⫷ Kapitel 39: Die verlorene Schwester und der gestohlene Bruder ⫸
Die Fahrt nach Wallheim war kurz und still. Ischka brachte sie in den fünften Stock und wenngleich sie für Nanouk kein freundliches Wort erübrigte, war sie ebenso wenig respektlos.
»Ich weiß nicht, was du getan hast«, wandte sie sich dann an Nanouk, als sie sich die Tunika vor Saghanis Gemächern glatt strich. »Aber anaana Saghani ist ... mit einer Laune heute angekommen, in deren Gegenwart ich nicht einmal jemanden wie dich wünsche. Ataha Nauju ist bereits bei ihr und hat sein bestmögliches getan.« Nanouk biss sich auf die Unterlippe und Ischka seufzte aufgebracht. »Ich hoffe bloß, dass du dich anständig benommen hast.«
Ischka rümpfte die Nase und klopfte anschließend an Saghanis Gemächer. Die Herrin Wallheims öffnete und ihre Augen fielen von Ischkas adrettem Zustand auf Nanouks zerzausten. Aus ihren dunklen Augen sprach eine Regung, die Nanouk nicht zuzuordnen wusste, aber mit dem unbestimmten Gefühl des Vorwurfs verband.
»Rein«, kommandierte Saghani und verabschiedete sich mit einem Nicken von Ischka.
Nanouk beeilte sich an Saghani vorbei in ihre Gemächer zu schlüpfen und wurde von dem charakteristischen Gemisch aus Räucherwerk und Dunkelheit begrüßt. Und von Nauju, der bei ihrem Anblick das Weinglas in seiner Hand einige fingerbreit anhob, als proste er ihr amüsiert zu.
Saghani drückte sie bestimmend auf eines der Sofas vor dem niedrigen Tisch und wechselte einen Blick mit Nauju, ehe sie sich gemächlich Nanouk gegenüber nieder ließ. Sie nahm sich andächtig ein Glas Wein vom Tisch und überschlug ihre Beine, sodass das samtene Kleid bis zu ihrer Hüfte auseinander fiel und Nanouk ihre kräftigen Beine erkennen konnte. Sie war barfuß, stellte Nanouk erstaunt fest. Keine Strümpfe, keine Socken und keinerlei Schuhwerk.
»Ich werde das Gefühl nicht los, als gäbe es hier ein unausgesprochenes Vergehen im Raum«, durchbrach Naujus belustigte Stimme schließlich die schwere Stille und Nanouk biss sich auf die Lippen.
Saghani musterte sie schweigend und legte den Kopf schief, als sie den Wein in dem Glas langsam schwenkte. Nanouk wunderte sich, was Nauju überhaupt hier tat, inwiefern er sein bestmöglichstes getan hatte und musste sofort an die Heilbehandlung denken, die Saghani so nötig hatte. Und dann huschten ihre Augen auf der Suche nach diesem Gebrechen über Saghanis Körper, fanden jedoch keinerlei verräterischen Anzeichen. Nicht einmal die Augenringe waren zu erkennen und die Schminke in ihrem Gesicht saß perfekt.
»Ich versuche bloß zu ergründen, welcher Dämon sie geritten hat«, sinnierte Saghani und ihr Blick bohrte sich in den Nanouks. »Als sie König Nao gegenüber ausfallend geworden ist.«
Nauju verschluckte sich hörbar an seinem Wein und hielt sich hustend eine Faust vor den Mund. »Bitte was?!«
Saghanis Mundwinkel zuckte leicht nach oben, als sie Nauju einen Seitenblick zu warf und sich die losen Strähnen ihrer Frisur hinter die Ohren strich. »Also?«
Nanouk blickte ebenfalls zu Nauju, der sie aus tränenden Augen anblickte und versuchte seinen Husten unter Kontrolle zu bringen. »Ich hoffe ausfallend charmant.«
Nanouk öffnete den Mund und schloss ihn wieder, als sie ihre Worte mit Bedacht wählte. Der Trotz, den sie gestern verspürt hatte, war einer ängstlichen Unsicherheit gewichen. Sie dachte an das, was Adassett gesagt hatte und kaute nervös auf ihrer Lippe herum. Und dann wiederum war es einfacher die Wahrheit zu sagen, als zu lügen.
Vielleicht, dachte sie bei sich, bin ich deswegen eine schlechte Lügnerin. Weil die Wahrheiten anderer zu erblicken einfacher war, als sich den eigenen zu stellen. Jemandem, der ehrlich war, unterstellte man seltener den Akt des Lügens. Eine vorteilhafte Position, wenn man sich frei von Verdacht einigen wenigen Aspekten des Lebens verschließen wollte, ohne hinterfragt zu werden.
»Ich ... ging der Annahme, dass König Nao Widerstand gefällt. Immerhin ist es das, was man ihm hier hinter vorgehaltener Hand unterstellt.«
Saghani schnaubte abschätzig durch die Nase, doch ihr Blick war leer, als sie Nanouk anblickte. »Und woher hast du das?«
»Nauju hat davon berichtet.«
Nauju verschluckte sich ein zweites Mal an seinem Wein und stellte das Glas vorsichtshalber hustend auf den Tisch.
»Ach«, stieß Saghani überrascht aus, als sie Nauju einen langen, tödlichen Blick zu warf.
»Das ist nun wirklich kein Geheimnis«, verteidigte sich Nauju krächzend und räusperte sich energisch.
»Tja«, machte Saghani scharf und ließ ihre Nägel an das Kristallglas trommeln. »Damit hat sie sich sehr gewagt auf sein Spiel eingelassen und ich will hoffen, dass uns dieser Zug nicht aufs Schafott führt.«
Nauju hatte sich wieder gefangen und lachte verhalten. »Wenn dann in Adassetts Arena.«
Saghani schnalzte mit der Zunge und verzog den Mund abschätzig.
»Aber das sind doch tolle Neuigkeiten«, wandte nun Nauju ein und hob rasch abwehrend eine Hand, als ihm Saghani den Kopf zuwandte. »Dass er mit Nanouk spielen will. Immerhin«, fügte er mit schalkhaften Blick auf diese hinzu, »halten seine Spielzeuge länger, als seine willkürlichen Launen.«
Saghani rollte mit den Augen und wandte sich wieder an Nanouk. »Du hast keine Ahnung, was du getan hast. Was dir beinahe widerfahren wäre«, stellte sie mit einem scharfen Unterton in der Stimme in den Raum.
