf schief, als er zurück zu ihr sah.
»Warum bist du noch gleich hier?«
Nanouk entspannte sich ein wenig und löste ihre zu Fäusten geballten Hände. »Ich war alleine, da du dich allem Anschein nach lieber mit Wein begnügst, als mit mir«, erklärte sie, vorsichtig scherzend. »Und mir war langweilig«, fuhr sie fort, doch merkte, dass die Lüge hinter diesem Wort als Zittern in ihrer Stimmlage entlarvt wurde. Adassett ließ seinen Kopf nach hinten sinken uns blickte sie aus gesenkten Lidern an.
»Mhm«, brummte er und sah nicht so aus, als kaufte er ihr das ab.
»Und weil du vergessen hast abzuschließen, bin ich hier herauf gekommen.«
»Weil du einsam warst.«
»Nein«, widersprach Nanouk vehement und erinnerte sich an den traurigen Schmerz zurück, der in Naujus Stimme angeklungen war. »Weil mir langweilig war und ich irgendetwas tun musste, um mich davon abzulenken, was Reiki ... «
Sie ließ ihre Worte im Nichts zerrinnen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Kamu meinte, du würdest etwas mit mir besprechen wollen. Wegen einer Reise? Morgen?«
Adassett starrte sie weiterhin an und rieb sich dann die Nasenwurzel. »Er war heute nicht beim Fest. Hat die Mauer patrouilliert.« Er machte eine vage Geste mit dem Arm und rieb sich dann angestrengt über die Augenbrauen. »Warum hat er dich ... er war hier?«
Nanouk verkniff sich ein belustigtes Schnauben und deutete auf den Kamin. »Warum hätte ich das Feuer entzünden sollen?«
Adassett blickte zwischen ihr und Kamin hin und her und stieß dann ein verärgertes Seufzen aus. »Ja, wir reiten ins Tal, ich wollte es dir sagen, aber ich habs nicht über mich gebracht, dich ... Nur deswegen habe ich mich heute mit Wein, statt deiner Gesellschaft begnügen müssen.«
Nanouk verkniff sich ein Grinsen und biss sich fest auf die Zunge.
»Hast du's ihr verraten?«, wollte Adassett dann wissen und der glasige Ausdruck lichtete sich von seinen Augen.
Nanouk schüttelte erschrocken den Kopf. »Nein.«
Adassett stieß den Atem langsam durch die Nase aus und nickte.
»Soll ich denn mitkommen, ins Tal?«, stellte sie dann in den Raum, als die Stille durch das flackernden Zwielicht des Kamins drängend wurde.
»Ja. Es ist das beste. Hat Sagahni noch nichts gesagt?«
Nanouk schüttelte den Kopf und lehnte sich gegen den Bettpfosten, um ihr schmerzendes Bein zu entlasten. »Wie denn, wenn ich den ganzen Abend hier war? Genau genommen ... fürchte ich, ist das der Grund weshalb ich besser gehen sollte«, murmelte sie schließlich. »Auch, wenn ich ihr sagen kann, dass ich mich nur ein wenig umgesehen habe ... je länger ich fort bin, desto misstrauischer wird sie mit Sicherheit.«
»Und?«, forderte Adassett sie mit einem merkwürdig andächtigem Unterton in der Stimme auf.
»Und was?«
»Hast du etwas gefunden, das dir gefallen hat?«
Nanouk blickte sich verstohlen um und schüttelte dann den Kopf. »Ich habe mich ... nicht wirklich umgesehen.«
Adassett stemmte sich aus dem Stuhl und ging zu der schlichten Kommode neben dem Kamin hinüber. Er öffnete zielstrebig die oberste Lade und griff hinein. »Ich hab damals in Aalsung schon gewusst, von dem Moment an, als ich durch die Tore gekommen bin, dass das hier alles ... unschön enden würde«, murmelte er mit rauer Stimme und holte einen Gegenstand hervor.
Nanouk spannte sich merklich an, als er diesen einschlägigen und fürchterlichen Tag zurück an die Oberfläche holte. Nauju hatte von einer Welt davor und danach gesprochen, doch für Nanouk fühlte es sich so an, als gäbe es noch unzählige Welten dazwischen, keine klare Trennlinie, welche die ihre in heil und gebrochen teilte.
»Ich wusste nicht, ob ich entsetzt, oder erleichtert sein sollte«, fuhr Adassett fort und drehte den Gegenstand in den Händen. »Kinder ... sind so leicht einzuschüchtern, sie verstehen zu wenig von der Welt, um zu begreifen, was passieren wird und doch genug, dass sie in stiller Furcht ertragen, was mit ihnen geschieht. Aber-«
Adassett brach ab und seine Schultern strafften sich. Er wandte sich zu ihr um und Nanouk konnte endlich erkennen, was er aus der Lade hervorgeholt hatte.
