⫷ Kapitel 33: Der Hilferuf blutiger Hände ⫸

Kamu machte keine weiteren Anstalten mehr sie anzusprechen und Nanouk war froh darüber in sich zusammen zu sinken, um das fürchterliche Spektakel zu ihren Füßen ausblenden zu können. Sie wusste nicht, wie lange sie so versteinert da saß, bis ihre Knie schmerzten und ihre Arme schwer wurden, da sie diese nicht zu senken wagte. Doch dann drang eine warme Präsenz durch ihren Geist und ohne ihren Willen richteten sich all ihre Sinne danach aus.

»Es sind Dämon, die du hier siehst«, drang die zeitlose Stimme Reikis an ihre Ohren. So nah, dass Nanouk die Luft anhielt und sich fragte, wie er einfach so auftauchen konnte, ohne einen Aufruhr an Adassetts Tafel auszulösen. Doch die Männer um sie herum tranken und lachten nach wie vor, selbst Kamu wirkte völlig abgelenkt, als Ijiraq sich neben Nanouk auf ein Knie nieder ließ.

Nanouk blinzelte träge und war sich nur entfernt bewusst, dass ihre Muskeln sich schmerzhaft verkrampften, aus Drang heraus, vor diesem Monster zurück zu weichen, das eben noch eine junge Frau in Stücke gerissen hatte.

»Ein jeder von ihnen«, fuhr Reiki leise fort, »ist auf die eine oder andere Weise verkommen. Sie lechzen nach Blut, damit ihr eigenes nicht fließen muss. So viel Leid, so viel Tod schmerzt in meiner Seele, dass ich nicht sagen kann, wessen Urteil mich härter treffen wird, weil ich nicht aufhalten kann, was hier geschieht.«

Er hob eine Hand und strich ihr die dunklen Haare aus dem Gesicht, die wie ein schützender Vorhang jeglichen Anblick abgeblendet hatten. »Du siehst bleich aus, uki. Als würdest du langsam selbst zu einem Dämon werden, dabei musst du stark sein. Du hast ihn zuvor beeindruckt, doch nun fragt sich Nao, ob deine Dreistigkeit nicht mehr war als das.«

Nanouk schluckte und ließ langsam ihre Hände sinken, um sie stattdessen in ihren Schoß zu pressen. »Was wollt Ihr von mir?«

»Dir lediglich einen Rat mit auf den Weg geben, denn Nao beobachtet dich stets aus den Augenwinkeln. Schließlich bist du seine größte Errungenschaft in dem, was noch kommen wird.«

»Und was wäre das?«, hauchte Nanouk atemlos, wagte jedoch immer noch nicht, aufzublicken.

»Hmm«, summte Reiki und Nanouk fühlte, wie seine Hand in ihre Haare fuhr, um ihr diese vom Rücken zu streichen. Jede Berührung seiner Finger auf ihrer nackten Haut sandte ein unbeschreibliches Kribbeln durch ihren Körper und sie musste widerstehen, sich nicht unter seinen Händen hinweg zu ducken.

»Du musst wissen, dass er Saghani zugestimmt hat die Nacht mit dir in die Zukunft zu schieben, weil er sich etwas großes erwartet. Weil diese Bitte weder nach Saghani klingt, noch nach Nauju. Er weiß, dass du es warst.«

Nanouk hielt den Atem an.

»Er wartet mit Wissbegierde darauf, zu erfahren, warum du diesen Zug gewählt hast.«

Nanouk wollte den Kopf schütteln, doch ihre Wirbeln bewegten sich nicht.

»Entspann dich und horche in dich hinein«, murmelte Reiki und strich nun auch die seidenen Tücher ihrer Tunika vorsichtig von ihrem Rücken. Nanouk umschlang ihren Oberkörper aus Instinkt, damit ihr die dünnen Tücher nicht von den Brüsten rutschten und atmete so flach wie möglich, als sie spürte, wie Reiki seinen Finger zwischen ihre Schulterblätter setzte und ihn langsam ihre Wirbelsäule entlang wandern ließ.

