⫷ Kapitel 34: Ein gehaltenes Versprechen ⫸
Adassett hätte aufgrund jedes ihrer Worte bereits mit Gewalt reagieren müssen. So war sie ihm begegnet, damals in Aalsung, als er zuerst beinahe ihr Handgelenk gebrochen und anschließend einem kleinen Jungen fast die Kehle vor einer Schar Kinder aufgeschlitzt hatte. So war sie ihm begegnet, vor nicht einmal einer Stunde in der grausamen Arena des Schlachthofs, den Nao einen Palast nannte.
Dennoch stand sein Henker nun vor ihr und sah verlorener aus, als sie sich fühlte. Die unheimlich perfekt sitzende Maske war von seinen haselnussfarbenen Augen geglitten und bot Nanouk das erste Mal einen Blick hinter die Fassade, die er sogar noch gekonnter aufrecht erhielt, als Nauju.
Adassett sah aus, als wäre ihm übel. Er biss die Kiefer fest zusammen und wandte sich ohne ein Wort von ihr ab, um zurück in den Badesaal zu marschieren. Das Rauschen von Wasser erklang wenig später und Nanouk trat zögerlich näher. Sie erkannte Adassett über ein breites, marmornes Waschbecken gebeugt, wie er sich in fahrigen Gesten die Hände wusch.
Nanouk beschlich ein seltsames Gefühl, als sie einen weiteren Schritt näher trat und an seinen breiten Schultern vorbei spähte. Adassett hatte die Ärmel des Mantels und seines Wamses grob hochgeschoben und hielt seine muskulösen Unterarme unter den Wasserstrahl, als wäre er nach wie vor blutbeschmiert.
Doch seine Arme waren sauber.
Nanouk schluckte und betrachtete seine zitternden Finger, wie sie beinahe schon aggressiv über die dunkle Haut seiner Unterarme schabten.
»Wisst Ihr«, fing sie mit leiser Stimme an und beobachtete, wie der Hüne gerade noch verhindern konnte, zusammen zu zucken. »In Wallheim erzählt man sich, dass Ihr nach den Hinrichtungen besonders in Wallung geratet. Weh der Kurtisane, welche Ihr für die Nacht erwählt.«
Adassett stützte seine Ellenbogen auf das steinerne Becken und ließ seinen Kopf zwischen den Schultern hängen, sodass Nanouk nicht erkannte, was auf seinem Gesicht vorging. Aber als er sie nicht aufhielt, sprach Nanouk vorsichtig weiter.
»Doch eben erkenne ich einen widersprüchlich gebrochenen Mann, der kaum in der Lage ist, sich selbst zusammen zu halten. Oder warum wascht-«
Dieses Mal unterbrach er sie, indem er so fest mit der Faust auf das steinerne Becken schlug, sodass Nanouk fürchtete, er hätte sich die eigene Hand gebrochen. Adassett richtete sich daraufhin ruckartig auf und fuhr zu ihr herum. Er war in wenigen Schritten bei ihr und packte sie so fest an der Schulter, dass Nanouk die Luft scharf durch die Zähne zog.
»Du hast keine Ahnung, was es mich kostet, hier zu sein«, grollte er mit rauer Stimme und ließ seinen Blick an ihr auf und ab wandern. Doch sein gequältes Gesicht deutete darauf hin, dass er nicht davon sprach, was Nanouk implizierte. Er wirkte nicht wie jemand, der seine körperlichen Regungen unter Kontrolle zu bringen versuchte, sondern damit kämpfte, sein Selbst daran zu hindern, auseinander zu brechen.
»Während Saghani jeden meiner Schritte verfolgt und wie ein Jagdhund nach meinen Fersen schnappt, sitzt Nao auf seinem Thron und lacht. Während sie Nauju zum Narren hält, damit sie sich mit ihren Huren bei Siku einwurmen kann, so wie sie es bei mir versucht, sitzt Nao auf seinem Thron und lacht.«
Adassetts Griff wurde noch eine Spur fester, als er sie gegen die marmorne Wand drückte und Nanouk stieß einen gepressten Schmerzlaut hervor.
