⫷ Kapitel 37: Willkommener Rufmord ⫸

Adassett setzte sie in seinem Gemach ab und verschloss die schmale Türe fest hinter ihnen. Es blieb still, als Nanouk einige Schritte vor ihm zurück wich und Adassett sich bloß mit dem Rücken gegen die Türe lehnte. Er sah so erschöpft aus, wie Nanouk sich fühlte.

Adassett zog sich den Federmantel von den Schultern und warf ihn auf sein zerwühltes Bett, holte tief Luft und schloss die Augen. Sein Kopf sank nach hinten gegen die Türe und Nanouk fragte sich, wie viel Mühe es ihn kostete seinem Mantel nicht auf das Bett zu folgen. Er hob den Arm und deutete darauf.

»Du wolltest wissen, weshalb wir durch die Welt der Geister schreiten konnten.« Er ließ seinen Arm sinken und rieb sich stattdessen die Narbe unter seinen Augen. »Es ist nicht gänzlich die Macht Tsasevuus, welche das ermöglicht. Es gibt mehrere Wege, die hinter die Sterne führen, doch du hast Recht. In die Hülle eines Advokaten gekleidet, gelingt es einfacher. Wir sind mit unseren irdischen Körpern eingetreten, etwas, das ... nicht üblich und noch weniger respektvoll ist.«

Nanouk beäugte den Hünen schweigend, als sie versuchte, sein Verhalten neu einzuordnen. Wenn er weiter so zwischen seinen Persönlichkeiten sprang, bekäme sie Schleudertrauma. Zumal sie sich immer noch nicht zur Gänze sicher war, wie ehrlich Adassett war.

»Warum habt Ihr es getan?«, wollte sie leise wissen.

Adassett öffnete ein Auge und hob gleichzeitig seine Augenbraue, als er ihr verschmitzt zulächelte. »Du kannst es nicht lassen.«

Nanouk legte den Kopf schief, ehe sie merkte, dass sie ihn erneut gesiezt hatte und kniff dann ihre Lippen zu einem unzufriedenen Strich zusammen. »Es ist schwer zu vergessen, was Ihr getan habt.«

Daraufhin rieb sich Adassett mit beiden Händen über das Gesicht und fuhr sich durch die Haare. »Dann hilf mir, es dir einfacher zu machen.«

Nanouk verschränkte die Arme vor der Brust. »Letztes Mal habt Ihr gesagt, es ist Euch egal, was ich Saghani erzähle. Was, wenn ich ihr davon erzähle, wie Ihr wirklich seid? Dass Ihr Euer gesamtes Wesen hier als Lüge verkauft. Oder bloß so tut.«

Adassett stieß sich von der Türe ab und ging an ihr vorbei hinüber zum niedrigen Tisch, auf dem ein bedecktes Silbertablett stand. »Sie würde dir nicht glauben, das steht fest«, überlegte er und deutete auf das Liegesofa. »Setz dich und iss etwas. Du hast den gesamten Abend nichts angerührt.«

Nanouk zwang sich ihre verschränkten Arme zu lösen und die Anspannung aus ihren Gliedern zu zwingen. »Warum gibt es überhaupt ... den anderen?«, fragte sie und ließ sich zögerlich auf dem Liegesofa nieder.

Adassett warf ihr einen Blick durch seine Haare hindurch zu, ehe er ihr das Tablett hin schob. »Es ist nicht einfach, wenn du das meinst.«

»Das meinte ich aber nicht«, sagte sie fest.

Ihre Blicke trafen sich und Adassett sah sie herausfordernd an. »Dann spezifiziere deine Frage.«

Nanouk knirschte mit den Zähnen und sah hinunter auf das Tablett. Auch, wenn der Eintopf nicht mehr heiß war, spürte sie alleine bei dem herrlichen Duft nach würzigem Gemüse und gekochtem Fleisch, wie ihr Magen schmerzhaft knurrte.