»Du darfst ihn nicht enttäuschen, sonst endet dein Zug, ehe du deine Karten spielen konntest.«

Nanouk vergaß zu atmen, als sein Finger absetzte und an einer anderen Stelle wieder auf ihre Haut traf, bis er einen letzten, sanften Strich knapp über ihrem Becken zog.

Und dann durchbrach die Erkenntnis ihren dumpfen Gemütszustand wie ein Schwall eiskalten Wassers. Reiki spielte nicht mit ihr, er malte Glyphen auf ihren Rücken, weil sie ihm gesagt hatte, dass sie nicht lesen konnte. Und diese hier fühlte sich nach Weiser, Führer, König an. Ataaq.

»Du musst weiter atmen«, summte Reiki amüsiert und sein Atem strich durch ihre Haare. Sein Finger setzte erneut an. »Denn wenn du nicht mehr atmest, dann gehen wir allesamt zu Grunde.«

Hilfe. Nanouks Herz hämmerte ihr schmerzhaft gegen die Rippen, als sie die Glyphe für Rat und Hilfe erfühlte und vorsichtig den Kopf hob, um zu erkennen, was sich auf dem Königspodium abspielte. Doch Nao war hingerissen von dem kläglichen Wimmern und Klagen derjeniger, die Adassett auf grausamste Weise erschlug.

Und mein Untergang wäre besiegelt, ehe ich die Möglichkeit bekäme zu richten, was ich einst versäumt habe zu erfüllen.

Reikis Stimme wurde so leise, dass sie sich wie damals im Zittergebirge einbildete, sie hörte sie in ihrem Kopf. Jeder Strich von Reikis ruhigen Fingern brannte sich in ihre Haut, wie eine sengende Strafe, verhängt durch ihre eigene Vergangenheit. Als die Glyphe vollendet war, meinte Nanouk aufs Neue hier direkt vor Reikis Füßen in tausend Scherben zu zerbrechen.

Angakkuq. Die Bindung der sterblichen Welt in die der Ewigen. Nanouk rührte sich keinen Millimeter, als sie zu kombinieren versuchte, was Reiki ihr soeben offenbart hatte, das er mit keinem Wort der Welt aus zu sprechen vermochte.

Der Winterkönig – oder Reiki selbst – bedurfte Hilfe, einer so essenziellen Hilfe, dass sie als Vertreterin zwischen den beiden Welten die einzige Macht besaß, dies zu bewerkstelligen. Alles, was sie war oder sein konnte, durfte nicht an Nao herangetragen werden. Konnte nicht einmal angesprochen werden, aus Angst, dass ihr Ass dabei zerstört wurde.

Doch sie besaß dieses Ass nicht.

Sie war keine ausgebildete Schamanin, hatte die Lehren ihres ataaqs nie beendet und die wenigen Einblicke reichten nicht ansatzweise dafür, jemandem zu helfen.

Nanouk blickte entsetzt auf und wechselte einen langen Blick mit Reiki, der sie stumm zurück ansah, bis er merkte, dass seine Nachricht zumindest bis zu ihr durchgedrungen war. Anschließend erhob er sich und sein Blick ruhte so endlos wie der Nachthimmel auf ihr.

Folge den Lichtern, uki, wisperte er so zart, dass Nanouk die Hälfte seiner Worte kaum verstand. Doch wie auf Geheiß meinte sie ein sanftes Glitzern in Reikis Augen zu erkennen, welches durch das tiefe Rot brach und sie lockte.

»Wartet!«, rief sie stockend aus, als Ijiraq sich zum Gehen wandte. »Was ist er?«

Reiki blieb zögerlich stehen und legte den Kopf schief.

»Der Winterkönig. Was ist er für Euch?«

Ijiraq lächelte sanft und wehmütig. »Er ist mein Herr. Mein Gebieter. Derjenige, dem ich meine bedingungslose Treue schwor. Und so vieles mehr.«

»Aber warum?«, beeilte sich Nanouk zu fragen, die nun, da ihr erneut ein Blick auf die Wahrheit gestattet wurde, ihre Worte gar nicht schnell genug finden konnte.

