⫷ Kapitel 30: ... über die Grenzen des Todes hinaus ⫸
Ihre Beine trugen sie beinahe ungerichtet in den stillen Korridor neben den Wohnquartieren, über den dunklen Teppich hin zur weiß gestrichenen Doppeltüre, welche in das kleine Musikzimmer führte. Die Türe war geschlossen und kein Laut drang durch das Holz. Nanouk blieb unschlüssig stehen. Vielleicht wollte Nauju sie ebenso wenig sehen, wie sie ihn und dennoch war sie nun hier, mit bereits erhobener Hand und kaute auf ihren Lippen.
Sie holte tief Luft und klopfte fest gegen die Türe, wartete eine, dann zwei Sekunden und schließlich ließ sie die Luft langsam durch die Nase ausströmen. Vielleicht war Nauju gar nicht da drinnen, vielleicht war er beschäftigt. Doch sie erinnerte sich nur zu gut an die seltsame Nacht des letzten Festes und trat dann einfach ein. Sie befand sich ihm gegenüber nicht gerade in feinfühliger Stimmung und war dennoch überrascht, dass sie ihn auf dem Liegesofa vorfand.
»Ich sagte doch, ich komme, wenn ich es einrichten kann«, drang seine Stimme undeutlich durch den beinahe leeren Raum. Nanouk erkannte, dass er sein Gesicht in etwas vergraben hatte, das nach einem gerupften Vogel aussah. Weiß schillernde Federn leuchteten in dem fahlen Sonnenlicht, welches durch die Wolken sickerte und mischten sich mit seiner blassen Erscheinung auf dem tiefroten Liegesofa.
»Ihr seid nicht gekommen, also bin ich jetzt hier«, sagte Nanouk schließlich mit einer Kühle in der Stimme, die ihr selbst ein wenig fremd war.
Nauju zuckte daraufhin zusammen und stemmte sich mit vor Ekel verzogenem Gesicht in eine halb sitzende, halb liegenden Position.
»Nanouk?« Er blinzelte angewidert in das Licht des anbrechenden Nachmittags und fuhr sich durch die zerzausten Haare.
Was auch immer sie selbst durchgemacht hatte, der gestrige Abend war ebenso wenig spurlos an Nauju vorbeigegangen. Vielleicht war das der Grund, warum er nichts gesagt hatte. Vielleicht waren Adassetts Worte in dieser Hinsicht kein Einzelfall und Nauju wollte ebenso sehr vergessen, was er auf diesen Festen gezwungen war zu erleben.
»Ich stehe noch«, bestätigte sie mit etwas ruhigerer Stimme.
Nauju stieß die Luft langsam durch die Nase aus. »Wie spät ist es?«
Nanouk hob die Schultern. »Weit nach Mittag. Ich habe meinen Rausch bereits beinahe zur Gänze auskuriert. Ohne Eure Hilfe.«
Nauju rieb sich die Augen, die bei näherem Hinsehen kränklich rot umrandet waren, als hätte er wieder geweint. »Hm. Schickt dich Maha?« Er räusperte sich und kam ächzend auf die Beine.
Nanouk presste die Lippen zusammen und obwohl die Verärgerung über seine defensive Haltung erneut in ihr aufstieg, versuchte sie anständig zu bleiben. »Ihr seid immer noch völlig betrunken. Und nein, Maha hat mich nicht geschickt, warum sollte sie?«
Nauju blinzelte sie an und sank gegen die hüfthohe Armlehne. »Sag das doch gleich.«
Nanouk seufzte verärgert und ging zu dem Tischchen hinüber, auf dem eine Silberkaraffe samt Becher stand. Sie schnüffelte am Inhalt und verzog angewidert den Mund. Es war der säuerliche Geruch von altem Wein. »Was will Maha von Euch?«, fragte sie und stellte den Becher zurück auf den Tisch.