»Du hast gesagt«, fing sie angestrengt an, »du lässt einige wenige leiden, damit mehr überleben. Du hättest einem Jungen beinahe die Kehle durchgeschnitten und mir beinahe das Handgelenk gebrochen. Man erzählt sich fürchterliches über Euch. Man unterstellt Euch Sadismus und Kinderschändung.«

Sie brach ab, weil sich ihr die Kehle so stark zuschnürte, dass ihr das Luft holen schwer fiel. Diese Worte auszusprechen machten die Taten dahinter auf einen Schlag allgegenwärtig. »Wer sagt, dass diese Geschichten nicht der Wirklichkeit entsprechen?«, fügte sie verbissen hinzu, als Adassett sie reglos musterte.

Er sah nicht weg, als sie ihm diese Dinge vorwarf und brach auch jetzt nicht den Blickkontakt, als Nanouk die Lippen zusammen presste, damit er nicht merkte, wie sehr sie zitterten.

»Diese Geschichten sind auch zum Großteil wahr. Du hast selbst gesehen, wozu ich fähig bin.«

Nanouk biss die Zähne fest zusammen, obwohl Adassetts Worte weniger nach hochmütiger Arroganz, sondern mehr nach bitterem Eingeständnis klangen.

»Aber ich habe noch nie Freude dabei empfunden jemandem weh zu tun, noch habe ich je ein Kind missbraucht«, sagte er schließlich und schluckte schwer. »Es gab eine Zeit, in der ich mir eingeredet habe, dass es sein muss, wenn ich diese Rolle ausfüllen möchte, aber ich habe es nicht fertig gebracht. Nenn es meinetwegen Tugendhaftigkeit, Schwäche oder Mitleid.«

Nanouk hob den Blick. »War das nachdem, oder bevor Nao dich zu seinem Henker ernannt hat?«

Auf Adassetts Gesicht erschien ein kaltes Lächeln und er ballte seine linke Hand auf der Lehne des gegenüberliegenden Stuhls fest zur Faust. »Danach. Wenn du es genau wissen willst, dann habe ich Naos Befehle drei Jahre lang blind befolgt. In der verrückten Annahme, dass es der einzige Weg sei zu überleben. So zu tun, als hätte ich keine andere Wahl war der einzige Weg meine vergangenen Verbrechen zu erdulden.«

Nanouk versuchte nicht an Itams teilnahmsloses Gesicht zu denken. »Und dann? Dann habt Ihr bemerkt, dass Ihr Euch daneben benommen habt und schlagartig die Seiten gewechselt?« Sie konnte den bitteren Vorwurf nicht zur Gänze aus ihrer Stimme tilgen.

Adassett dehnte die Finger seiner linken Hand ehe er sich aufgebracht durch die Haare fuhr. »Nein. Nein, so einfach war das alles nicht. Aber ein weiser Mann hat einmal gesagt; Schuld lässt sich nicht begraben. Sie ist es, die begräbt. Und meine Schuld war so erdrückend, dass ich verlernt habe zu sehen, was dahinter liegt. Ich kann nicht zurück nehmen, was ich damals getan habe, aber ich kann die Furcht nutzen, die ich erschaffen habe. Hier oben gefürchtet zu werden, ist weitaus dienlicher, als geliebt zu werden. Niemand brüskiert denjenigen, der wöchentlich Köpfe rollen lässt. Und in dieser bitter erstandenen Einsamkeit kann ich gemeinsam mit meinen Männern agieren, ohne belangt zu werden.«

Nanouk sagte nichts darauf und fing vorsichtig an zu essen, obwohl ihr trotz des herrlichen Dufts nicht nach Essen zumute war.

»Nao mag zwar mächtig sein und Reiki befehligen«, fuhr Adassett ruhiger fort, »doch er ist blind gegenüber allem, was er nicht erwartet. Und damit er nicht erwartet, was ich gedenke zu tun, muss ich ihm geben, was er sich wünscht.«

»Es klingt nach einer Ausrede«, sagte Nanouk leise.