»Während Siku Familien auseinanderreißt, indem er willkürlich Sklaven an die Adeligen des Umlandes verschenkt, sitzt Nao auf seinem Thron und lacht«, fuhr Adassett mit wildem Ausdruck in den Augen fort, doch ließ sie schließlich los.
»Während mich Reiki für jede Wahl der unglückseligen Toren, die sich für ihn und nicht für mich entscheiden, verurteilt, sitzt Nao auf seinem Thron und lacht.«
Nanouk fühlte ihre Knie weich werden und rieb sich die Schulter, als Adassett sich mit den nassen Händen durch die Haare fuhr. Er machte eine ausholende Geste mit dem Arm, doch ließ ihn kraftlos sinken. »Während Anuri in ihrem eigenen Albtraum dahin siecht, sitzt Nao auf seinem Thron und lacht.«
Adassett wandte sich zu ihr um und schüttelte den Kopf. »Und wenn sich jemand einen Fehltritt erlaubt, wird Reiki denjenigen bestrafen. Weil sein Wesen und sein Wille an Nao gebunden sind.«
Nanouk konnte seinem lodernden Blick nicht länger standhalten und raffte ihre gelockerte Tunika zusammen, die Adassett beinahe von ihren Schultern geschoben hatte.
»Saghani schafft ein Refugium«, sagte sie leise, als sie trotz Adassetts anschuldigender Worte an Ischka und Inja dachte, an Maha und die Ausgelassenheit der Frauen, die der Trostlosigkeit ihres Berufes trotzten. »Sie bietet den Mädchen einen Rückzugsort, so furchtbar er auch erkauft worden ist.«
Adassett schnaubte und schüttelte den Kopf. »Nenn es wie du willst, es ist und bleibt ein Gefängnis.«
Nanouk presste ihre Lippen aufeinander, doch Adassett wischte jegliche Widerworte vom Tisch, indem er ihr einen schweren Blick zuwarf und sagte: »Erinnerst du dich, als ich dir bei unserer letzten Begegnung versprochen habe, dich zu deinen Kameraden zu führen, ehe wir ins Gespräch kommen?«
Nanouk blinzelte verdutzt, als ihr diese Tatsache beinahe entfallen wäre. Die Scham über ihre Kopflosigkeit brannte heiß auf ihren Wangen und sie schloss kurz die Augen, um sich zu sammeln. »Ich erinnere mich.«
Adassett nickte einmal und öffnete dann seinen Kleiderschrank. »Das gedenke ich nach wie vor zu tun. Ob du mich danach anhören willst, bleibt dir überlassen.«
Er beförderte einen dicken Pelzmantel ans Licht, hielt ihn ihr hin und verzog den Mund. »Er wird reichen müssen«, grollte er und drückte ihn Nanouk in die Arme. Als sie sich mit einem mulmigen Gefühl in den weichen, dunkelbraunen Pelz wickelte, stellte ihr Adassett ein Paar fester Lederschuhe hin.
»Wohin gehen wir?«, fragte sie verunsichert, da sie fürchtete, selbst mit einem Pelzmantel in ihrer flüchtigen Kleidung außerhalb der geschlossenen Räume zu erfrieren.
»Wir machen einen Umweg, damit wir ungestört ans Ziel kommen«, erklärte er ihr nun und warf sich den schwarzen Federmantel um die Schultern. Auf ihren fragenden Blick hin, huschte ein schiefes Lächeln um seine Lippen. »Man erwartet uns nicht außerhalb meiner Gemächer.«
Als Nanouk ihn bloß mit gesetzter Miene anblickte, fiel auch das Grinsen von seinem Gesicht und das ließ ihn wieder wie den erbarmungslosen Henker aussehen, den Nanouk in Aalsung kennen gelernt hatte. Obwohl sie wusste, dass er ihr vermutlich zeitnah nicht wehtun würde, schreckte sie innerlich vor ihm zurück.
Adassett, dem das nicht entging, wandte seinen stechenden Blick ab und deutete auf eine schmale Türe in der Nische zwischen Kleiderschrank und Bett. Nanouk ließ sich von ihm führen und trat vor ihm durch die kleine Türe in einen dunklen Raum, in dem es bereits beachtlich kälter war, als in seinem Gemach. Doch Adassett blieb nicht stehen, sondern schob sie in der Dunkelheit vorwärts, bis er eine weitere Türe öffnete und eisige Luft direkt in ihr Gesicht wehte.