Naujus Hand verkrampfte sich leicht in dem gefiederten Stück Stoff, das bei näherem Hinsehen einem elegant bestickten Radmantel glich. »Sie will, dass ich mich um Saghani kümmere. Um ihre Albträume«, fügte er mit einem kalten Lächeln hinzu und blickte Nanouk an.
»Was für Albträume?«
Naujus Finger strichen durch die schillernden Federn und sein Blick wanderte für einen Moment in weite Ferne, ehe er den Kopf abwandte und zum Fenster hinausblickte. »Die über Atashoq.«
Nanouk huschte ein beunruhigender Schauer über die Arme, als sie an die mächtige Sagengestalt des schwarzen Wolfes denken musste, der angeblich im Dunkel der Nacht jenen Jägern zum Verhängnis wurden, die töricht genug waren, sich nachts auf die Jagd zu wagen. »Der Ewige?«
Nauju zögerte für einen Augenblick. »Sein Advokat. Atashoq'siulliq, sein Erster und somit das Bindeglied zwischen ihm und den Urahnen. Saghani hat ihm etwas gestohlen und im Gegenzug nahm er sich etwas von ihr.« Nauju rieb sich den Nacken und seine Finger verkrampften sich erneut in den Federn. »Sie ist schwer krank und nur ich habe die Macht, ihre Krankheit aufzuhalten. Beziehungsweise er kann es. In seinen Nähten steckt die Macht von Etamashuk'siulliq.«
Nanouks Blick fiel mit böser Vorahnung von seinem Gesicht zu seinen Händen, in welchen er den Federmantel hielt. Ihr kam eine andere Erinnerung in den Sinn, als sie das Kleidungsstück betrachtete. Diese ungewöhnliche Lebensenergie, welche durch ihre Knochen geflossen war, als sie Reikis Wintermantel getragen hatte. Als würde er ein sanftes Feuer in ihrem Inneren entzünden, welches sie vor der Kälte der Welt schützte.
Erschrocken richtete sie ihren Blick zurück zu Nauju der nun wieder aus dem Fenster spähte, als sich die niedrigen Wolken zu einem dichten Flaum zusammenzogen. »Was habt Ihr getan?«
Nanouks Augen suchten auf seinen Unterarmen nach dem Zeichen Etamashuks, die Glyphe der Heiler, die sich in Schwarz stark von seiner blassen Haut absetzte. Sie machte einen Schritt auf ihn zu und packte ihn an den Unterarmen. Ihre Hände zitterten dabei, denn es konnte unmöglich bedeuten, was sich ihr nun so schockierend in den Verstand schlich.
»Warum tragt Ihr sein Symbol auf der Haut?«, fragte sie entsetzt und konnte doch die Schärfe nicht aus ihrer Stimme zwingen.
Doch Nauju blickte nur hinab auf ihre dunklen Finger, die sich in seine Haut gruben und schwieg. Es lag ihm auf der Zunge, seine Lippen öffnete sich, doch die Worte wollten nicht kommen. Als stieße er gegen eine Mauer, wie sie diese schon auch das letzte Mal vermutet hatte.
Nanouk ließ seine Arme los und wich vor ihm zurück. Ihr selbst sandten die unausgesprochenen Fragen eisige Schauer über den Rücken. Sie kratzten viel zu nahe an einer Wahrheit, die sie mit Absicht verdrängt hatte und nun, gezwungen dieser grässlichen, egoistischen Welt, eigenständig ausgraben musste, wenn sie nicht der Länge nach aufschlagen wollte.
Die Magie zu verkennen war alles gewesen, was sie über die Jahre zusammengehalten hatte, was sie jetzt bei Sinnen hielt. Nun erneut gewaltsam damit konfrontiert zu werden, dass man ihr Dinge vorenthielt, die essenziell für ihr Überleben hier oben waren, verschlug ihr den Atem. Auch damals bei Reiki im Zittergebirge hatte sie diese aufwühlende Furcht verspürt, als er sie gezwungen hatte die Magie der Urahnen zu akzeptieren, sich an die Schauermärchen zu erinnern und dem Gemunkel in den Dörfern tief in den Wäldern Glaube zu schenken.