»Und das bedeutet, dass es wirkt. Ich werfe dir nicht vor, dass du mich verabscheust, schließlich habe ich nichts getan, damit du dir eine bessere Meinung von mir bildest.«

Nanouk schlug die Augen nieder, als sie versucht war, ihm zu widersprechen. Er hatte ihr heute eine andere Seite gezeigt, die zwar hart, aber ehrlich war. Kompromissbereit. Verstörend einsichtig und im Gegensatz zu den brutalen Hinrichtungen, beinahe sanft. Und dann wiederum krochen ihr seine höhnischen Bemerkungen durch den Geist und sein schmerzhafter Griff sandte ihr eine Gänsehaut über die Arme. Er tötete Menschen.

»Man erzählt sich, Ihr wärt furchtbar zu den Frauen. Selbst, wenn Ihr mir gegenüber nicht nach außen kehrt, was Nao und der Rest des Hofes von Euch erwarten.«

Adassett ruckte mit dem Kopf und biss die Zähne fest zusammen, ehe er die Hände beschwichtigend hob. »Das kann ich nicht abstreiten. Doch ich mache es nicht aus Freude heraus. Und eine Menge Alkohol und Furcht reichen aus, um die meisten Begegnungen zu beeinflussen, ohne, dass ich-«, er brach ab und Nanouk ließ den Löffel in den kleinen Silbertopf sinken.

»Dass du?«

Adassett schüttelte den Kopf. »Dass ich handgreiflich werden muss. Ich halte mich fern von Saghanis Huren, genau aus diesem Grund. Ihnen müsste ich mehr Leid zufügen, um Saghani von mir fernzuhalten. Bitte«, sagte er fest, als er merkte, dass Nanouk den Mund zu einer weiteren Frage öffnete, »gib mir bitte etwas Zeit diese Dinge zu ordnen. Darf ich dir dennoch meine Frage stellen?«

Nanouk blinzelte verdutzt, als Adassett sichtlich um Fassung rang. »In Ordnung«, sagte sie daher vorsichtig.

Adassett nickte. »Vornweg ... dieses Zimmer ist ebenfalls mit einem pijjari versehen. So widersprüchlich es auch klingt, ist es wohl der sicherste Raum im gesamten Palast.«

»Neben Anuris Turm«, fügte Nanouk mit einem Schaudern hinzu und Adassett nickte.

»Du kannst daher frei sprechen, ohne, dass irgendein Geist lauschen kann.«

»Ich dachte, sie schützen nur vor bösen Geistern«, wandte Nanouk ein.

»Anuri hat mir geholfen dieses hier anzufertigen«, erklärte Adassett und stand auf. »Es wirkt ein wenig anders, als ihr eigenes. Während das pijjari an der Türe in ihrem Blut geschrieben wurde und den gesamten Turm einschließt, ist dieses hier«, er ging zu einem der schweren Wandteppiche und schob ihn beiseite, »nur auf der spirituellen Ebene wirksam, wenn es meine Gegenwart spürt.«

Nanouk wandte sich um und erkannte eine in dunklem Blut an die Wand geschriebene Glyphe, die ungefähr so groß war wie Adassetts Hand. »Woher hast du dieses Wissen?«, fragte sie zaghaft.

»Es gab in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, eine angakkuq. Sie hat zwar zurückgezogen gelebt, doch haben meine Freunde und ich oft in dem Hain gespielt, in dem sie ihre Hütte hatte.«

Nanouk legte neugierig den Kopf schief, als sie langsam aber doch die Anspannung ihm und diesem fürchterlichen Wort gegenüber ablegte. Ihr Verstand warnte sie davor, nachlässig zu werden und anstatt seinen ausschweifenden Erzählungen zu lauschen, auf der Hut bleiben sollte.