Nanouk erkannte den Schnee auf einer schmalen Terrasse hoch gehäuft liegen und spürte einen plötzlichen Drang zurück in den dunklen Raum zu treten. Doch Adassett blieb standhaft und drückte sie sanft ins Freie.
»Warum nehmen wir einen Umweg, außerhalb des Schlosses?«, hauchte sie entsetzt und erkannte nun, dass die Terrasse gar keine wirkliche Terrasse war, sondern nur ein ungesicherter Felsvorsprung, der in unkenntliche Tiefe führte.
»Erinnerst du dich an den Schneepfad?«, fragte Adassett und legte ihr einen Arm um die Schultern.
Nanouk verkrampfte sich, als sie das Knistern der fallenden Schneekristalle tatsächlich in jene schicksalshafte Nacht zurück warfen. Als sie selbst versucht hatte, sich gegen das Pferd zu wehren, ihre Stiefel ebenso in tiefen Schnee gebohrt hatte, um nicht selbst getötet zu werden. Wie das Zischen des Eisdämons durch die Nacht schnitt. Sie schluckte und befände sie sich nicht in der Lage, dass hier jede Bewegung den Tod bedeuten konnte, würde sie den Hünen von sich stoßen.
»Tatsächlich ist mir der Moment, in dem ich mit meinem Leben abgeschlossen und das unzähliger anderer beendet gesehen habe, nicht entfallen«, sagte sie leise.
»Richtig«, meinte Adassett zögerlich und zog sie vorsichtig näher an seine Brust. »Doch das meinte ich nicht.«
Nanouks Atem beschleunigte sich ohne ihr Zutun und sie bildete sich ein, den Geruch von Blut wahrzunehmen.
»Wir sind durch ein Tor in die Welt der Geister getreten, um die physischen Hürden des Aufstiegs zu überbrücken und direkt an der Mauer wieder auszutreten.«
Nanouk biss die Kiefer fest zusammen, als Adassett seinen zweiten Arm um ihren Schultergürtel legte. »Nicht wir«, sagte sie eisern und erneut gab Adassett ihr nach einigem Zögern Recht.
»Richtig. Halt dich fest«, drang seine Stimme an ihre Ohren und durch den dicken Pelz sogar bis an ihren Körper.
Nanouk blieb nur ein grauenvoller Moment Zeit, zu verinnerlichen, was Adassett vorhatte, als er auch schon einen weiten Schritt über das Gesimse machte und sie beide in die tintenschwarze Tiefe eines freien Falls beförderte.
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Nanouk glaubte zu fallen, brachte keinen Laut hervor, als sie in die vermeintliche Dunkelheit stürzten nur um zu merken, dass sie gar nicht fielen. Vielleicht war sie gerade eben auf dem gefrorenen Boden des Palasthofes zerschellt und ihr Geist leistete als einziges noch schwachen Widerstand gegen den Tod, oder sie war in Ohnmacht gefallen, noch ehe es dazu kam.
Denn die Welt um sie herum war stiller, als die Nacht. Das Knistern der Schneeflocken war verstummt, sowie ihr eigener Atem und Adassetts über ihr. Sie spürte seinen Griff nach wie vor fest um ihren Schultergürtel und seine starke Brust an ihrem Rücken, als er sie entgegen aller geltenden Naturgesetze durch die stille Dunkelheit schob.
Nanouk öffnete ihre fest zusammen gekniffenen Augen und wurde sich eines unendlichen Raums bewusst, der sich zu allen Seiten ausbreitete und ihren Magen eine Satz machen ließ. Je länger sie atemlos in die Stille starrte, desto mehr erkannte sie sanft schimmernde Konturen in der Dunkelheit vor sich. Feine Linien, Bänder aus dumpfem Licht, welche sich träge durch den dunklen Raum wanden und nach längerem Hinsehen langsam Form und Gestalt annahmen. Gemächlich tanzende Lichter nah und fern in warmem Gelb genau dort, wo sich zuvor noch der Palast befunden hatte und unter ihnen floss der träge Strom aus Licht in ein Netz aus Geäst zusammen. Der Wald an den Hängen des Zittergebirges. Und jenseits dessen erhoben sich nun die schemenhaften Gestalten unzähliger Tiere hervor, die Staubkörnern gleich bis an den Horizont in den fernen Wellen tanzten.