»Wieso tragt Ihr seine Glyphe?«, wiederholte sie mit tränenerstickter Stimme und Nauju Finger strichen vorsichtig über die weißen Federn.
»Weil, Nanouk«, hauchte er nach dröhnender Stille, »ich derjenige war, der diesen Vogel aus dem Himmel schoss. Weil ich derjenige war, der sein Gefieder nahm und seine Macht in die Nähte dieses Mantels bannte.«
Nanouk schüttelte fassungslos den Kopf und wich noch einen wackeligen Schritt vor ihm zurück. Das Gefühl, verraten worden zu sein, mischte sich in ihre Wut und die Enttäuschung. Sie hasste es, wie sie hier hin und her geworfen wurde, wie sie dazu gezwungen wurde nach fremden Regeln zu tanzen, die man ihr nicht einmal erklärte. Man schleuderte sie von einer überwältigenden Situation in die nächste, zwang sie in Abgründe zu blicken, denen sie längst den Rücken gekehrt hatte, nur um sie dann in dieser weiten Einöde der Verwundbarkeit alleine zurück zu lassen. Und nun entriss man ihr dieses bisschen an Kontrolle und zwang sie, sich Dingen zu stellen, für die sie keine Kraft hatte. Zwang sie dazu die Hässlichkeit des Lebens nach dem Tod ihres Bruders erneut zu durchleben.
Und das schlimmste daran war, dass es keine Rolle spielte, wie tief sie verletzt war, wie schlimm ihre Wunden aufrissen und wie grässlich die Vergangenheit aussah. Hier oben kümmerte es keinen, hier oben kämpfte jeder mit seinen eigenen Dämonen und was sie an dieser Realisation am meisten schockierte war, dass sie als gebrochener Mensch hier auftauchen könnte und keinen einzigen Funken Mitleid erblickte hätte. Wer unbrauchbar war, wer nicht funktionierte, wurde niedergeworfen, denn es gab hier keine Rücksicht.
»Nanouk«, fing Nauju dann jedoch zögerlich wieder an zu sprechen. »Ich käme nicht einmal auf die Idee, deswegen um Vergebung zu bitten.«
Sie schloss die Augen und schluckte gegen die Übelkeit in ihrem Magen an. »Interessanterweise ist sich hier jeder seiner eigenen Schuld bewusst«, sagte sie mit zittriger Stimme und musste nun auch wieder an Adassetts unpassende Schuldbekundung denken. »Aber dass sich einer von euch dazu aufraffte, um den nächsten Schritt zu tun, käme Euch nicht in den Sinn? Sich seine Fehler einzugestehen reicht nicht ansatzweise aus.«
Ihr brach die Stimme weg, als sie mit rasendem Herzen daran erinnert wurde, was es war, das sie hier verleugnete. Vielleicht verurteilte sie sich mit diesen Worten selbst und die Wut in ihrer Seele stammte von der niederschmetternden Realisation, dass sie genauso eine heuchlerische Lügnerin war, wie der Hof des Winterkönigs.
»Es ist leicht, zu urteilen«, drang dann Naujus Stimme leise durch den dämmrigen Raum. »Wenn man selbst die moralische Oberhand besitzt, nicht? Wenn man noch nicht in die Verlegenheit gekommen ist, das Leben eines anderen aus verzweifelter Notwehr zu beenden.«
Nanouk holte schluchzend Luft, als ihr diese Worte ebenso heftig durch die Brust schnitten, wie ihre eigenen. Ihre Hand wanderte wie von selbst wieder in ihren Nacken. Nun stieß sie gegen eine Barriere, konnte Naujus Vorwurf nicht abstreiten, denn ihm hier zu widersprechen würde bedeuten Imiaqs Tod auszusprechen und das konnte sie unter gar keinen Umständen zulassen. Sie konnte es einfach nicht.