Reikis Lächeln verschwand. »Weil es der einzige Weg gewesen ist.«

Daraufhin löste sich Ijiraq auf, als wäre er nicht mehr als ein Hauch von Schatten.

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Irgendwann waren die Hinrichtungen zu Ende. Nanouk hatte es kein einziges Mal mehr gewagt in die Arena zu blicken, als Nao schließlich verkündete, dass er genug gesehen hatte. Er kam die Treppen gemächlich herunter und Adassett kniete auf dem blutbesudelten Boden nieder.

»Das hast du gut gemacht«, lächelte Nao und legte dem Hünen eine Hand auf den Kopf. »Ich habe es genossen.«

Adassett blieb stumm und als Nao von ihm zurück trat, erhob er sich, verneigte sich und wandte sich einfach um. Er zog sein Schwert hinter sich über den weißen Stein und hinterließ dabei eine blutige Spur, als er die Treppen hinauf stieg.

Er sagte nichts, als er an die Tafel herantrat. Er sagte auch nichts, als er das Schwert achtlos mit einem gewaltigen Poltern und Klirren auf den Tisch zwischen das Geschirr warf und dann mit schweren Schritten auf Nanouk zu stapfte.

Diese stand zitternd auf, als sie vor seiner grauenvollen Erscheinung zurück schreckte, doch brachte nicht einmal einen Schrei hervor, als Adassett sie am Unterarm packte und ohne zu zögern hinter sich aus dem Saal schleifte.

Sie bogen in einen dunklen Korridor ein und Nanouk kam kaum hinter ihm her. Letztes Mal war er betrunken durch den Palast gestolpert, doch dieses Mal waren seine Schritte zielgerichtet und kräftig.

»Bitte«, keuchte sie schließlich, als sie strauchelte und auf einem Bein Mühe hatte hinter ihm her zu hüpfen. »Wartet.«

Adassett blieb tatsächlich stehen und wandte sich fahrig zu ihr um. Von nah sah er sogar noch furchterregender aus. Das dunkle Blut ließ seine Hose schlaff von seinen Hüften hängen und der schwarze, bestickte Mantel fiel schwer über seine Schultern. Und er roch nach Blut, der gesamte Korridor stank danach, süßlich, metallisch und klebrig. Nanouk schwindelte und fasste sich an die Stirn, die schweiß nass war.

Als er erkannte, wie stark Nanouks Atem rasselte, ließ er sie sogar los und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Sie blieben wo sie waren und Nanouk war erleichtert, dass sie in der schummrigen Dunkelheit nicht sagen konnte, ob des Blutes oder seines Schweißes wegen. Er atmete geräuschvoll aus und wischte seine blutigen Hände in die wenigen Flecken seines Wamses, die noch unbeschmutzt waren. Und dann hob er sie einfach von den Füßen. Er schob ihr den Arm unter die Kniekehle, schlang den anderen um ihre Schulter und drückte Nanouk an seine Brust, ehe er entschlossen weiter ging.

Nanouk hielt erschrocken den Atem an, als sie den Boden unter den Füßen verlor und seine Hände sich um ihre Schenkel und ihren Oberkörper schlangen. Ihre Haut kribbelte und juckte, als sie mit dem heißen Blut in Berührung kam und sie meinte ohnmächtig zu werden, noch ehe sie sich übergeben konnte. Sie zwang sich dazu weiter zu atmen, regelmäßig ein und aus durch den Mund, als Adassett sie durch den Palast trug.

Als sie den Korridor erkannte, den sie auch schon letztes Mal entlang gegangen waren, hämmerte ihr das Herz bis in den Hals. Er stieß die Türe zu seinen Gemächern mit Ellenbogen und Schulter auf und trug Nanouk durch den Empfangsraum, in welchem sie letztes Mal erwacht war, doch hielt nicht an. Adassett schritt durch die angrenzende Türe in sein Schlafgemach und Nanouk spürte, wie ihre Muskeln erneut zusammenkrampften.