Nanouk musste an den kalten Schmerz zurück denken. Was auch immer in Naos Geist saß war weit jenseits sämtlicher Menschlichkeit.
»Fordere Nao nie wieder so öffentlich heraus. Nicht nur, dass du damit deinen Kopf und Kragen riskierst, sondern auch meinen. Dir mag es nicht bewusst sein, was er hinter deinen frechen Worten sonst noch alles sieht und hört, weil er es sehen und hören will, doch nur, weil man sich einer Sache nicht bewusst ist, macht es diese nicht unweigerlich unwahr.«
Nanouk nickte geknickt und ehrlich erschüttert. Dies war nicht das erste Mal, dass ihr diese Art an Ignoranz beinahe zum Verhängnis geworden wäre.
Sagahni führte diese Drohung nicht weiter aus und auch Nauju schwieg dazu. Stattdessen nahm Saghani einen Schluck von dem Wein und legte den Kopf schief. »Ich hoffe, dein Dienst unter Adassett ist positiver verlaufen?«
Nanouk hätte es nicht als positiv beschrieben, doch für einen Moment fehlten ihr die Worte. Das, was Adassett vergangene Nacht für sie getan hatte, war mehr, als sie sich jemals gewagt hatte zu erhoffen.
»Ja«, sagte sie schließlich, weil sie merkte, dass sie schon viel zu lange schwieg. »Ich gefalle ihm.« Dass sie damit ihre Entscheidung, ihm zu helfen meinte, sagte sie nicht.
»Hmm und deine offenen Haare?«
Nanouk strich sich über ihre zerzausten Strähnen und hob die Schultern. »Es vergeht kein Mal, ohne, dass er sie berührt.« Eine Halbwahrheit.
Saghani begegnete ihrem Blick und für einen Moment huschte ein Ausdruck durch ihre dunklen Augen, den Nanouk aber nicht schnell genug fassen konnte, um ihn zu ergründen. Als rückten in Saghanis Kopf einige Mosaiksteine an den rechten Ort und offenbarten ihr einen Blick auf das Gesamtbild.
»Konntest du ihn aushorchen? In Erfahrung bringen, was er mit seinen Söldnern plant?«, bohrte Saghani nach und Nanouk fühlte, wie sich alles in ihr anspannte.
»Nein«, sprach sie dann eine Halbwahrheit, weil sie ihn weder ausgehorcht, noch über die Tätigkeiten seiner Männer ausgefragt hatte. »Noch nicht.«
Saghani schürzte die Lippen und lehnte sich zurück. »Na schön.«
»Darf ich Euch dennoch eine Frage stellen?« Nanouk räusperte sich und schielte zu Nauju hinüber, der betont lässig gegen den Kamin gelehnt da stand und sie betrachtete. Er versuchte desinteressiert zu wirken, doch er spitzte die Ohren, als Saghani Nanouk zum Weiterreden aufforderte.
»Weshalb – neben der offensichtlichen Gründe – könnt Ihr ataha Adassett nicht ausstehen?«
Nauju spannte sich augenblicklich an, als hätte sie mit dieser Frage eine Schwelle überschritten. Eine jener Schwellen, die Nanouk zwischen ihm und Saghani schon des öfteren bemerkt hatte und die unter gar keinen Umständen zu überschreiten waren.
Saghani jedoch schnaubte elegant durch die Nase und blickte hinunter in das blutrote Getränk in ihren Händen. »Die offensichtlichen Gründe sind wohl bereits Gründe genug. Ich dachte, das hätte ich dir bei unserem letzten Gespräch klar gemacht.«
Nanouk beeilte sich einzulenken. »Natürlich, doch ... frage ich mich, ob es einen Unterschied zu ataha Siku gibt. Ihr verfahrt anders mit ihm, als mit ataha Adassett.«
Sagahnis Miene wurde still wie Eis, als sie Nanouks Worten lauschte. Ein schmales Lächeln huschte über ihre bemalten Lippen. »Du siehst wohl immer genau hin, nicht wahr? Er vergewaltigt Diener und Dienerinnen, selbst Kinder. Empfindet Freude daran, Menschenleben zu beenden, sie zu foltern und sich in ihrem Blut zu baden. Ich verstehe nicht, weshalb dir diese Gründe nicht als offensichtlich genug erscheinen.«
Nanouk schlug die Augen nieder. »Verzeiht die anmaßende Frage, anaana Saghani. Es stand mir nicht zu.«
Die Herrin Wallheims winkte jedoch ab. »Neugierde ist kein Vergehen«, sagte sie dann. »Aber manchen Antworten sollte man mit Vorsicht begegnen.«
Der Blick, den sie Nanouk zuwarf, sprach für sich und sie hakte nicht noch einmal nach.
»Ihr dürft gehen.« Saghani scheuchte sie regelrecht aus ihren Gemächern. Mit einem letzten Blick über die Schulter erkannte Nanouk, wie Saghani nach der Weinkaraffe griff und ihr Glas bis an den Rand füllte.
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Nauju schloss die Türe hinter ihnen und stieß ein tiefes Seufzen aus. »Was hast du zu Nao gesagt?«
Der Ausdruck auf seinem Gesicht war nicht belustigt oder schadenfroh, wie es vorhin den Eindruck gemacht hatte, als Nauju ohne ein Anzeichen an Beunruhigung dem Gespräch gelauscht hatte. Er sah bestürzt aus, beinahe erschrocken und in seinen hellen Augen spiegelte sich vielleicht sogar ein Funken an Furcht.
»Spielt es denn eine Rolle?«
Nauju schloss die Augen und biss sich auf die Lippen, ehe er tief Luft holte, als müsse er sich beruhigen. »Dir ist hoffentlich bewusst, dass ich auf die Art und Weise, wie Nao mit seinem Unrat umgeht, angespielt habe. Und nicht, weil ich dir damit einen Freibrief erteilt habe, ein unvorsichtiges, präpotentes Gör zu sein.«
Nanouk klappte der Mund leicht auf und machte sich auf den Weg durch Wallheim. »Untersteht Euch. Es hat geklappt.«
Nauju holte kopfschüttelnd auf und packte sie an der Schulter, um sie zu stoppen. Nanouk blieb widerwillig stehen und blickte sich um, doch im fünften Stockwerk Wallheims war es so wie sonst auch gespenstisch ruhig.