»Wo kommst du her?«

Adassett, der bis eben noch ein halbes Lächeln auf dem Gesicht getragen hatte, wurde schlagartig ernst und ließ den Wandteppich zurück gleiten. »Das ist bedeutungslos. Viel wichtiger ist, dass du weißt, dass ganz gleich, welche Antwort du auf meine Frage gibst, nichts diesen Raum verlassen wird.«

Nanouk schluckte nun doch wieder ein wenig beunruhigt und beobachtete Adassett, als er sich wieder hinsetzte.

»Du hast vor unserem Besuch bei den Dienstbotenquartieren behauptet, ich wäre in der Lage Nao ein Ende zu bereiten.«

Nanouk hielt erschrocken die Luft an.

»Meine Frage ist daher, wie ernst du zu dieser Aussage stehst. Wen gilt es zu bestrafen für das, was hier geschieht?«

Nanouk wurde sehr still, als sie reglos auf dem Liegesofa saß und nicht verhindern konnte, dass ihre Augen hinüber zu dem Wandteppich glitten. Sie hatte diese Aussage im Rahmen Adassetts merkwürdiger Verwundbarkeit geäußert, doch war sie nicht darauf vorbereitet, dass gerade Adassett, Naos Hauptmann, Henker und Schuldeneintreiber darauf zurück kommen würde.

Ihr wurde langsam warm und dann heiß, als sich in ihrem Kopf hunderte Szenarien zusammenbrauten, die ihren Untergang einläuteten.

Als Adassett merkte, dass Nanouk nicht antworten würde, führte er seine eigenen Gedanken fort. »Diejenigen, die tatenlos zusehen? Denjenigen, der ihnen befielt zuzusehen, wenn sie leben wollen? Den Freund, der seinem Wort erlegen ist und Blut in Bächen vergießt oder denjenigen, der das Schwert aufnehmen muss, wenn er das größere Leid damit verhindern kann?«

Nanouk schloss die Augen und schüttelte sanft den Kopf. Es gab hier oben nichts Gutes. Ganz gleich, wohin man blickte, hinter jeder Ecke versteckte sich bloß der nächste Schrecken in Form eines mutterlosen Kindes, eines geknechteten Liebenden oder eines erbarmungslosen Märtyrers. Es ging hier nicht darum, wie man das Leid verhinderte, sondern bloß darum, durch welches Leid man sein Ende finden wollte.

Nanouk fand sich wie damals im Zittergebirge einer entscheidungslosen Wahl ausgesetzt. Sie fühlte sich erneut vor vollendete Tatsachen gestellt und mit der Illusion eines freien Willens verhöhnt. Sie mochte hier oben einen, zwei oder viele, hunderte, wenn nicht sogar den Adel samt und sonders umbringen, es würde auf das Machtgefüge keinerlei Einfluss nehmen. Sie mochten vielleicht in der Lage sein, Nao zu töten, doch versprach das keine Erlösung.

»Jeder dieser Angeklagten trägt Mitschuld«, sagte sie leise. Es wäre zu einfach einem einzigen Mann die Schuld zuzuschieben. Das hatte sie vielleicht damals als Kind getan, doch mittlerweile erkannte sie die Kurzsichtigkeit dieses Gefühls.

Hier oben herrschte kein König, sondern ein System der rücksichtslosen Ausbeutung. War das Kultivieren solcher Schandtaten nicht das eigentliche Problem? Und der Winterkönig mochte durch die Magie der Urahnen nebst Reiki eine ungeheure Macht erlangen, doch konnte sich Nanouk nicht vorstellen, dass es keine Gewalt der Welt geben sollte, diese Macht zu brechen.

Trug Adassett nicht die meiste Schuld? Müsste er nicht seinen eigenen Tod in Kauf nehmen, anstatt in fälschlich überzeugter Großmütigkeit das Leiden der wenigen zu Gunsten der vielen zu beschränken? Aber dabei war es doch vollkommen egal, wer diese Menschen erschlug, sie starben so oder so.