Also sagte sie stattdessen mit erstickter Stimme: »Ich verurteile Euch nicht, dass Ihr aus Verzweiflung gehandelt habt.«
»Aber du verurteilst mich«, wandte Nauju ein und ließ den Mantel schließlich zurück auf das Liegesofa gleiten. Die Sonne war mittlerweile verschwunden und ließ sie beide in blaue Schatten gehüllt zurück.
Nanouk wischte sich energisch die Tränen aus den Augen. »Ihr sagtet, dass Ihr einmal wusstet, wie ich mich fühle. Gestoßen an einen Hof, entrissen aus Eurem früheren Leben. Dabei seid Ihr Teil dessen, was alles auseinandergerissen hat. Ihr bedient Euch der Macht der Ewigen, während in den Tälern Menschen sterben, weil Ihr das Land bestehlt!«
Nauju blickte aus dem Fenster und dann auf seine Hände, ehe er sich die Unterarme rieb. »Dafür zahle ich auch einen fürchterlichen Preis.«
Nanouk schnaubte und zog die Nase hoch. »Sicher. Es muss schrecklich sein niemals zu hungern, zu frieren oder sich darum sorgen zu müssen, dass man krank werden könnte. Schließlich schöpft Ihr auch direkt aus der Quelle, um hier jedes Gebrechen sofort zu beseitigen.«
Nauju lächelte daraufhin, als wäre er verlegen, als hätte sie soeben etwas gesagt, dass ihn dazu rührte seine Fassade hochziehen zu müssen. »Es ist ironisch«, sagte er schließlich und schluckte schwer, eine Geste, die in starkem Kontrast zu seinem Lächeln stand. »Dass ich nach all der Zeit die Gabe der Heilung erhalten habe.«
»Ironie?«, fragte Nanouk ruppig nach.
»Bittere noch dazu. Als wäre dies meine ganz persönliche Strafe, weil mir im rechten Moment gefehlt hat, was ich nun zu vollbringen vermag. Ich hätte Naos Vater helfen können. Und nun vergehe ich selbst an dem, was ich hätte kurieren sollen.«
Nanouk spürte eine innere Erschöpfung, die sich nach den Tränen schließlich langsam begann in ihr auszubreiten. »Was meint Ihr damit? Ich habe nicht die Geduld, mich mit Euren Rätseln herumzuschlagen«, forderte sie ausgelaugt und wünschte sich, sie könnte einfach auf den Teppichboden sinken.
Nauju seufzte und strich sich durch die Haare, ehe er blinzelte und sich an dem Fenstersims abstützte, auf dem sein Musikkoffer lag. »Die Magie der Ewigen ist sonderbar und verwunderlich«, fing er leise an zu sprechen. »So alt wie diese Welt und daher mit allem Sein verbunden. Jedem von uns wird ein Stück dieser Magie geschenkt, wenn wir das Licht der Welt erblicken, auch, wenn es keinerlei Einfluss auf das hat, was wir mit diesem Leben anfangen. Oder uns dazu entscheiden, den Ursprung zu vergessen.« Er warf ihr einen flüchtigen Blick durch die Wimpern hindurch zu.
»Jeder ist Teil des Ganzen, Nanouk. Selbst Nao. Sina-wa unterscheidet nicht zwischen Gut oder Böse, Richtig oder Falsch und seine Gegenspielerin Ninri unterscheidet nicht einmal zwischen dem Fisch und dem Wasser, welches diesen umgibt.«
Nanouk presste die Lippen in eine gerade Linie, als sie Nauju zuhörte. Seine Worte klangen so sehr nach denen ihres Großvaters, dass sich ein Teil in ihr am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Doch der Teil, der sich damals auf dem Schneepfad in ihr nach oben gekämpft hatte, sie dazu drängte nicht mehr wegzusehen, ließ sie atemlos lauschen.