»Du hast keine Ahnung, was du damit anrichten hättest können!«, zischte er und warf ebenfalls einen Blick über die Schulter. »Saghani benutzt dich. Saghani, verstehst du? Nao hätte dich aus einer willkürlichen Launen heraus einfach mit einem Fingerschnippen in tausend Stücke reißen lassen können. Und das meine ich nicht metaphorisch.«
Nanouk starrte in Naujus entgeistertes Gesicht, schluckte dann aber ein wenig beunruhigt. Sie wusste nun sehr genau, wozu Nao Reiki zwingen konnte, was er ihm zu befehlen vermochte und wie bedingungslos Reiki seinen Befehlen bis ins kleinste Detail Folge zu leisten hatte.
»Du darfst das nicht, verstanden?«, pflügte Nauju aufgebracht fort und seine Finger gruben sich in die nackte Haut ihrer Schulter. »Wenn du dein Leben verwirkst, so verwirkst du damit auch meines. Meine einzige Möglichkeit-«
Er brach ab und holte scharf Luft.
Nanouk wand sich aus seinem Griff. »Eure einzige Möglichkeit hier fort zu kommen. Ich weiß«, sagte sie energisch.
Nauju gab darauf keine Antwort, sondern ging ihr voran durch die Korridore, wobei sie die öffentlich zugänglichen Räumlichkeiten mieden. Als sie das geschäftige Treiben des Wohnflügels hören konnten, blieb Nanouk schließlich stehen. Zum einen, weil ihr Bein nach einer kurzen Rast verlangte, zum anderen, weil sie noch nicht wieder bereit war, ein Gefühl auf ihr Gesicht zu zwingen, das ihr am Ende bloß wieder zum Verhängnis wurde.
»Hinter Saghanis Worten steckt mehr als nur Abneigung gegenüber Adassetts Wesen«, sagte sie schließlich und lehnte sich mit dem Rücken gegen die vertäfelte Wand.
Nauju blieb gezwungener Maßen ebenfalls stehen und bedachte sie von oben bis unten. »Und das sollte ich dir weshalb erzählen?«
Nanouk ließ den Kopf gegen die Seidentapete sinken. Sie begann bereits Adassetts geradlinigen Wahrheiten zu vermissen. Überhaupt das prickelnde Gefühl der Freiheit, das sie trotz purer Angst außerhalb des Palastes verspürt hatte. Sie sehnte sich nach der Welt hinter der überwältigenden Farbenpracht Wallheims, trotz ihrer Kälte und Strenge.
»Mit Siku hat sie kein Problem, dabei ist er es, der Kinder in die Sklaverei und Prostitution verkauft.«
Nauju hob den Kopf und nestelte abwesend an seinen hochgekrempelten Hemdsärmeln herum. »Was gibst du mir im Gegenzug für dieses Geheimnis?«, fragte er sie dann jedoch kokett und ein diebisches Funkeln schlich sich in seine Augen.
Nanouk blickte an die Decke, um ihren Frust nicht zu deutlich nach außen dringen zu lassen. »Was verlangt Ihr?«
Nauju lächelte in sich hinein und legte sich den Finger an die Lippen.
»Wenn Ihr eine Wahrheit für eine Wahrheit sagt«, fing Nanouk mit finsterem Blick an und Nauju lachte entzückt auf.
»Dann lehnst du prinzipiell ab? Ich dachte, die Sache, der du vehement abgeneigt gegenüber stehst, wäre jeglicher körperlicher Akt des Genusses.«
Nanouk kniff die Lippen zusammen und war froh, dass man auf ihrer Haut nicht feststellen konnte, wenn sie errötete. Doch etwas in Naujus funkelnden Augen, sagte ihr auch so, dass ihm durchaus bewusst war, was in ihr vorging.
»Nein«, widersprach sie energisch und verschränkte die Arme vor der Brust. »Weder habe ich das je gesagt, noch entspricht es der Wahrheit. Aber«, setzte sie dann mit einem halben Grinsen fort, »meinetwegen erkläre ich Euch, was ich wirklich meine, wenn Ihr mir im Gegenzug verratet, weshalb Saghani eine Blutfehde mit Adassett hegt.«
Nauju biss sich nachdenklich auf die Lippen und legte den Kopf schief, als er abwägte. Das anzügliche Lächeln wurde jedoch schließlich von einem amüsierten abgelöst und Nanouk stellte fest, dass dieses Lächeln eines der seltenen war, welches seine Augen erreichte.
»Also gut«, willigt er schließlich ein und Nanouk streckte ihm eine Hand hin.
»Abgemacht.«
»Abgemacht.« Nauju schlug ein und gab Nanouk mit einem Nicken zu verstehen, dass sie sprechen solle.
»Ich lehne es nicht prinzipiell ab, mit jemandem diese Zweisamkeit zu teilen«, fing sie daher selbstgefällig an zu erklären. »Sondern weigere mich aus dem simplen Grund, dass mir der Zwang hinter dieser Gegebenheit hier aufstößt. Mehr nicht.«
Nauju blickte sie leicht entrüstet an. »Das ist alles? Kein tiefgreifendes Trauma, keine tragische Kindheitsgeschichte, anhand der ich die Untiefen deiner Persönlichkeit ergründen kann?«
Nanouk hob die Augenbrauen. »Nein. Und dass Ihr damit andeutet, dass Ihr Euch dies für mich – oder irgendjemanden – wünscht, bloß, um eine Verbindung zu knüpfen, sollte Euch zu denken geben.«
Nauju fasste sich beleidigt an die Brust. »So denkst du von mir? Ich bin entsetzt!«
»Augenscheinlich«, kommentierte Nanouk mit tonloser Stimme.
»Das heißt-«
»Nein«, fiel Nanouk ihm energischer als beabsichtigt ins Wort, als sie die Arglist in seinen Augen funkeln sah.
»Nicht einmal, wenn ich darum bitte?«
»Nicht in tausend Leben«, schmetterte sie ihn ab, konnte sich aber ein Grinsen kaum verkneifen und biss sich auf die Innenseite ihrer Wangen.
»Autsch«, scherzte Nauju, konnte jedoch nicht verhindern, dass sein Blick mit einer ganz neuen Art von Neugierde an ihr herab wanderte. Vielleicht bereute Nanouk, dass sie ihm das gesagt hatte.
»Damit zu Eurem Teil der Abmachung«, wechselte sie uncharmant das Thema und drückte sich von der Wand ab, damit sie ihren Weg fortsetzen konnten.