Ein Diener hatte die Kerzen und den großen Kamin am Ausgehen gehindert und so erkannte Nanouk ein breites, zerwühltes Bett, welches beinahe die gesamte Breitseite des Schlafgemachs einnahm, einen auf Hochglanz polierten und mit Intarsien verzierten Tisch samt Liegesofa und Beistellwagen. An den Wänden hingen dunkle, opulent geknüpfte Teppiche und an den freien Flächen erkannte Nanouk ebenso reich verzierte Kleiderschränke aus dunklem Holz. Neben dem Bett, direkt unter dem Fenster, befand sich ein unordentlicher, wuchtiger Schreibtisch samt gepolstertem Stuhl über dessen Lehne Adassetts massiger Federmantel hing. Nanouk beschlich eine dunkle Vorahnung, als sie das schillernde Gefieder betrachtete und sofort an einen andern Mantel denken musste.

Doch Adassett setzte sie auf dem Liegesofa ab und sie rutschte so weit sie konnte von ihm weg. Er schien es nicht einmal zu merken, denn sein Blick war glasig auf sie gerichtet, als wäre er gar nicht anwesend. Nanouk spürte eine weitere Welle an Adrenalin durch ihre Adern schwappen, als sie an das dachte, was Inja ihr heute Morgen gesagt hatte, wie entrückt Adassett nach diesen Hinrichtungen war und sie selbst wunderte sich kein Bisschen darüber.

Sie suchte an seiner Haltung, in seinem leeren Blick nach irgendwelchen Anzeichen dafür, wer hier vor ihr stand, als Adassett schließlich mit einem gequälten Seufzen die nervenaufreibende Stille durchbrach. Er wirkte außer sich, doch nicht so, wie Inja es angedeutet hatte.

Adassett schluckte hart, als er sich erneut durch die Haare fuhr und seine Hand dabei kaum am Zittern hindern konnte.

»Gib mir«, begann er mit seiner tiefen Donnerstimme, die in Nanouks Ohren kratzte wie Schleifpapier, »gib mir einen Moment, um mich zu fangen.«

Ohne auf Nanouks Antwort zu warten, drehte er sich um und verschwand in dem angrenzenden Badesaal. Biete ihm an, ihn zu waschen, hallte Saghanis Stimme in ihrem Kopf durch die plötzliche Stille um Nanouk herum, doch wurde mit dem Zuschlagen der Türe aus ihrem Kopf gefegt.

Sie blieb wie erstarrt auf dem Liegesofa sitzen, als sie das Rauschen von Wasser hörte und sich unhilfreicherweise an Mahas Erläuterungen über die Rohre hier oben am Berg erinnerte, welche das Schleppen von Wasserkübeln, um ein Bad zu richten, unnötig machten. Sie starrte auf die Türe und versuchte zu Atem zu kommen, ihr Herz zu beruhigen und nicht an dem zu ersticken, was sich eben noch in dem Saal zugetragen hatte.

Nanouk blickte sich vorsichtig um und erinnerte sich an Saghanis Auftrag, für sie zu spionieren. Die Zettel auf Adassetts Schreibtisch sahen wie ein guter Start aus, doch sie wagte es nicht einmal die Haare aus ihrem Gesicht zu streichen, aus Furcht, zu überhören, wie Adassett sein Bad beendete. Was sollte sie denn nun machen? Das Geräusch plätschernden Wassers ließ nicht nach, sodass Nanouk sich zuerst traute zu schlucken und dann sogar aufzustehen.

Vorsichtig und leise streckte sie ihre steifen Glieder und massierte ihr schmerzendes Bein, bis das Stechen einem dumpfen Pochen gewichen war. Adassett war immer noch im Badesaal und Nanouk überlegte es sich kurz, ob sie einfach davon laufen sollte. Sie entschied sich allerdings dagegen, als das fließende Wasser auf der anderen Seite der Türe verstummte. Und dann blieb es wieder eine Weile lang beinahe totenstill. Vielleicht war der Hüne eingeschlafen, doch als Nanouk mit angehaltenem Atem lauschte, konnte sie hören, wie er sich nach wie vor bewegte.

Das Geräusch der sich öffnenden Türe schnitt scharf durch die Stille und Nanouk zuckte heftig zusammen, als Adassett schließlich zurück in sein Schlafgemach trat.