Als sie das erste Mal Luft holte, dröhnte ihr Atem beinahe schmerzhaft laut in ihrer Brust und in ihren Ohren, als gehörte er nicht hier her. In diesen Raum hinter der Welt, dort, wo die Geister lebten und darauf warteten, hinauf zu den Ewigen zu wandern.
Sanftes Wispern, wie Wind in den Blättern, huschte durch ihren Geist, als ein leiser, ferner Aufruhr durch die Lichter ebbte, als hätte sie einen Stein in ruhige See geworfen. Nanouks gesamtes Sein kam zum Stillstand, als sie den Kopf in den Nacken legte und meinte, vergehen zu müssen. Über ihr erstreckte sich der endlose Nachthimmel, bespickt mit unzähligen, strahlenden Sternen, die so fern waren und dennoch so nah wirkten, wie sie ihnen noch nie in ihrem Leben zuvor nah gewesen war.
Zwischen den Sternen tanzten die Nordlichter in ihren bunten Farben und ferner Sternennebel tauchte den Nachthimmel über ihr in unglaubliche Schattierungen aus Violett und Orange, Gelb und gleißendem Blau.
Das Wispern schwoll an und ab, als einige der feinen Lichter umher huschten, sich ihnen näherten und mit einem hohen Flöten wieder davon schrecken. Nanouk spürte ihren Herzschlag nicht, als sie mit einem dumpfen Gefühl in ihren verdrängten Erinnerungen wühlte. Sie kannte dieses sanfte Klingeln, wie von einem Windspiel im kräftigen Westwind, das hohe Pfeifen, als würde Wind durch ein Astloch schlüpfen und dabei singen. Sie kannte die bunten Lichter, das stechende Gelb und das warme Rot eines kämpfenden Glutherds.
Ihr ataaq war mit ihr am Strand gestanden, als der Wind auffrischte und den schwelenden Tannenzweig in seinen Händen zum Glühen brachte. Sie war so klein gewesen, hatte ihm nicht einmal bis zur Brust gereicht und doch hatte sie damals gesehen, was sie nun sah. Sie hatte unwissend einen Blick hinter den Schleier der Welt geworfen, durch das Tor in die Nachwelt geblickt und ihr ataaq hatte ihr auffordernd zugelächelt.
»Sieh genauer hin, mikkituq. Sieh, wie sie tanzen.«
»Für wen tanzen sie?«
»Die Lebenden tanzen zu Sina-was Ehren und die Tariaksuk tanzen in den Schatten zwischen ihnen, damit Paka sie nicht vergisst und endlich übersetzt.«
»Wohin?«
»Hinter die Sterne, den Nordlichtern nach, damit sie auch nach dem Tode über ihre Lieben wachen mögen.«
War ihr ataaq hier? Lachte er gar als einer der strahlenden Sterne soeben in diesem Moment auf sie herab? Oder schüttelte er voller Enttäuschung den Kopf über ihre Verblendung?
Eine weitere Erinnerung schob sich vor diese ferne und das Bild des Urahn drängte sich ihr auf, als wolle es ebenfalls nicht vergessen werden. Wie das mächtige Tier mit gesenktem Geweih durch den Wald geglitten war, leuchtend, suchend und sterbend. Dann der dahinscheidende Sturmvogel, mit gebrochenen Schwingen und verurteilendem Blick. Und schließlich erinnerte sie sich an Naujus zarte Melodie, die dem sanften Singen der Lichter ähnelte.
Du hast etwas an dir, das mir gehört.
Eine unvergleichliche Sehnsucht, Trauer und Hoffnung erfüllte sie von innen heraus, dass sie gar nicht merkte, wie Adassett sie schweigend weiterschob. Das Lichternetz unter ihnen verzerrte sich, bis ihre Füße auf hartem Stein landeten und die sanfte Welt um sie herum zerrissen wurde.