Nauju seufzte theatralisch und schob sie vor sich her, bis sie die Treppe hinunter ins Foyer nahmen. Auf Nanouks fragenden und leicht alarmierten Blick hin, lächelte Nauju.
»Das sind keine Dinge, die ich erzählen kann ... oder möchte, wenn wir uns in Wallheim befinden. Wir machen einen Spaziergang.«
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Es schneite, als sie Wallheim verließen und Nanouk an Naujus Arm über den imposanten Vorplatz ging. Der sanft fallende Schnee bedeckte den befestigten Weg und das zurecht gestutzte Gebüsch zu beiden Seiten des prächtigen Bordells und Nanouk fragte sich, ob der Schnee hier oben von anderer Natur war als jener, in den Tälern. Es mochte verrückte Einbildung sein, da sie die vergangenen Wochen stets in gut geheizten Räumlichkeiten verbracht hatte, doch die zarten Kristalle fühlten sich an wie feine Messerklingen auf ihrer Haut. Als legten sie hier oben an der Spitze des Berges all ihre verzweifelte Wut in ihre Schönheit.
Nauju führte sie den Weg um das Gebäude und an die Mauer zu den Ställen. Nanouk hob beide Augenbrauen und legte den Kopf in den Nacken, um Nauju unter ihrer Pelzkapuze überhaupt erkennen zu können.
»Ihr sagtet, wir gehen spazieren.«
Nauju hob bloß die Schultern und ließ sich mit einem Nicken eines der untergestellten Rösser vorbereiten. »Ein Ausritt ist aber-«
»Wenn Ihr romantischer sagt, verzichte ich auf diese Geschichte.«
Nauju aber lachte bloß amüsiert. »Vertrau mir, das letzte, was ich will, ist hier irgendetwas romantisch zu gestalten.«
»Natürlich«, erwiderte Nanouk mit gerümpfter Nase. »Für Euch zählt ja auch bloß der Geschlechtsverkehr. Kein Grund den armen Damen davor ein wenig zu schmeicheln.«
Nauju beäugte sie mit einem verschmitzten Funkeln in den Augen. »Ich schmeichle doch aber den Damen ergiebig. Das wüsstest du, wenn du mich nicht derart kratzbürstig auf Abstand hieltest. Aber bring mir Blumen und du siehst mich garantiert nie wieder. Wenn du dich vor einer Sache nicht fürchten musst dann die, dass ich mich hier in dich verlieben könnte, so traumhaft dieser Ausflug auch sein wird.«
»Ihr könnt ja doch charmant sein«, schoss Nanouk zurück, kam aber nicht umhin dabei einen merkwürdigen Stich im Herz zu verspüren. »Aber zur Not trage ich von nun an stets einen Strauß Blumen mit mir herum.«
Nauju lachte. »Es können aber gerne platonische Blumen sein«, zwinkerte er ihr zu und Nanouk verzog den Mund.
»Der Tag, an dem ich aus Euch schlau werde, wird einer sein, den ich nicht mehr erlebe. Außerdem kann ich nicht reiten.«
Nauju schnaubte ein Lachen. »Davon bin ich auch nicht ausgegangen. Ich mag zwar einen Narren an dir gefressen haben, aber dumm bin ich nicht.«
Nanouk brummte die Worte des Widerspruchs in sich hinein und Nauju seufzte gespielt aufgebracht. Nauju half ihr auf den Rücken des kräftigen, weißen Rosses und schwang sich dann geübt hinter ihr in den Sattel. Nanouks Hüfte protestierte, als sie ihre Schenkel vorsichtig um die Flanken des Tieres drückte und gegen ihren Willen hüpfte ihr das Herz heftig in der Brust. Das erste und letzte Mal, als sie auf einem Pferd gesessen war, war sie im Inbegriff des Sterbens gewesen. Fiebrig und vom Blutverlust völlig benebelt hatte sie das beunruhigende Gefühl in solch einer Höhe auf einem fremden Lebewesen zu sitzen gar nicht wahrgenommen.
Doch nun sandte ihr jede Verlagerung des Gewichts unter ihr eine unbequeme Anspannung durch die Muskeln und sie biss die Zähne fest zusammen, als ihr Bein mit einem dumpfen Stechen reagierte.
»Entspann dich«, grinste Nauju in ihrem Rücken und griff um sie herum nach den Zügeln, sodass sie zwischen ihm und dem kräftigen Hals des Pferdes eingesperrt war.
»Mhm«, stieß sie angespannt hervor, sich nicht trauend den Mund zu öffnen, aus Angst, dass sie dann womöglich einen äußerst beschämenden Laut von sich geben könnte.
Nauju lachte, als er das Pferd ohne Mühen wenden ließ und direkt in den Nadelwald an der Mauer ritt. Zwischen den Stämmen fiel weniger Schnee, da die dichten Kronen das Treiben der Flocken mit ihren dünnen Armen abfingen.
Die Geräusche um sie herum wurden geschluckt, als läge dem Wald etwas daran vorsichtig zu sein. Als erinnerte sich das Netz aus Licht hinter den Sternen daran, was es war, das durch seine Mitte schnürte. Auf der Suche nach demjenigen, der ihnen die Magie stahl. Als lauschten selbst die stummen Äste und Stämme auf das sanfte Singen ihrer gefallenen Kameraden, sehnten sich nach den Urahnen, die sie früher vielleicht einmal stets unter sich willkommen geheißen hatten. Verzehrten sich nach Sina-was sanftem Gelächter und Ninris liebkosender Umarmung, wenn ihr Dasein zu Ende ging.
Ob die Ewige der Toten über das Ungleichgewicht der Lebenden zu den Sterbenden erbost war?
Nanouks Blick glitt über die frostigen Stämme in dessen schartiger Borke der Schnee von Jahren ruhte und keine Kraft der Welt ihn zu bewegen vermochte.
Wenn die Ewigen nicht irdisch empfinden, warum sind sie dennoch geneigt Mitleid zu zuzulassen? Nanouk schluckte, als sie sich an Naujus Worte erinnerte, die in der seltsamen Dichotomie zwischen Leben und Tod und dem Gefühl derjenigen, die über das Unbelebte herrschte, eine traurige Resonanz fanden. Tat es Ninri Leid um all die Geschöpfe, die durch Gewalt in ihre Obhut übergeben wurden? Verspürte sie Bedauern, dass Nao die Welt der Lebenden in blinder Wut immer dichter an ihr Reich drückte?