Das Blut war zur Gänze von ihm gewaschen und er hatte seine Kleidung gewechselt, sodass nichts mehr darauf hin deutete, was er eben noch verbrochen hatte. Dennoch wich Nanouk ohne ihr Zutun vor ihm zurück, bis sie den kühlen Wandteppich in ihrem Rücken spürte.

Adassett blieb im Türrahmen stehen und beobachtete sie aus düsteren und dennoch wachsamen Augen, als er einen Schritt in das Zimmer machte. Nanouk zog sich bis zur Türe zurück und griff mit rasendem Herzen nach dem Griff. Sie konnte nicht sagen, was es war, das sie nun doch dazu drängte eher die Beine in die Hand zu nehmen, als von Adassett berührt zu werden, doch sie fühlte sich ohnehin schon furchtbar entrückt, dass sie kaum einen zweiten Gedanken daran verschwendete.

Adassett blieb jedoch aufgrund ihrer Reaktion abrupt stehen und ballte seine Linke fest zur Faust, ehe er mit einem beinahe wütenden Gesichtsausdruck nickte.

»Na komm«, knurrte er erbost, doch Nanouk rührte sich nicht vom Fleck. Sie verstand die Art seines Befehls nicht und starrte ihn bloß mit stummem Entsetzen an.

Daraufhin biss Adassett die Kiefer fest zusammen und breitete seine Arme in einer fast schon anfeindenden Geste weit auseinander. »Komm und verurteile mich endlich!«, forderte er sie laut und wütend auf, sodass sie aufgrund der Intensität seiner Worte zusammenzuckte.

»Verurteilen?«, wisperte sie beinahe ohne Stimme und spürte, wie der Türgriff in ihren Fingern langsam warm wurde.

»Oh, Saghani ist gerissen«, spuckte Adassett schließlich und ließ seine Arme sinken, nur um sich die linke Schulter zu reiben. »Meinen Wunsch zu verweigern und dich dann auf die Hinrichtung zu schleppen.«

Nanouk schluckte gegen ihren trockenen Hals an. »Ich weiß nicht, was Ihr meint.«

Adassett schnaubte durch die Nase und ließ von seiner Schulter ab, nur um stattdessen seinen Unterarm zu umklammern. »Du zuckst alleine bei jedem meiner Worte zusammen, als wolle ich dich schlagen, fragst dich, warum ich dich noch nicht längst über die Stuhllehne gebeugt und meinen Blutrausch an dir ausgelassen habe. Ich widere dich an, versuche es nicht zu leugnen, denn es steht in jedem deiner Blicke, Nanouk. Also warum hältst du dich zurück?«

Nanouk öffnete den Mund, doch es wollte kein Wort kommen. Sie starrte Adassett an, als er ihr mit solch einer merkwürdigen Direktheit wie das letzte Mal in seinem Gemach begegnete, dass sie vor den Kopf gestoßen kaum einen Gedanken formen konnte. Wie konnte sie auch nach all dem, was sie gesehen hatte?

»Und würde es Euch wundern?«, fragte sie schließlich mit leiser aber erstaunlich fester Stimme.

Adassett, der unzufrieden auf ihre Antwort gewartet hatte, schnaubte durch die Nase und wandte den Blick mit einem grimmigen und doch so erschlagen wirkenden Lächeln ab. Er fuhr sich über Mund und Nase und schluckte hart. »Nein.«

Nanouk ließ ihn nicht aus den Augen, als er unruhig vor dem Badesaal hin und her marschierte. Sie konnte nicht leugnen, dass Adassett, wie man ihn in Wallheim anprangerte, diesem Mann hier kaum ähnelte. Sie kniff die Augen zusammen und dachte an all die fürchterlichen Dinge zurück, die man sich über ihn erzählt hatte und dann was Adassett selbst behauptete. Sie holte erstaunt Luft.

»Saghani wollte, dass ich Euch dabei zusehe, wie-« Nanouk verbat es sich selbst auszusprechen, was sie noch nicht bereit war zu betrachten, doch Adassett nickte nur mit einem angewiderten Gesichtsausdruck.