Das Knistern der Eiskristalle, das Knirschen ihrer Stiefel im Schnee und ihr hektischer Atem durchbrach die Illusion vollkommener Eintracht und brachte sie dazu panisch um ihr Gleichgewicht zu ringen. Zuvor noch schwerelos, zerrte nun die Anziehungskraft der irdischen Welt wieder unbarmherzig an ihrem Körper und jede ihrer Bewegungen war von Trägheit beeinträchtigt.
Nanouk fühlte, wie Adassetts Griff fester wurde, seine Arme ihre eigenen an ihre Seiten pinnten und er sie vehement gegen eine eiskalte Mauer aus schwarzem Kristall presste.
»Vorsicht«, beschwor er sie von hinten mit rauer Stimme und Nanouk schnappte keuchend nach Luft. Sie versuchte seine Hände von ihren Armen zu lösen, doch Adassett fluchte durch zusammengebissene Zähne und sagte etwas energischer: »Nanouk, stopp! Wenn du dich weiter wehrst, stürzen wir wirklich ab.«
Nanouk hielt abrupt inne und versuchte in der dunklen, mondlosen Nacht etwas zu erkennen, doch bis auf Adassetts Körper konnte sie nichts erahnen.
»Danke«, sagte er nach einigen Momenten Stille und lockerte seinen Griff um ihre Körpermitte. »Beweg dich nicht«, orderte er dann ruhig und schob sich an ihr vorbei durch die Dunkelheit. Sie hörte, wie er tastend an der glatten Mauer entlang fuhr und dann erklang das Rasseln von Metallketten auf Holz.
Nanouk schluckte und fing bereits an zu zittern, als die dichte Wolkendecke langsam aufriss und spärliches Licht auf ihre Umgebung warf. Sie befanden sich, so wie Adassett gesagt hatte, auf einem Felsvorsprung auf der Nordseite des Palasts und der Streifen verschneiten Gesteins, auf dem Nanouk stand war gerade einmal so breit wie ein Kajak. Über die Kante hinaus erstreckte sich nichts als das weite Meer und Nanouk holte erschrocken Luft. Sie presste sich mit dem Rücken gegen die kalte Mauer und ignorierte das eisige Brennen des Steins auf ihren Handflächen, als sie so weit von dem Abgrund zurück wich, wie sie konnte. Jeder Luftstoß wurde mit einem Mal tückischer, zupfte an ihren losen Haare und schien sie zu necken wann immer er Fahrt auf nahm und gegen ihren dünnen Körper drückte.
»Bei den Ewigen«, brachte sie atemlos hervor und drehte den Kopf, um zu sehen, warum Adassett sie alleine gelassen hatte und erlebte prompt einen kurzzeitigen Herzstillstand. Dort, wo sie Adassett vermutet hatte, glänzte eine riesige Kreatur im fahlen Mondlicht, die sich eingehüllt in schwarz schillerndes Gefieder und blitzendem Schnabel auf den Vorsprung setzte, auf dem eben noch Adassett gestanden hatte.
Nanouk schüttelte ungläubig den Kopf, als der gigantische Rabe mit einer Flügelspannweite von locker vier Mannslängen, den Kopf schief legte und dann mit der Präzession eines Bogenschützen den Schnabel auf das eiserne Schloss der schmalen Türe niederfahren ließ. Er krallte sich in den steinernen, schneebedeckten Boden, glitt jedoch ab und schlug mit seinen Flügeln, um nicht zu stürzen. Nanouk spürte den Wind, den er erzeugte im Gesicht und musste sich daran hindern Reiß aus zu nehmen.
Wieder und wieder hackte der auf das gefrorene Schloss ein, bis das scharfe Knirschen von Metall in der endlosen Weite zu ihren Füßen wieder hallte.
Das Schloss splitterte und der Rabe schleuderte es mit einer ruckartigen Kopfbewegung in den Abgrund, faltete seine Flügel auf dem Rücken und drehte seinen Kopf zu ihr um. Das unheimliche Schillern zweier kohlschwarzer Knopfaugen, deren seelenloser Blick sich auf sie richtete, entlockte Nanouks Lippen einen gewisperten Name: »Tsasevuu.« Der mächtige Herrscher über Licht und Schatten.