»Müssen wir gar nicht Acht geben?«, fragte sie schließlich im Flüsterton und spähte an den schlafenden Tannen vorbei ins Dunkel des Waldes.
»Wenn Saghani ihre Aufgabe erfüllt, dann nicht.«
»Adassett sagt, ein Akhlut treibt sein Unwesen an der Küste. Er hat sich schon einige Male hier hinauf geschlagen«, murmelte Nanouk und versuchte nicht an die Schnitzereien im Langhaus Talliks zu denken.
Die klobigen und dennoch wuchtigen Balken des einzigen Baus aus Stein und Holz diente der Familie des Dorfoberhauptes, war jedoch um so vieles mehr. Man brachte dort die Alten und Kranken unter, weil es weniger zog, als in den Grasodenhäusern und Zelten rundherum und früher einmal hatte die Halle den kosmischen Festlichkeiten als Schauplatz gedient. Auch, wenn das Gelächter, der Tanz und die Rituale längst verdrängt worden waren, blickten die Gestalten der Ewigen und ihrer Boten nach wie vor aus jeder dunklen Ecke hoch oben zwischen dem Giebel und den Stützpfeilern auf sie herab.
»Adassett hat also wieder geplaudert«, drang Naujus amüsierte Stimme dicht hinter ihrem Ohr durch die Kapuze und Nanouk war froh, dass sie diese über ihren Kopf gezogen hatte.
»Hat er wohl«, stimmte sie murmelnd zu und ließ ihren Blick erneut den schmalen Pfad entlang wandern, den sie nahmen. »Wie weit wollt Ihr denn von Wallheim fort?«
»Weit genug weg von ihren Lauschern und Adassetts Blick.«
»Adassett ist hier?«
Nauju lachte abschätzig auf und ließ die Zügel locker, um seine Position im Sattel zu richten. »Er ist überall. Du hast ihn ja bereits an seinem Arbeitsplatz besucht. Damals im Turm. Er dient seiner Garnison an der Mauer als Aussichtspunkt.«
Nanouk schluckte und legte den Kopf in den Nacken, bis sie gegen Naujus Schulter stieß. Sie spähte durch die Baumkronen in den verschleierten, grauen Himmel und fragte sich, ob er auf seiner Jagd stets als Rabe unterwegs war. Ob er sich des Gefieders Tsasevuu'siulliqs bediente, um durch seine scharfen Augen durch den stillen Wald zu spähen. Und was dieser Gedanke in Anbetracht Reikis Form bedeutete. Weshalb war der Rabe seine liebste Gestalt?
»Lass mich raten«, fuhr Nauju nachdenklich fort und schob sein Bein vorsichtig ein Stück nach vorne, bis Nanouk die Wärme seiner Oberschenkel selbst durch den dichten Wintermantel spürte. »Adassett war derjenige, der dir den irrwitzigen Gedanken in den Kopf gesetzt hat, Saghani nach ihrer Leidensgeschichte zu fragen.«
Nanouk schluckte und versuchte die Wärme an ihrem Bein zu ignorieren, während sie gleichzeitig versuche so viel wie möglich davon aufzunehmen. »Er hat lediglich angemerkt, dass sie seinen Kopf auf einem Speer sehen möchte«, wandte sie ein und Nauju schnaubte.
»Da hat er ausnahmsweise auch wirklich Recht.«
»Also?«, drängte ihn Nanouk ein wenig ungeduldig und rieb ihre Hände aneinander. Das Ross unter ihr wankte für ihren Geschmack viel zu sehr, selbst, als Nauju es in einem gemächlichen Schritt hielt. »Weshalb lässt sie Siku in seiner Widerwärtigkeit gewähren? Ihr könnt mir nicht erzählen, dass sie nicht weiß, was er mit der Dienerschaft am Palast anstellt.«
»Nein«, fing Nauju nach einigen Momenten der Stille schließlich an. »Sie weiß sehr wohl über Siku Bescheid. Maha ist schließlich nicht ohne Zweck in seinen Diensten. Doch Adassett ... hat ihr etwas genommen, das sie niemals verzeihen kann.«
Nanouk erwiderte nichts, sondern ließ Naujus Worte einfach in der knisternden Stille an ihre Ohren dringen.
»Sie ist nicht von hier«, fuhr er leise fort, als wären dies Worte, die auch ihm Schwierigkeiten bereiteten, sie auszusprechen. Als hätte er sie seit Ewigkeiten mit sich herumgetragen, sie unzählige Male im Stillen geformt, doch niemals nach außen dringen lassen. »Sie wurde als junges Mädchen an den Hof verkauft und ich habe das erste Mal mit ihr gesprochen, als ich dreizehn war. Es war meine erste Nacht hier oben, fern der Heimat, noch voller Tatendrang und Staunen.«
Nanouk schluckte beklommen und versuchte sich Nauju als dreizehnjährigen Jungen vorzustellen. Mit schwarzem Haar und roten Wangen, die von einer warmen Lebendigkeit erzählten und nicht von einer bleichen Hülle, am Rande des eigenen Ruins.
»Sie ist nicht alleine hier herauf gekommen. Es wird dich überraschen, wie wenige das wirklich tun. Man wird nicht einsam hier geboren. Saghani hat ...« Nauju zögerte erneut, als gäbe es etwas, das ihn selbst an diesem Satz störte, doch verweilte nicht zu lange, als dass Nanouk ihn deswegen fragen konnte.
»Sie hatte einen jüngeren Bruder und eine ältere Schwester. Es wird dich vermutlich ebenso wenig verwundern, dass ihre Schwester in die Prostitution gedrängt wurde, um sich um ihre beiden jüngeren Geschwister kümmern zu können«, fuhr Nauju mit unbeschwerter Stimme fort, hinter der Nanouk jedoch einen Schmerz erkennen konnte, der bloß durch seine Abwesenheit zeichnete.
»Und Eltern?«, fragte Nanouk mit rauer Stimme.
Nauju schnaubte durch die Nase. »Was glaubst du denn? Nicht präsent. Ihre Schwester, Iraighn, war wunderschön. So schön, dass selbst der Sohn des Königs Interesse an ihr gezeigt hat. Und weil er sie so schön fand, wollte er seinem Freund ein Geschenk machen.«
Nanouk hielt die Luft an und schüttelte leicht den Kopf, sodass Nauju erheitert seufzte.