Sie dachte zurück an das, was Kamu damals im Wallturm über den Akhlut gesagt hatte, über den Rachedurst derjeniger, denen Unrecht angetan wurde und fragte sich, wen der Akhlut zwischen seinen mächtigen Walkiefern zermalmen wollte. Adassett oder Ijiraq? Nao oder jeden seiner Getreuen?

Sie dachte zurück an das, was Nauju ihr erzählt hatte. Dass sich Reiki, Nao und Adassett einst sehr nahe gestanden waren. Vielleicht, aber nur vielleicht, nahm Adassett diese Grausamkeiten auf sich, weil er dadurch jemand anderen in Schutz zu nehmen versuchte, der ihm am Herzen lag. Denn Liebe war eine mächtige Geißel.

Sie fragte sich auch, was wohl geschehen würde, wenn man Nao tötete, ob der Palast zu Grunde ginge, oder ob nicht einfach das nächste Monster den Thron bestieg. Ob Siku wohl die Macht ergriff und seine Vorstellung eines Königreiches auslebte. Noch mehr Kinder verkaufte oder selbst missbrauchte. Nanouks Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als sie voller Furcht an Inaak und Paali dachte, die hier verweilen mussten, weil sie keinen Ausweg fand.

»Ich denke«, fing Nanouk schließlich zögerlich an und stellte den Silbertopf zurück auf den Tisch, um ihre Hände stattdessen in die weiten Ärmel des Pelzmantels zu ziehen. »Ich fürchte«, verbesserte sie sich, »dass es keinen Unterschied macht, ob Nao lebt oder stirbt. Es ist die gesamte Hierarchie, angefangen bei seinen Vertrauten, doch eingeschlossen aller Fürsten und dem Adel, der hier hinauf zieht, um sich bespaßen zu lassen. Selbst wenn jemand bestraft wird ... was verbietet dem nächsten das gleiche zu tun? Ijiraq wurde bereits einmal gebannt, wer sagt, dass es nicht wieder gelingt?«

Adassett begegnete ihrem Blick aufmerksam. »Reiki hat sich binden lassen. Weil es der einzige Weg war.«

Das gleiche hatte Ijiraq auf dem Fest ebenfalls gesagt. »Warum?«

Daraufhin huschte ein dunkler Ausdruck über Adassetts Gesicht. »Vor zehn Jahren fiel etwas aus der Welt hinter den Sternen zu uns auf die Erde«, fing er langsam an zu erklären. »Es zeigte sich nicht in einer Gestalt, die wir erkennen können, es war viel mehr ein Hauch kalten Windes im Frühling, eine Stille dort, wo einst Leben war.«

Nanouk starrte Adassett wie gebannt an, als ihr ein anderes Gespräch einfiel. Jenes, welches sie mit Nauju geführt hatte. Vom Schwinden des Frühlings, dass Reiki die Altäre zerstört und ihrer aller Untergang besiegelt hatte.

»Reiki machte uns darauf aufmerksam. Er hat es versucht aufzuhalten, bis wir es verstehen konnten. Und weil diese Dunkelheit frei durch die Wälder streifte, auf der Suche nach etwas, banden wir sie an das Leben eines Sterblichen. Sperrten sie ein, um den Verfall der irdischen Welt aufzuhalten.«

Nanouk ahnte, worauf diese Geschichte hinauslief und schüttelte ungläubig den Kopf. Adassett nickte grimmig.

»Doch, genau das ist geschehen. Naos Vater war zu schwach, also stellte sich sein Sohn bereit, diese Bürde zu übernehmen. Aber du siehst, dass wir gescheitert sind. Es war meine Aufgabe gewesen, ihn zu schützen.«

Adassett musste es nicht aussprechen, denn das Verfehlen seiner Pflicht zeichnete sich in seinen zusammen gesunkenen Schultern ab, in der zerknirschten Tonlage und dem Blick voll Reue. Nanouk mochte nicht zur Gänze verstehen, was es war, das in Nao hauste, doch sie verstand das Versäumen einer Pflicht, welche zum Tod anderer führte, um so besser.