Es war ihr Jagdmesser. Nanouk öffnete den Mund, um etwas zu sagen, vermutlich, um danach zu verlangen, doch in ihrem Kopf zerflossen ihr die Worte wie Wasser.
»Aber du warst kein Kind mehr«, fuhr Adassett dann fort. »Alleine deine Stimme, der Ausdruck in deinen Augen ... war so kalt, so verurteilend. So zornig, wie es kein Kind sein kann, denn für diese Art von Zorn bedarf es einer ermüdenden Last, durch die Ungerechtigkeit des Lebens auferlegt.«
Nanouk schloss ihren Mund unverrichteter Dinge und starrte auf Adassetts Hände, welche den gesplitterten Knochengriff ihres Jagdmessers hielten, weil sie ihm nicht ins Gesicht sehen konnte. Diese Nanouk gab es nicht mehr. Wurde samt ihres Beines in die Bedeutungslosigkeit geworfen und wusste sich nicht mehr zu erwehren.
»Ich wollte, dass du schweigst«, fuhr Adassett fort und seine Stimme war so leise, dass sie nicht mehr war, als ein raues Schaben von Stein auf Stein. »Denn jedes Wort bedeutet, dass ich mit Grausamkeit antworten muss.«
Nanouk biss die Kiefer so fest zusammen, dass ihre Zähne protestierten. Adassett fuhr mit dem Daumen über die Schneide und das sanfte Geräusch von angeschlagenem Stahl summte durch den kleinen Raum. »Ich wollte das alles nicht.«
»Und trotzdem hättest du es getan, oder?«, flüsterte Nanouk, da sie ihrer Stimme keine Kraft zumutete. »Du hättest ihn getötet, hättest ihm die Kehle in einem Zug aufgeschlitzt, weil es das ist, was man von dir erwartet.«
Sie hob den Blick, weil sie sehen wollte, was sich auf seinem Gesicht abspielte und begegnete seinen Augen, die ebenfalls auf ihr ruhten.
»Und nenn mich einen scheinheiligen Mörder, aber ich hätte dir dafür versucht die Schuld zu geben.«
Nanouk presste ihre zitternden Lippen zusammen und blinzelte gegen die Tränen an. »Ich habe versucht zu helfen.«
»Ich weiß.«
»Dabei hätte ich ihn umgebracht.«
»Aber das hast du nicht«, hielt Adassett dagegen und machte einen Schritt auf sie zu. Nanouk konnte nicht vermeiden, in eine abwehrende Haltung zu sinken. Wenn Adassett mit seiner ruhigen Stimme sprach und sich nicht bewegte, vergaß sie schnell, was für ein mächtiger Mann er war. Sie wusste nicht, ob sie es jemals schaffen würde, diese tief verwurzelte Furcht vor ihm abzulegen, ganz egal, mit wie vielen besänftigenden Worten er ihr begegnete.
Adassett blieb stehen, als er merkte, wie sich Nanouks Haltung änderte und rollte unschlüssig mit der linken Schulter. »Du kannst es wieder haben«, sagte er schließlich und reichte ihr das Jagdmesser.
Nanouk griff zögerlich danach und schreckte beinahe vor der Berührung des durch die vielzählige Nutzung glatt geriebenen Hefts zurück. Es fühlte sich schmerzlich vertraut in ihren Händen an. Sie wusste noch genau, aus wessen Geweih sie den Griff geschnitzt hatte.
Die Karibu-Kuh, welche jährlich jenseits des Südwaldes mitsamt ihrer kleinen Herde aufgetaucht war, hatte beinahe zur Familie gehört. In Tallik nannte man sie manchmal Mutter der Karibus, ein Titel, welcher nach den Lehren ihres Großvaters nur der allerheiligsten Karibu-Kuh zugesprochen wurde. Sie war eine Ewige, so alt wie die Welt und manche behaupteten, sie wäre Sina-wa selbst. Und obwohl dies gewiss nicht auf die starke Leitkuh der Herde zutraf, deren Fell jedes Jahr ein wenig grauer wurde, als wollte sie die Welt an ihre Sterblichkeit erinnern, hatte ihr ataaq stets darüber gelächelt.
Sie waren als kleine Kinder immer auf die höchsten Äste der Bäume geklettert, um ihr Kommen zu beobachten. Sie kam beinahe jedes Jahr zur selben Zeit und ihr ataaq hatte ihr erklärt, dass die Tiere den Wandel der Welt eher bemerkten, als sie selbst. Ob das ihrer Nähe zu den Urahnen zuzuschreiben war, wunderte sich Nanouk erst jetzt.