»Es wird dir nicht gefallen, nachdem du erst mit deinem neuen Busenfreund ins Reine gekommen bist, aber doch. Nao fand es auch damals schon als passend, seinem Vertrauten Adassett eine hübsche junge Frau zu seiner Volljährigkeit zu schenken. Selbstverständlich nicht Iraighn, doch glücklicherweise hatte sie eine Schwester.«
»Das klingt ungeheuerlich«, hauchte Nanouk und dachte an die stolze, erbitterte Frau, die stets mit gehobenem Kinn und Selbstsicherheit durch das Leben schritt.
»Oh, es wird noch ungeheuerlicher«, wandte Nauju ein und ließ das Pferd schließlich am Rande einer Lichtung anhalten.
Die Wehrmauer lag hier frei und aus den aufgeworfenen und abgetragenen Stufen aus Stein, welche wie aus einer längst verflossenen Zeit aus dem Forst auf die Lichtung ragten, als hätte sie ein achtloses Kind dort verschüttet, mochte einst eine Quelle hervor gesprudelt sein. Doch das schmale Bachbett war bedeckt von Schnee und die Stille darunter versprach kein Leben.
»Saghanis Bruder war untröstlich, er ertrug es nicht, dass seine beiden Schwestern sich selbst verkauften, damit er essen konnte und deswegen mühte sich die gute Seele damit ab, in die Reihen der Soldaten und schließlich der Palastwachen aufgenommen zu werden. Doch das Geld reichte nicht und Iraighns Geduld ebenso wenig. Sie nahm sich alles, was sie fassen konnte und verschwand. Ließ ihre jüngeren Geschwister zum Sterben zurück, um sich selbst zu retten. Ich persönlich verurteile solch feiges Verhalten keineswegs«, fügte Nauju mit einem Lächeln in der Stimme hinzu. »Aber wem erzähle ich das. Nao hat selbstgerecht nach Saghani gegriffen, denn als Schwester war sie schließlich seiner Iraighn ähnlich genug. Und dann kam Reiki.«
Naujus Griff um die Zügel verstärkte sich, als er das Pferd langsam um die Lichtung führte, unter den Zweigen der Tannen hindurch, bis sie den Quellfelsen umrundet hatten und auf der düsteren Seite der Lichtung zum Stehen kamen.
»Ich konnte nichts für sie tun, verkehrte ich zu dieser Zeit ebenso in den untersten Rängen der Verräter und des Gesinde. Und Nao wurde immer grausamer zu ihr, zu seinem gesamten Hof, bis uns klar wurde, dass Nao irgendwann soweit ginge, Saghani zu töten. Aus Gram, aus Frust, aus Rache, wer weiß es bei seinem umnachteten Gemüt schon zu sagen.« Nauju ließ die Zügel los und saß ab. Das Knirschen seiner Stiefel auf dem Schnee drang keine Mannslänge über die Lichtung, sondern wurde von der mächtigen Gesteinsformation und dem Unterholz geschluckt.
»Es gab einen Ausweg«, erklärte er andächtig und legte dem Ross eine Hand auf den Hals. Es tänzelte ein wenig unruhig auf der Stelle, vielleicht, weil es die Nähe des Abgrundes spürte, der im Norden der Mauer direkt die Klippen hinab ins Meer führte.
»Adassett hatte es bereits vorgemacht und Nao versprach jedem seiner Untertanen, dass er denjenigen eine Sonderstellung zugute kommen ließe, die für ihn auszögen, um die Ersten der Ewigen zu holen und ihm ihre Macht brachten. Sich an ihn zu binden, mit Wort und Leben.«
Nanouk wagte kaum zu atmen, als sie auf Nauju herabblickte und gleichzeitig damit zu kämpfen hatte, alleine auf dem Rücken des kräftigen Pferdes nicht die Nerven zu verlieren.
»Also deswegen hat sie Atashoq'siulliqs Pelz genommen. Um ...« Nanouk vermochte gar nicht es auszusprechen. Und mit einem Mal wurden all die Gespräche zwischen Adassett und ihr um einen Deut dunkler, schwerer. Vorbelastet von tatsächlichen Vergehen gegen Saghanis persönlicher Freiheit.
Du magst zwar die Königin der Huren sein, doch immer noch eine Hure. Vergiss nicht, welchen Preis du gezahlt hast. Das hatte Adassett zu Saghani gesagt, als sie damals die Audienz beim Winterkönig gehabt hatte und Nanouk holte erschrocken Luft.
»Bitte«, meinte Nauju spöttisch. »Erzähl mir nicht, dass du deshalb schockiert bist.«
Nanouk presste die Lippen zusammen und umklammerte den Zwiesel des Sattels mit Vehemenz. Es ist eine Rolle, die er spielt, redete sie sich selbst zu und blinzelte gegen das Brennen auf der Rückseite ihrer Lider an.
»Und ihr Bruder?«, wollte Nanouk schließlich wissen, als Nauju den Kopf in der darauf folgenden Stille abgewandt hatte und gedankenverloren den Hals des Pferdes streichelte.
Nun seufzte er leicht und reichte ihr die Hand. Nanouk ließ sich vom Rücken des Pferdes helfen und richtete sich umständlich an Naujus Schulter auf. »Was machen wir hier?«
Nauju aber nahm sie an der Hand und führte sie ein Stück an dem Felsen entlang, bis sie an eine Stelle kamen, an welcher das Gestein einen leichten Überhang zur Wehrmauer bildete. Vor der Nische blieben sie schließlich stehen.
»Irun wollte nichts mehr, als seiner Schwester helfen«, sprach Nauju schließlich leise und machte einen Schritt in die Nische, die sich bei genauerer Betrachtung als Torbogen herausstellte. Gedrungen und eingesunken war er bloß von diesem einen Winkel zu erkennen und Nanouk schluckte beklommen, als ihr das Herz heftig im Hals schlug.
»Wo ist er jetzt?«
Nauju zog sich den weißen, gefütterten Handschuh von den Fingern und legte seine nackten Finger andächtig auf das frostige Holz des schmalen Tores. »Nao war nicht zufrieden damit, dass sich seine ganz persönliche Kurtisane ihre Freiheit erkauft hat. Doch sie besitzt nun die Macht Atashoq'siulliqs, einen Umstand, den man nicht unterschätzen darf.«
Weshalb Nao sich die Macht der Ersten nicht selbst einverleibte, erschloss sich Nanouk nicht. Doch Nauju warf ihr einen skeptischen Blick über die Schulter zu, als sie danach fragte.