Doch etwas stimmte nicht mit seiner Erscheinung. Nanouk versuchte immer noch zu verinnerlichen, dass sich Adassett soeben in einen gigantischen Vogel verwandelt hatte, so wie Ijiraq es konnte. Aber wo Ijiraq selbst in seiner beunruhigenden Natur vor Lebendigkeit strotzte, haftete diesem Geschöpf der modrige Hauch des Todes an. Was auch immer sie durch die schwarzen Augen des Raben anblickte, war nicht lebendig und noch weniger menschlich. Nanouk zog die Schultern hoch und krümmte ihre Zehen, damit sie keinen unüberlegten Satz zurück machte.
Der Rabe legte den Kopf ruckartig schief und verschwand daraufhin in einer schwarzen Rauchwolke, wie jene, in der auch Ijiraq seine Erscheinung geändert hatte und kurz darauf stand wieder Adassett vor ihr.
»Also habt Ihr ebenfalls einen der Advokaten ermordet«, rutschte es Nanouk mit leisem Entsetzen heraus.
Adassett rollte mit den Schultern und blickte sie durchdringend an. »Das habe ich. Anders wären wir nicht-«
»Durch die Welt der Geister gekommen«, beendete sie seinen Satz mit einem Schaudern. »Also habt Ihr uns Einlass mit einem Leichnam erkauft.«
Adassett sagte nichts darauf, sondern deutete auf die Türe. »Das ist nicht unsere Priorität.«
Nanouk schluckte und rieb sich die Oberarme durch den Pelz. Sie wusste nicht einmal selbst, was es kostete, in die Welt der Geister zu blicken. Oder, dass es überhaupt möglich war, in diese einzutreten. So weit hatten sie die Lehren ihres ataaq nie vorbereitet.
Adassett warf sich nun mit der Schulter einige Male wuchtig gegen die Türe, bis diese unter lautem Krachen nach innen aufschwang. Nanouk zuckte bei jedem Schlag zusammen und zog den Kopf ein, als Adassett in der Dunkelheit dahinter verschwand.
»Wird uns nicht jemand hören?«
Sie huschte an die Mauer gedrückt zum Durchgang und spähte ein letztes Mal die Klippen hinunter. Eine schmale, zerklüftete Treppe, die in den nackten Stein gehauen war, führte nicht unweit der Türe hinab und verursachte alleine vom Hinsehen ein unangenehmes Schwindelgefühl in ihr.
»Nein«, kam Adassetts tiefe Stimme aus der Dunkelheit. »Dieser Durchgang wurde bereits seit Jahrzehnten nicht mehr genutzt. Er führt durch die Katakomben des Berges bis hin zu-«, er unterbrach sich und Nanouk blickte auf. Doch in der Schwärze im Inneren des Palastes konnte sie nicht einmal mehr ihre Hand vor Augen sehen und Adassett drückte die vom Wetter vielfach verzogene Türe zurück ins Schloss.
»Hin zu was?«, hakte sie flüsternd nach, da ihr dennoch nicht behagte laut zu sprechen.
Das Rascheln von Adassetts Federmantel ertönte neben ihr und Nanouk fragte sich, ob das Abschlachten des großen Corviden ihn dazu befähigte durch Schatten und Zeit zu springen.
»Es kommt niemand mehr hier her, Nanouk. Schon lange nicht mehr. Du hast gesehen, wie verfallen der Steig hier hinauf ist.«
»Aber warum war er an erster Stelle da?«, bohrte sie nach und tastete in der Dunkelheit nach der Wand.
»Weil damals das Bedürfnis noch bestanden hat, die Ewigen um Rat zu bitten.«
Nanouk hielt inne, als ihre Finger an eiskalte Mauersteine trafen. Sie schwieg daraufhin, unfähig weiter zu fragen. Sie wollte nicht wissen, wie ähnlich die Schicksale des ehemaligen Königshofes und ihrem Dorfglauben waren. Vor allem, weil sie dann in die prekäre Lage kam, das Sinnbild des Hofes nicht länger bis aufs schärfste verurteilen zu können.