Sie senkte den Blick und zupfte an den weichen Fellbüscheln der Mantelärmel herum. »Also habt ihr die Dunkelheit in Naos Körper gebannt. Warum verwittert die Welt, warum schwindet die Magie dennoch?« Ihre Stimme klang flehender, als sie es sich wünschte, doch konnte die Verzweiflung nicht unterdrücken.

»Weil Reiki die Wege in die Welt hinter den Sternen versiegelt hat.« Also hatte Nauju Recht gehabt. »Die Dunkelheit hat mehr und mehr Macht aus den Geistern gezogen und wurde immer stärker. Nao ...«, Adassett unterbrach sich und schüttelte den Kopf. »Er ist nicht mehr er selbst, auch wenn da immer noch ein Rest seines Verstandes vorhanden ist.«

Vorhanden sein müsste, besserte Nanouk seine Aussage im Stillen aus. Er wünscht es sich mehr, als er darf. Denn wer Nao einst gewesen sein mochte, war lange, lange fort.

»Und Reiki hat all seine Freiheit verloren, als ihn die Dunkelheit in Nao unwiderruflich gebunden hat.« Er stand wieder auf und nahm den Federmantel vom Bett. Er betrachtete ihn für einen Moment, ehe er ihn über die Stuhllehne hängte. »Und deswegen frage ich dich, was du bereit bist zu tun.«

Nanouk blickte ihn durch das Zimmer hindurch an. Wenn sie das richtig verstanden hatte, dann mochte Naos Schreckensherrschaft zwar irdische Symptome haben, doch ätherische Ursachen. Man konnte es aufhalten, wenn man diese beiden Welten voneinander trennte. Sie auseinander löste und entfädelte wie eine misslungene Stickarbeit. Wie Gift aus dem Blute oder zwei verkeilte Karibugeweihe auseinander, damit sie beide weiter leben konnten.

»Eine Wunde, in der ein tiefer Splitter steckt, wird niemals heilen«, sagte sie dann aber leise und beinahe atemlos aufgrund der Worte, die sich ihr nun aufdrängten.

»Und meinst du, dass dieser Splitter entfernt werden muss?«, hakte Adassett mit ruhiger, tiefer Stimme nach, als würde er nicht soeben Königsmord in Betracht ziehen.

Nanouk schluckte und fühlte sich unter seinem abwartenden Blick seltsam ausgeliefert. Als gäbe es keine Möglichkeit mehr, sich vor der Wahrheit zu verstecken. Als hätte er nicht Tsasevuus Macht über Licht und Schatten erlangt, sondern direkt in Irinjoks unbarmherzige Seele geblickt und ihm sämtliche Wahrheiten entrissen.

»Andernfalls kann die Wunde nicht heilen«, flüsterte Nanouk schließlich.

»Und jetzt verstehst du auch, weshalb ich in dieser Hinsicht deine Verschwiegenheit brauche«, erklärte Adassett weiter.

»Damit du weiterhin im Rahmen dessen erscheinst, was Nao sich erwartet. Was sich Saghani erwartet.«

Nanouk rieb sich die Augen. Was sollte sie denn nun machen? Saghani wollte, dass sie Adassett untergrub, einen Weg fand, um ihn zu beseitigen, weil sie der durchaus berechtigten Überzeugung war, dass er ein fürchterliches, gewissenloses Monster war. Und Adassett unterbreitete ihr soeben ein Vorhaben, welches darauf setzte, dass sie nichts an Saghani weitergab.