»Stell dir vor, es gäbe wirklich keine Hoffnung, kein erstrebenswertes Zielt, mit welchem er seine Untertanen ködern könnte. Sein Hofstaat wäre um Längen rebellischer. Doch mit der Aussicht auf eine Sonderstellung direkt unter Nao? Weißt du, wie viele reiche Leute adeligen Geblüts jährlich in den Schneisen des Zittergebirges umkommen, weil sie nach den Altären der Ewigen suchen, bestrebt die gleiche Macht wie seine fünf Getreuen zu erlangen?« Nauju ließ seine Hand sinken und rieb die Fingerspitzen aneinander, als er das schmelzende Eis darauf zerrieb.
»Er wirft ihnen dieses Versprechen hin wie ein Fischer seinen Köder auswirft. Oder ein Jäger seine Falle aufstellt.«
»Weil Nao euch alle führt, wie Spielsteine auf dem Brett«, wisperte Nanouk erschlagen und überdachte ihre Feststellung über das Gefüge des Hofes erneut. Sie hatte mit Adassett bereits zu dem Schluss gefunden, dass das rücksichtslose Gerangel nach Bedeutung hier oben bei weitem tiefer verwurzelt war, als die Missetat eines einzelnen Mannes.
»Es ist eine Illusion«, fügte Nauju hinzu. »Diese Freiheit der Sonderstellung. Er öffnet die Türe deines Gefängnisses, lässt jedoch die Kette eng um deinen Knöchel geschlungen. Durch diese Macht bist du Naos persönlicher Sklave und musst dich ähnlich wie Reiki seinem Willen beugen. Andernfalls hetzt er dir selbigen an den Hals. Und diese Freiheit hat Saghanis Bruder das Leben gekostet. Du darfst gerne raten, wie er sein Ende gefunden hat«, bot Nauju ihr mit einem halben, gepeinigten Grinsen an.
Nanouk schüttelte den Kopf und musste sich an der Felswand abstützen, weil ihre Knie anfingen unkontrolliert zu zittern. »Hat er nicht.«
»Oh, doch«, hielt Nauju dagegen und zog sich den Handschuh wieder über. »Adassett hat ihren Bruder gefoltert und hingerichtet, während Nao sie dazu gezwungen hat, es mit an zu sehen. Sie war schlussendlich frei, doch ihr kleiner Bruder musste dafür büßen. Und hätte Nao noch ein wenig Restverstand besessen, dann hätte er bestimmt befohlen nach Iraighn zu suchen, um sie zurück in diesen Albtraum zu schleppen.«
Nanouk sank an dem Fels zu Boden und verkrampfte die Hand über ihrem Herzen. Sie wusste nicht, wie sie beschreiben sollte, was ihr dabei durch den Kopf ging. Ungläubigkeit, Entsetzen und bodenloses Grauen. Sie sank auf die zittrigen Knie, bis ihre Stirn den Boden berührte.
Alleine die Vorstellung dabei zusehen zu müssen, wie ihr kleiner Bruder ohne Vorwarnung aus dem Bett gezerrt werden könnte, um völlig verschlafen und nichtsahnend zu seinem Schafott geschleift zu werden, brach ihr das Herz.
Brach ihr das Herz so gründlich und rücksichtslos, weil sie für dieses Verständnis gar nicht so weit zurück greifen musste. Weil sie sich den Moment nicht vorstellen musste, sondern die schweren Sekunden, ehe der Verstand begriff, was geschehen war, bis in die hintersten Winkel ihres Seins spürte. Du bist Schuld. Angakkuq.
Nanouk vergrub ihre Hände im Schnee und stieß den Atem heftig durch den Mund aus, als sie sich zwang, zur Ruhe zu kommen. Sie musste die Bilder aus ihrem Geist drängen, schaffte es jedoch nicht zur Gänze. Sie hatte mit angesehen, auf welche Weise Adassett die Glücklosen erschlug und ihr waren ähnlich furchterregende Szenen bereits durch den Kopf gegeistert, als sie sich vorstellen musste, wie Inaak und Paali ebenfalls durch Adassetts Schwert ihr Ende fanden. Sie kniff die Augen fest zusammen und atmete durch die blutigen Bilder in ihrem Kopf, schob und drückte sie zurück in die Dunkelheit, zurück auf den Grund des Meeres, wo sie ihr nicht in den Rücken fallen konnten.
Sie verstand Saghanis Hass auf Adassett, war sich feinfühlig bewusst, was sie durchgemacht haben musste und fühlte sich schuldig und schrecklich, weil sie ihr nun schlussendlich ihre Hilfe zu Gunsten Adassetts Plan versagte. Wie konnte sie das tun? Wie konnte sie sich für einen Mörder entscheiden?
Sie fühlte Naujus Hand auf ihrer Kapuze und kurz darauf sank er neben ihr aufs Knie.
»Ich dachte, du könntest Saghani nicht leiden«, sagte er sanft, doch neckisch und Nanouk stieß ein abgehacktes Schluchzen hervor. »Es sollte dich auch gar nicht kümmern. Da gibt es nichts, was du noch tun kannst.«
Nanouk schniefte und wischte sich die kalten Schneeflocken von den Wangen. »Doch«, widersprach sie trotzig, obwohl ihr die Worte nicht einfielen, die in solch einer Situation angebracht wären. »Ich werde etwas tun. Es tut mir Leid. Für sie, für Euch. Für alles.«
»Sag ihr das bloß nicht«, murmelte Nauju seltsam melancholisch und zog sie an der Schulter wieder auf die Beine.
»Und was ist mit Euch?«, fragte sie dann verweint und rieb sich die Tränen von den Wangen, da sie fürchtete, dass sie sich noch auf ihrem Gesicht zu Eis verwandeln könnten.
Nauju klopfte sich den Schnee von der Hose und warf ihr ein hinterlistiges Grinsen zu. »Meine Wenigkeit in dieser Tragödie?« Sie nickte. »Tja, das ist eine Geschichte, die ein wenig mehr Gegenleistung erfordert, um offenbart zu werden.« Er zwinkerte ihr anzüglich zu und durch den beißenden Schmerz dieser aussichtslosen Lage gegenüber, in der Monster zu Menschen wurden, lichtete sich die drückende Stimmung Naujus Erzählung ein wenig von ihrem Gemüt.