»Und weil«, fing Adassett knapp neben ihr erneut zu sprechen an, sodass sie seinen warmen Atem auf dem Haupt spürte, »es hier einen ihrer Altäre gab, den man lange vor dem Errichten dieses Palastes nur über diesen Steig erreichen konnte.«
Nanouk blieb auch daraufhin stumm. Sie kannte nicht viele Altäre, auch dazu war es in ihren Lehren nie gekommen. Irinjok, der Ewige der Wahrheit und Einsicht hatte seinen Altar direkt im Südwald bei Tallik gehabt. Zu ihm hatte sie ihr ataaq einmal geführt, doch um zu den anderen Altären zu pilgern wäre es für ein junges Mädchen zu gefährlich gewesen und Nanouk verstand nun auch weshalb.
Adassett griff in der Dunkelheit nach ihrem Handgelenk und wollte sie vorwärts ziehen, als sie ihm ihren Arm entriss. Sie konnte nicht erkennen, wie er sie anblickte, doch Nanouk meinte die schwere Last seines Blickes dennoch auf sich zu spüren.
»Ich weiß mich sehr wohl in der Dunkelheit zurecht zu finden. Auch, wenn ich keine magische Gabe besitze. Ihr braucht mich nicht ständig an der Hand herumschleppen, wie ein hilfloses Kind. Sagt mir einfach, wohin wir gehen.«
Als Adassett bloß belustigt schnaubte, fand sich Nanouk in der seltsamen Lage wieder, dass sie ehrliche Erheiterung in seiner Tonlage erkannte, die nicht durch seine furchterregende Erscheinung getrübt wurde. Als dürfte ein Mörder wie er überhaupt Freude empfinden.
»Und du musst mich nicht mit ebenso unpassendem Respekt bedenken«, entgegnete er amüsiert. »Adassett reicht vollkommen. Mehr war ich nie, mehr werde ich nie sein.«
Nanouk ließ ihre Hand an der Wand entlang streichen, als sie hörte, wie Adassett anfing zu gehen und ihr mit seiner Stimme den Weg wies.
»Ihr seid Naos Hauptmann. Sein Henker. Derjenige, der seine blutige Arbeit verrichtet«, sagte Nanouk leise und folgte seinen Schritten. »Ihr seid weitaus mehr und weniger als ein einfacher Mann.«
»Adassett«, bot er ihr erneut das Du-Wort an. »Und ja. Wir müssen alle einen Pelz tragen, der uns nicht passt. Oder weshalb biederst du dich sonst bei Saghani an?«
Nanouk wollte etwas darauf entgegnen, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken.
»Ah«, machte Adassett.
Nanouk legten sich unzählige, zornige Worte seiner Verurteilung auf die Zunge, wie er überhaupt wagen konnte einen Vergleich zwischen ihnen beiden zu ziehen, doch sie hielt jedes einzelne zurück. Sie traute ihm nach wie vor nicht und fürchtete, dass sie bei ihm nicht auf solch ein mildes Temperament wie bei Nauju stieß, sollte sie ihn zu häufig provozieren.
Im nächsten Augenblick stieß Nanouk mit den Zehen gegen ein festes Hindernis und stolperte fluchend. Sie ruderte in der Dunkelheit nach Halt und stieß mit Adassett zusammen, der sie mit dem Arm auffing, als wäre sie nicht mehr als ein Sack Mehl.
Nanouk klammerte sich an ihn, bis sie das Gleichgewicht wieder fand und stemmte sich dann mit seiner Hilfe zurück auf die Beine.
»Soll ich dich vielleicht doch an die-«
»Untersteht Euch«, fauchte Nanouk mit brennenden Wangen und ließ ihre Hand wieder über den kalten Stein gleiten.
»Die Stufen sind hier aber allesamt uneben und du brauchst deine Füße noch«, gab Adassett belustigt zu bedenken.
Nanouk konnte sich nicht helfen und stieß ein gezischtes Lachen aus, welches gemischt mit einem Schmerzenslaut in der Dunkelheit verhallte. Doch anstatt ihm zu antworten, tastete sie erneut nach ihm, bis sie seinen Mantel zu fassen bekam. Ihre Finger glitten durch die weichen Federn Tsasevuu'siulliqs und ein Schauer kroch ihr über die Kopfhaut. Adassett rührte sich nicht, bis sie ihren Griff festigte und erst dann machte er sich langsam wieder auf den Weg.
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