Sie vergrub das Gesicht in den Händen und versuchte sich zu sammeln. Die Müdigkeit zerrte an ihren Gliedern und war versucht ihr den Verstand zu rauben. Adassett hatte zwar gesagt, es wäre ihm einerlei, was sie Saghani erzählte, dass sie ihr auch nicht glaubte, wenn Nanouk die Wahrheit sprach und dennoch eröffnete das die tückischen Untiefen der Geheimniskrämerei. Sie durfte Saghanis Gunst nicht verlieren und wenn sie Adassett helfen wollte, dann musste sie in dem selben Rahmen agieren, in den er sich selbst zwang. Ihr kam ein unheilvoller Gedanke, langsam und schleichend.

»Was willst du also von mir?«, fragte sie und nahm die Hände vom Gesicht, um seinen Ausdruck zu studieren.

»Saghani wird dich in zwei Wochen an Nao übergeben.«

Nanouk schüttelte langsam den Kopf, während Adassett nickte. »Und diese Gelegenheit gab es seit Jahren nicht mehr.«

»Was ist mit Reiki? Niemand kommt an ihm vorbei.«

Adassett ließ ein trauriges Lächeln sehen. »Niemand kommt an ihm vorbei, das stimmt. Doch wenn er abgelenkt ist, gibt es ein Zeitfenster. Und dann musst du Nao umbringen.«

Nanouk starrte ihn ungläubig an, unfähig etwas zu sagen. Selbst anhand der Thematik, die sie bis eben noch zwischen den Zeilen besprochen hatte, hätte Nanouk nicht erwartet, dass Adassett es so direkt ansprach. Er stand auf und fing an auf und ab zu gehen.

»Ich?«, brachte sie schließlich krächzend hervor. »Wie soll ich-«

»Dein Sinn für Gerechtigkeit ist stärker als die Furcht vor dem Tod«, unterbrach Adassett sie sofort und blieb mit verschränkten Armen stehen. »Oder aus welchem Grund hast du dich in Aalsung ohne Rücksicht auf Verluste meinen Männern gestellt?«

Nanouk schluckte schwer und ihr Blick fiel auf seine kräftigen Hände. »Nachdem, was ich alles über dich gehört habe, hätte meine Furcht vor dem Tod größer sein müssen. Warum sollte ich mich einem Monster, welches die Macht der Ewigen frisst eher in den Weg stellen können, als dir?«

Adassett blickte auf seine verschränkten Arme. »Du wirst als Hure zu ihm gehen und damit näher an ihn herankommen, als irgendeiner sonst.«

Nanouk spannte sich an und zog den Kopf zwischen die Schultern, bis der weiche Pelzkragen ihre Nase kitzelte. »Der Winterkönig nimmt sich nie Gesellschaft?« Es war ein prekäres Thema, vor allem, weil sie selbst in dieser Hinsicht ihre Beziehung zu Nauju schützen musste.

»Nein«, sagte Adassett zögerlich. »Nicht mehr freiwillig. Gelegentlich schickt Saghani ihm Huren. Ich will dich nicht verunsichern, doch anlügen möchte ich dich ebenso wenig. Diese Frauen kommen nicht zu ihr zurück.«

Nanouk nickte. »Verstehe.«

»Du musst mir nicht sofort antworten«, führte Adassett schließlich fort und rieb sich die Augen. »Es ist spät und ich bin mir bewusst, dass diese Entscheidung Zeit erfordert, um getroffen zu werden.«

»Die haben wir aber nicht«, hielt Nanouk leise dagegen und vergrub sich noch ein Stück tiefer in den Mantel.

»Nein, die haben wir nicht«, stimmte Adassett zu. »Ohne dich werden wir es anders versuchen. Doch diesen Plan kann ich dir nicht erläutern. Zumindest noch nicht.«

Nanouk nickte und rieb sich erschöpft über das Gesicht. Ungeheuerlich reichte nicht einmal ansatzweise, um zu beschreiben, was der Abend für sie bereit gehalten hatte.

»Danke«, sagte sie schließlich und Adassett hob skeptisch eine Augenbraue.