»Ihr seid ein Widerling.«
Nauju lächelte zufrieden und das fahle Licht, welches an der Mauer herabfiel, spiegelte sich in seinen hellen Augen. »Bis hier her«, sagte er dann und blickte zurück zur Türe. »Weiter habe ich es nie geschafft. Nachdem ich Saghani begleitet habe, um ihre Freiheit zu erlangen, dabei geholfen habe Atashoq'siulliq in die Falle zu locken, habe ich es nicht mehr gewagt, diesen Ort hier zu verlassen.«
Nanouk betrachtete ihn schweigend. Er war so blass, dass die blaugrauen Schatten des anbrechenden Abends über ihn flossen, wie ein Tuch. Bewegte er sich nicht, so hätte Nanouk ihn kaum von seiner Umgebung unterscheiden können.
»Weil Ihr ein Feigling seid.«
Nauju verkniff sich ein amüsiertes Grinsen und hob eine Schulter, konnte sich aber vom Anblick des kleinen Tores nicht losreißen. Als wäre es wirklich ein unüberwindbares Hindernis, nicht in der materiellen Welt, aber in seinem Verstand.
»War das vor oder nachdem ihr Etamashuk'siulliq getötet habt?«, fragte sie vorsichtig nach.
»Danach«, gestand Nauju zögerlich. »Auch, wenn ich nie gerne in den tiefen Forst an den Hängen des Zittergebirges gegangen bin.«
»Weil Ihr fürchtet, dass Euch die Urahnen aufspüren und zerreißen könnten?«
Naujus Schultern strafften sich unter dem dicken Pelzmantel und er blickte auf seine Hände. »Vielleicht ein wenig. Nanouk«, richtete er sich dann direkt an sie und wandte sich zu ihr um.
Er sah aus, als läge ihm etwas auf dem Herzen, sein Gesichtsausdruck war verzerrt von einer sehnsüchtigen Pein, ob der Worte, die er formen wollte, oder der Unfähigkeit zu formulieren, was ihn drängte loszuwerden.
»Es hat mich nie gestört«, setzte er dann an und biss die Kiefer fest zusammen, als koste ihn jedes Wort eine ungeahnte Kraft, die er nicht besaß. Nicht mehr, vielleicht. Vielleicht hatte er diese Kraft damals zurückgelassen, als er hinter die Sterne geblickt hatte.
»Es hat mich nie gestört, als Feigling bezeichnet zu werden«, führte er stockend aus und dann kamen die Worte schnell und undeutlich, als hätte er Angst, sie nicht alle durch den Riss in seinem Schutzwall schieben zu können, ehe sich die Dunkelheit wieder vollständig um ihn zusammen zog.
»Aber bei dir? Bei dir habe ich das Gefühl, dass ich mich deshalb schämen müsste. Als zählte dein Urteil mehr als mein eigenes, mehr als das Saghanis oder das Etamashuks.«
Er blickte auf seine Hände hinab, als malte er sich aus, das Blut auf ihnen zu erkennen, welches ihm aus der tödlichen Wunde der mächtigen Möwe entgegenstürzte.
»Und ich weiß, in einer anderen Welt, in der Welt davor hätte mich diese Erkenntnis wütend gemacht, trotzig und vielleicht auch ein wenig aufsässig, doch in dieser Welt, in der Welt danach kann ich nicht weniger als Nichts deswegen empfinden.«
Er holte einmal kurz Luft und begegnete ihrem Blick. Sie sagte nichts, völlig unvorbereitet hatte sie dieses gequälte Geständnis getroffen und so zog sich die Stille zwischen ihnen und dem lauschenden Wald dahin.
»Du musst nichts darauf antworten«, sagte Nauju schließlich und ballte seine Hände schwach zu Fäusten, als versuchte er sie gegen die Kälte zu wärmen. Oder die Erinnerung abzuschütteln, welche ihn plagte. »Ich erwarte es auch gar nicht. Bloß ... wir sollten umkehren«, murmelte er schließlich und schüttelte unzufrieden den Kopf.
»Nauju ...«
»Ehe der Akhlut wiederkehrt«, grinste er schief und ging zum Pferd hinüber, welches unruhig auf der Stelle tänzelte und weiße Atemwolken in die Luft schnaubte.
Nanouk blickte ihn schweigend an, wusste, dass sie etwas sagen musste und ein es ist in Ordnung, legte sich ihr beinahe wie von selbst auf die Zunge, doch sie sprach es nicht aus. Denn nichts hier oben war in Ordnung.
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Sie schwieg auch auf dem Weg zurück zu Wallheims Ställen, fand die Worte nicht, die ihr selbst auf dem Herzen lagen und so versuchte sie Nauju wissen zu lassen, dass sie ihn nicht auf die Art und Weise verurteilte, die er vermutete. Sie ließ sich vorsichtig gegen ihn sinken und Nauju kommentierte diese Nähe mit keinem spöttischen Kommentar noch ließ er zu, dass sie erriet, was ihm möglicherweise dabei durch den Kopf ging.
Doch es fühlte sich tröstlich an, seine Wärme an ihrem Rücken zu spüren und vielleicht hüpfte ihr das Herz ein wenig zu stark in den Hals, wann immer sie seinen Atem dicht an ihrem Ohr vernahm.
Auch, als Nauju ihr Bein behandelte und ihr anschließend einige Dehnübungen zeigte, die ihr helfen sollten, die gewohnte Geschmeidigkeit ihrer Muskeln zurück zu erlangen, damit Ischka nicht andauernd Gründe fand, Nanouk zurecht zu weisen, sprachen sie nicht über den Moment an der Mauer.
Doch Nanouk erblickte Saghani nun mit neuen Augen. Sie wusste nicht, was sie sich vorgestellt haben könnte, weswegen die Herrin Wallheims so darum bemüht war, dieses Refugium zu erschaffen, doch die Anmerkung Naujus ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Selbst, als sie bei Ischka lernte, mit Maha über die Kunst des Verschwindens und Untergehens sprach und von Inja hasserfüllte Blicke und zuckersüßes Lächeln erhielt, ließ es sie nicht mehr los.
Niemand wird hier einsam geboren. Aber sie wurden allesamt in die Einsamkeit gestoßen und von ihr schlussendlich auf die Knie gezwungen. Adassett in seiner blutrünstigen Isolation, Nauju in seinem selbst auferlegten Gefängnis und Saghani in ihrem absurden Drang dem entgegen zu wirken, gerade weil diese Einsamkeit ihre Dornen tief in ihre Seele geschlagen hatte.
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