Sie war neun geworden, als die Karibu-Kuh das erste Mal nicht erschien, als sie sollte. Neben Imiaq hatte sie auf dem Ast ausgeharrt und mit ihm einen zuerst genervten, dann einen beunruhigten Blick gewechselt. »Wenn du angakkuq wirst«, hatte Imiaq ernst gesagt, obwohl seine Wangen immer noch pausbäckig und seine Nase klein und rund gewesen war, »dann musst du dich bei ihr beschweren. Ich hab mir ihretwegen die Zehen abgefroren!«
Sie hatten daraufhin gelacht, doch waren enttäuscht und beunruhigt die nächsten Tage stets an den Fjorden entlang gelaufen, um nach ihr Ausschau zu halten. Schlussendlich tauchte sie auf, doch keine zwei Jahre später hatte man sie zur Jagd freigegeben. Alt und schwach, war sie in der Hierarchie gesunken, hatte der nächsten Kuh Platz gemacht und als Nanouk das erste Mal mit auf die Jagd durfte, war sie ihr mit ganz anderen Augen begegnet.
Sie hatte sich immer schlecht gefühlt, für die Mutter der Karibus, weil sie von ihrem ruhmvollen Platz an der Spitze verdrängt worden war, hatte sich vielleicht auch ein wenig geschämt, sie als Kind so verehrt zu haben, wenn sie nichts weiter, als ein altersschwaches Karibu war.
In dem Moment, als die Herde Reißaus nahm und die jüngeren unter ihnen mit ihren kräftigen Beinen davon stoben, war sie geblieben, wo sie war. Grasend, nach frischem Grün scharrend und wartend. Unbekümmert.
Nanouk presste ihre Finger fest auf den Knochengriff ihres Jagdmessers, fühlte jede Unebenheit und strich mit dem Daumen über die abgenutzten Stellen, als könnte sie das einstige Leben und die Weisheit darunter noch spüren.
»Sie hat sich nicht gewehrt«, sagte sie leise und holte zittrig Luft. »Sie stand einfach da, als alle anderen davon gelaufen sind, weil ich tollpatschig und ungeübt war.«
Adassett legte nur den Kopf schief und betrachtete sie schweigend, also fuhr sie fort zu erklären.
»Das Karibu, ihr Geweih. Sie war alt, so alt. Das Fell grau und ihre Rippen stechend klar nach dem Winter, wie die spitzen Felsen, die durch die Grasdecke der Fjorde gebrochen sind. Ich dachte immer, sie wäre schwach und beschämend, wo sie doch einst voller Leben gewesen ist. Ich dachte, ihr Weichen von der Spitze ihrer Herde hätte ihren Stolz gestohlen und damit auch meinen, so wie ich für sie geschwärmt habe.« Nanouk löste den Griff, aber nur, um sich die Träne von der Wange zu wischen.
»Aber sie wusste einfach, dass ihre Zeit gekommen ist. Weil die Tiere immer wissen, was geschehen wird, ehe es passiert.«
Nanouk konnte sich nicht erklären, weshalb sie wegen einer alten Karibu-Kuh plötzlich so befangen wurde, die Tränen nicht halten konnte und das Gefühl hatte, hiermit an ihre Grenze zu stoßen. Nichts hatte sie bisher derartig erschüttert, als ihr altes Jagdmesser in Händen zu halten. Dieses Stück Heimat in Händen zu halten. Das Grauen, welches sie seit ihrer Entführung aus Aalsung durchlebt hatte, war dieses Zusammenbruchs würdig, sie hatte geweint, doch war niemals so in sich zusammen gefallen wie hier.
»Sie sah mich an, als verstünde sie, dass ich nur ein dummes Mädchen war, das ihre erste Jagd bestreiten sollte. Ein dummes, törichtes Kind, das nur diesen einen Schuss hatte, um seinen eigenen Wert erkennen zu dürfen und sie hat ihn mir geschenkt. Sah mir grasend in die Augen, als ermunterte sie mich mit einem Lächeln dazu.«
Nanouk schluchzte auf und ließ sich auf das Bett sinken.
»Es ist ein gutes Messer«, sagte Adassett leise.
Nanouk schüttelte den Kopf und wischte sich energisch mit den schwarzen Ärmeln ihrer Arbeitertunika über die Wangen. »Ich werde nie wieder auf die Jagd gehen. Nicht mit dem Bein.« Sie wischte die Tränen von der Klinge und holte tief Luft. »Ich kann es nicht behalten. Es gibt keinen Ort in Wallheim, der sicher ist dafür.«
Nanouk schluckte und streckte den Arm aus, damit Adassett das Messer wieder an sich nahm.
»Ich hätte es dir eher wieder gegeben, wenn ich gewusst hätte, was es dir bedeutet.«
Nanouk stieß ein kurzes Lachen aus und zog die Nase hoch. »Tja. Ich denke, du hast es für dich behalten, weil du Angst hast, dass ich es dir bei der ersten Gelegenheit zwischen die Schulterblätter stoßen würde.«
Adassett blinzelte erstaunt zu ihr nach unten und konnte sich dann das Grinsen nicht verkneifen, welches er auf Nanouks verquollenem Gesicht gespiegelt fand. »Davor fürchte ich mich immer noch.«
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