»Ninri und Sina-wa sind so unterschiedlich wie Leben und Tod, doch an genau jener Stelle unweigerlich miteinander verbunden, an der unbelebte Erde zu Leben und Leben zu unbelebter Erde wird.«
»Warum sagt Ihr mir das alles?«, unterbrach ihn Nanouk und Nauju lächelte erneut erschlagen.
»Weil es wichtig ist für das, was mit uns allen geschieht, Nanouk. Weil die Magie der Ewigen etwas allgegenwärtiges ist und durch alles fließen sollte, was du dort draußen und hier drinnen sehen kannst. Selbst ein Teppich wie jener, auf dem du stehst, oder das Holz dieses Fensters beherbergt den Geist Ninris. Jeder Baum, jede Faser deines Körpers, jeder Grashalm ist durchwirkt von Sina-was Atem. Doch Nao bemächtigt sich dieser Energie, dieser Macht auf zerstörerische Weise. Er lechzt nach der Lebensenergie Sina-was und entreißt ihm seine Kinder.«
»Die Urahnen«, folgerte Nanouk leise und Nauju nickte.
»Die Magie sollte diese Welt durchfließen wie eine Brise, wie ein steter Strom, ein Versprechen und nicht hier oben in den unersättlichen Rachen eines einzigen Mannes fließen. Nicht nur, dass er dieses Land seiner Existenz beraubt und alles ins Nichts stürzen wird, sondern auch, weil es Nao zu dem macht, was du mit eigenen Augen gesehen hast. Er ist nur noch eine Hülle, weder richtig menschlich, noch wird er jemals so sterben können, wie du.«
»Wie ich?«, wiederholte Nanouk und bei dem, was ihr langsam dämmerte, richteten sich ihre Härchen auf den Armen auf. Sie ließ ihren Blick über Nauju wandern und stellte mit Schrecken fest, dass ihr mit einem Mal die Ähnlichkeiten zwischen dem Winterkönig und ihm wie ein Leuchtfeuer ins Auge stachen.
»Ihr meint doch nicht-«, setzte sie schockiert an, doch verstummte, als sie Naujus Erscheinungsbild erneut einordnete. Wie blass er war, als bestünde seine Haut nur noch aus Papier, wie die letzte schwarze Strähne das silbrige Weiß seiner Haare Lügen strafte und weshalb seine Augen so hell wie Ocker auf ihr lagen.
Nauju sagte nichts, doch sein Lächeln wurde eine Spur schmäler, trauriger.
»Der ... Preis, den Ihr zu zahlen habt«, würgte Nanouk hervor und spürte, wie sich ihr Brustkorb aufs Neue zusammenzog. »Ist Eure Menschlichkeit selbst? Ihr werdet so wie -«
»Wie Nao, ja. So wie wir alle langsam zu dessen werden, was tief in unserer Seele Abgrund schlummert. Denn, Nanouk, die Macht der Ewigen ist nicht für Sterbliche bestimmt. Nao trinkt das Blut der Urahnen und isst ihre Herzen, in dem irren Glauben, dass es ihn stärker macht.«
Nanouk schüttelte entsetzt den Kopf. »Warum hält ihn niemand auf?«
Nauju lachte leise doch erschlagen auf. »Reiki ist an seiner Seite. Niemand, hörst du Nanouk, niemand hat es in den letzten sechs Jahren geschafft auch nur ein Haar an Naos Körper zu krümmen. Du kannst es nicht aufhalten.«
»Also lebt Ihr einfach damit? Ohne auch nur zu versuchen wieder gut zu machen, was Ihr verbrochen habt? Weswegen sitzt Ihr hier herum und ertränkt Eure Schuld in amüsanter Gesellschaft, während hunderte Kinder in den Wäldern erfrieren, auf der Jagd ums Leben kommen und vor Schwäche in den Schnee sinken, um nie wieder aufzuwachen? Ihr habt die Macht Etamashuks gestohlen! Warum nutzt Ihr sie nicht, um zu helfen?«