»Ich wollte nicht, dass du zusiehst. Ich habe Kamu ausdrücklich gesagt, er solle dich daran hindern.«

Nanouk konnte sich ein bitteres Auflachen nicht verkneifen. »Dann habe ich mir seinen Ungehorsam Euch gegenüber also nicht eingebildet.«

Adassett schloss die Augen und massierte sich die Nasenwurzel. »Es tut mir Leid, dass es dazu gekommen ist.«

Je weniger Adassett Anstalten machte sie in ihre Schranken zu weisen, desto brennender kam ihre Wut zurück. Dennoch erschrak sie selbst vor ihren Worten.

»Ihr schuldet nicht mir Wiedergutmachung, sondern den unzähligen Menschen, denen Ihr heute das Leben nahmt! Wenn Ihr Reue zeigen wollt, dann entschuldigt Euch bei den Familien, die Ihr heute auseinander gerissen habt und nicht bei mir, weil Ihr nicht verhindern konntet, dass ich mitansehen muss, wie Ihr-«

Nanouk brachte es nicht über sich, den Satz zu vollenden und holte krampfhaft Luft.

Adassett blieb stehen und umklammerte seine linke Hand mit Vehemenz. »Du hast Recht, Nanouk. In allem, was du mir vorzuwerfen hast.«

»Aber?«, forderte sie den Hünen mit Tränen in den Augen auf. »Warum quält Ihr sie dann? Warum bringt Ihr es nicht einfach zu Ende, anstatt mit einem Lachen- ... «

»Weil«, begann Adassett, als er nach einer Weile der Stille merkte, dass Nanouk nicht weiter sprechen würde, »Nao es so will. Weil«, fuhr er energisch fort, als Nanouk ihm einen wütenden Blick zuwarf, »er sie leiden hören will. Er gibt nicht eher Ruhe, als dass seine widerwärtige Begierde nach der Erniedrigung der Menschen gestillt ist. Wenn ich einige wenige lange genug hinhalte, ihre Qualen ausreize, dann bleiben mehr von ihnen verschont. Andernfalls schickt er mir immer mehr.«

Nanouk schüttelte langsam den Kopf, konnte sich jedoch nicht von seinem stechenden Blick befreien, der ihr unwiderruflich vor Augen führte, dass es kein Leugnen dieser Welt möglich machte, abzustreiten, was sie eben noch erleben musste.

»Warum widersetzt Ihr Euch ihm nicht?«, flüsterte sie voller Entsetzen und musste an Nauju denken, der sich ebenfalls bewusst war, was er anrichtete, doch keinen Finger rührte, um für eine Veränderung zu kämpfen. »Warum akzeptiert ihr alle dieses fürchterliche Gefängnis, ohne mit der Wimper zu zucken?«

Daraufhin schlich sich ein Funke in Adassetts helle Augen, der Nanouk an trotzigen Widerstand erinnerte. »Ich dachte, dir wäre der Inbegriff des Zwangs vertraut.«

Nanouk schüttelte ungläubig den Kopf. »Aber Ihr seid ein gewissenloser-«

»Mörder«, vervollständigte Adassett ihren Satz bereitwillig und mit einem kalten Lächeln auf dem Gesicht. »Fahr fort.«

Nanouk schluckte. »Der Winterkönig ist nicht mehr als ein verwitterndes Skelett«, versuchte Nanouk sich zu erklären. »Ihr könntet Ihn mit einem Hieb ...« Sie stockte und ihr Blick, der zuvor noch ausweichend in Adassetts Schlafgemach umhergewandert war, glitt erschrocken zurück zu dem Hünen, der mit düsterer Erwartung vor ihr stand und den Kopf schief legte.

»Was hat der Winterkönig gegen Euch in der Hand?«

Adassetts stechende Augen bewegten sich nicht von ihr, als er erneut seine linke Hand umklammerte. »Er folgt ihm wie ein Schatten und selbst ein Mörder wie ich hat sich seiner Macht zu beugen.«

Nanouk schluckte hart, als ihr das Blut durch die Ohren rauschte. »Ijiraq

Und Ijiraq hatte sie mit einem stillen Lächeln um Hilfe angefleht.


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