»Wofür? Dass ich dich einen Mord begehen lassen will? Dass ich dich zu Anuri geschleppt habe und dein Handgelenk beinahe gebrochen hätte?«

»Nein«, sagte Nanouk langsam und strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Dass du dein Versprechen gehalten hast. Alles andere ... kann ich im Moment nicht mehr betrachten.«

Adassett löste seine verschränkten Arme und nickte mit gerunzelter Stirn. »Danke, dass du mir die Möglichkeit gegeben hast mich zu erklären. Wenn du dich waschen willst«, fügte er hinzu, als Nanouk langsam auf die Beine kam, »kannst du das tun.«

Nanouk hielt inne und nickte. Adassett ließ sie in den Badesaal treten und Nanouk schloss die Türe hinter sich. Er ähnelte den Badesälen in Wallheim, auch wenn er nicht gar so imposant gebaut worden war. Die holzvertäfelten Wände hielten die meiste Kälte draußen und dicke Teppiche bedeckten den Steinboden. Nanouk erkannte neben der flachen Wanne aus Stein einen goldbeschlagenen Stuhl und fragte sich, warum es an diesem Hof in jedem Zimmer solch mannigfaltige Sitzgelegenheiten gab. Als könnten die Adeligen gar nicht genug davon bekommen. Mit einem Blick zur verschlossenen Türe, entschied sie sich den Stuhl vor diese zu ziehen, nur zur Sicherheit.

Nanouk knöpfte den Wintermantel auf und ließ ihn zu Boden sinken. Sie blickte an sich herab und erkannte den Blutfleck von Itams Hand und dann bemerkte sie auch das getrocknete Blut auf ihrer Haut. Für einen Moment kam all die Panik und Angst zurück, drängte sich ihr auf wie ein Sturm, als sie die roten Handabdrücke Adassetts auf ihrem Körper erblickte. Dass dies weder sein noch ihr Blut war und für einen Moment musste sie sich an den Beckenrand stützen, als ihr schwarz vor Augen wurde.

Nicht nach allem, was passiert ist, beschwor sie sich selbst und schnappte nach Luft. Sie hatte den gesamten Abend überstanden, dann würde sie auch die Nacht überstehen. Sie wusch sich rasch das Blut von der Haut und versuchte nicht zu tief einzuatmen.

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Zurück in Adassetts Schlafgemach erblickte sie Adassett an dem Schreibtisch sitzen. Sie trat so leise wie möglich näher, um zu erkennen, was er dort tat, doch Adassett musste ein Gehör wie ein Luchs haben, denn alsbald sie auch nur einen Schritt machte, blickte er von seiner Arbeit auf.

»Wo darf ich schlafen?«, fragte sie rasch und räusperte sich unbehaglich.

Adassetts Blick huschte über ihre Erscheinung und dann zurück auf seine Arbeit. »Such es dir aus, du kannst gerne-«

»Ich werde nicht das Bett nehmen«, unterbrach sie ihn leise doch energisch und Adassett nickte bloß.

»Nimm dir, was du brauchst.«

Nanouk drückte den Wintermantel fest gegen ihre Brust, ehe sie sich einen der bestickten und mit Kordeln verzierten Polster nahm und sich auf dem Liegesofa im Empfangsraum in den Mantel gehüllt ausstreckte. Sie hätte vielleicht wirklich eine Möglichkeit Nao auszuschalten, ihm dieses blutige, siegessichere Grinsen vom Gesicht zu schälen und während sie die Vorstellung daran, einen Menschen zu töten, aufwühlte und beunruhigte, nahm dieser Gedanke eine tröstliche Gestalt an, als sie daran dachte, was es war, wozu sie auserkoren war.

Sie mochte ihrem Schicksal nicht entkommen, doch sie konnte es aus einer anderen Richtung bezwingen und selbst bestimmen, wie dieses mit ihr verfahren durfte. Sie konnte die Kontrolle zurück erlangen und das Ruder wenden.


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