Nauju senkte den Blick und ließ von seinen Unterarmen ab, um sie stattdessen defensiv vor der Brust zu verschränken. »Das tue ich. Ich helfe Saghani. Ich bin ihre letzte Hoffnung. Alles was zwischen ihr und dem Nichts steht.«
Nanouk wollte etwas wüstes darauf erwidern, doch ihr blieben sämtliche Verurteilungen im Hals stecken. »Saghani stirbt?«
»Wir alle sterben, Nanouk.«
»Ihr wisst, was ich meine!«, fuhr sie ihn atemlos an und dachte an das kränkliche Erscheinungsbild der Dame zurück. »Also hat Saghani Atashoq'siulliqs Pelz gestohlen, so wie Ihr das Federkleid nahmt? Und nun büßt sie dafür.«
Nauju hob den Kopf und blickte sie erneut an. »Ich sagte dir doch, dass Saghani mich nicht richten kann. Sie ist an mich gebunden, wenn sie leben will. Und vertrau mir, das will sie.«
Nanouk sank auf das Liegesofa und fasste sich an den Kopf, als sich ihre Welt langsam aber unwiderruflich zu drehen begann. »Was ist es, das der Winterkönig will?«, fragte sie und hörte ihre eigene Stimme wie durch fünf Lagen Hasenfell. »Warum giert er nach der Macht der Ewigen?«
Ein Kind, seiner Heimat beraubt, sucht nach dem Weg nach Hause. Doch findet den Weg blockiert. So tut es das einzige, wozu ein Kind fähig ist. Es schlägt um sich und stiehlt, was es denkt rechtmäßig besitzen zu müssen.
Das hatte Reiki zu ihr in den Schneisen des Zittergebirges gesagt und Nanouk stockte der Atem. Nao war kein Mensch, sie hatte es damals im Thronsaal gefühlt. Diese dunkle Furcht einer erschlagenden Macht, gefangen im Körper eines Menschen.
Doch Nauju hob bloß die Schultern. »Das weiß nur Nao selbst. Und Reiki möglicherweise, ist er doch an jedes seiner Worte gebunden, wie ein Hund an seinen Herren.«
»Wie könnt Ihr nur damit leben?«, fragte Nanouk erschlagen, wusste sie doch, dass ihre Worte und Anschuldigungen an seiner aufgesetzten Fassade an Gleichgültigkeit abprallten.
»Das kann ich nicht«, gestand Nauju jedoch schließlich mit ruhiger Stimme.
»Und warum tut Ihr es dann? Weswegen-«
»Weil es einfacher ist«, unterbrach er sie beinahe fahrig, als wäre es das keineswegs.
»Ist es das?«
Doch Nauju gab ihr daraufhin keine Antwort mehr. Er ging zurück zum Liegesofa und nahm den weißen Federmantel an sich. »Ich muss meine Pflicht tun. Denn ohne Saghanis Gebrechen müsste ich mich dieser Frage Wohl oder Übel stellen. Ich besuche dich und dein hinreißendes Bein sobald ich es einrichten kann, aber stell dich auf eine einsame Nacht ein.«
Die Maske aus selbstüberzeugter Überlegenheit saß perfekt auf seinen sorglosen Gesichtszügen, als hätte es das Gespräch und seinen Rausch gar nie gegeben.
»Sicher«, schnaubte Nanouk leise und zollte ihm nicht einmal mit dem Neigen ihres Kopfes den Respekt, den er wohl erwartet hätte. Und Nauju ging auch nicht darauf ein, sondern verschwand einfach durch die Türe des Musikzimmers und ließ sie in der voranschreitenden Dunkelheit einsam zurück.
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