⫷ Kapitel 28: Angakkuq ⫸

Nanouk erwachte und war für die ersten, unbefangenen Momente bloß darüber irritiert, dass ihr die Sonne ins Gesicht schien. Die Sonne passte hier nicht her, hatte keinen Platz in ihrem schmerzenden Kopf und schon gar nicht in dieser absurden Situation, die eher nach bedrückender Dunkelheit verlangte. Doch sie schien und zwar direkt in ihre Augen, die sie mit einem Ächzen schließlich öffnete. Sie drehte den Kopf in den Schatten und rieb sich die brennenden Lider, als ihr träger Verstand versuchte gemeinsam mit ihr wach zu werden.

Sie blickte gegen die Lehne eines Sofas, tiefes Rot, welches mit dunklem Grün und lichtschluckendem Schwarz durchwoben war. Dekadent. Sie fasste sich an den Kopf, der allein durch diese Bewegung schon schmerzhaft wummerte und stellte mit einem Schreck fest, dass ihre Frisur aufgelöst worden war. Hektisch fuhr sie sich durch die Haare und blickte dann an sich herab. Sie trug ihre Tunika nach wie vor, bloß die Schärpe war gelockert worden und Nanouks Magen machte einen Satz, als ihr wieder einfiel, was in der Nacht zuvor geschehen war. Wo sie sich auf dem grauenvollen Fest verloren und wer sie schlussendlich in ihrem Delirium begleitet hatte.

Sie hievte sich mit einem unterdrückten Stöhnen in eine aufrechte Position und spürte ihr Herz heftig in der Brust schlagen. Sie war nach wie vor in Gefahr, was auch immer gestern geschehen war, musste nicht das Ende gewesen sein.

Sie befand sich in einem Empfangsraum und erkannte vor sich in der frühen Morgensonne die breite Flügeltüre, durch die sie gestern geschleift worden war. An den Wänden hingen goldumrahmte Gemälde und Gobelins mit allen erdenklichen Motiven, dass ihr die Augen allein von der Menge der Eindrücke schwammen. Als wäre das Zittergebirge nicht nah genug, sprossen auch hier grüne Sträucher aus allen erdenklichen Innenbeeten und selbst für einen Empfangsraum war das Mobiliar unglaublich teuer. Goldbeschlagen, poliert, gewachst.

Doch als sie den Blick ins Innere des Raumes schweifen ließ, stockte ihr der Atem. Das Sofa, auf dem sie lag, stand an einem niedrigen Tisch aus poliertem Holz, auf dem sich eine Karaffe und ein Kristallglas befanden. Ihr gegenüber erblickte sie nun einen hohen Ohrensessel, auf dem eine hünenhafte Gestalt saß und sie reglos musterte.

Nanouks Herz sprang ihr in die Kehle und ihr Magen machte sich in die gegensätzliche Richtung davon, als sie Adassett erkannte, der wie bei ihrer Begegnung im Turm bloß mit Hose und Stoffmantel bekleidet auf sie herabblickte. Alles in ihr zog sich zusammen und drängte sie zur Flucht, doch ihre Glieder waren wie gelähmt.

Als Adassett merkte, dass sie wohl endgültig erwacht war, setzte er sich auf. Dabei rutschte der Stoffmantel von seiner Brust und entblößte seinen von Narben überzogenen Oberkörper. Er strich sich hektisch durch die immer noch feuchten Haare, demnach musste er schon gebadet haben, und streckte anschließend beide Hände mit den Handflächen auf sie gerichtet aus.

»Bevor du etwas sagst, oder denkst, oder tust«, fing er mit verkaterter Stimme an zu sprechen und verzog das Gesicht. Nanouk tat es ihm gleich und war versucht, sich die Hände auf die Ohren zu drücken, ließ es dann aber bleiben und beschränkte sich darauf, so weit es ging, von ihm zurück zu weichen.

»Ich habe dich nicht angerührt«, fuhr Adassett fort und massierte sich dann anschließend mit den Fingern seine Schläfen. »Es war nicht meine böse Absicht, dich zu verschrecken.«

Nanouk starrte ihn schweigend an, unfähig seine Worte zu begreifen.

Adassett stieß die Luft hart durch die Nase aus und schob ihr das gefüllte Glas über den Tisch zwischen ihnen zu. »Trink erst einmal etwas.«

Nanouks Blick huschte zwischen Adassett und dem Glas hin und her, ehe sie den Kopf schüttelte. Genauso hatte es gestern ebenfalls begonnen und ganz gleich, was er behauptete, Nanouk verließ sich bloß auf ihre eigenen Erinnerungen. Wenn diese lückenhaft waren, konnte er ihr alles erzählen. Ihr Kopf fühlte sich an, als sägte man ihn in Zwei, da war es ohnehin schwer einen zusammenhängenden Gedanken zu hegen.

»Es ist wirklich nur Wasser«, fügte er schließlich hinzu und lehnte sich wieder zurück. »Es tut mir Leid, was gestern passiert ist.«

Nanouk schluckte und biss sich auf ihre zitternde Unterlippe. Hier lief irgendetwas völlig absurdes ab, das sie nur noch nicht wusste einzuordnen. Vielleicht gehörte das zu seinem Genuss dazu, sie zuerst in Sicherheit zu wiegen, um dann ihre Angst auskosten zu können.

Als sie also auch dieses Mal kein Wort von sich gab, seufzte der Hüne erneut und rieb sich über die Nasenwurzel. »Ich habe dir den Wein nicht aus dem Grund eingeflößt, den du dir denkst. Ich dachte mir ...«, fing er an zu erklären und unterbrach sich dann mit einem weiteren energischen Seufzen selbst. »Es fällt mir leichter, diese Feste zu überstehen, wenn ich mich am nächsten Tag an so wenig wie möglich erinnere. Ich dachte, es würde dir genauso gehen.«

Nanouk schluckte verwirrt und spürte eine neue Welle des Schmerzes über sich hinweg branden, als sie an Reiki dachte. Wie er den Urahn einfach ... getötet hatte.

»Du glaubst mir nicht«, stelle Adassett schließlich nach einer weiteren Weile der Stille in den Raum und klang seltsamerweise ehrlich enttäuscht dabei.

Das erste Mal fühlte sich Nanouk dazu gedrängt, den Mund zu öffnen, um etwas zu sagen. Je länger sie schwieg, desto unwohler fühlte sie sich. Als ließe das zu viel Spielraum für Interpretationen und obwohl in ihr immer noch dumpf die Worte Ischkas nachhallten, konnte sie diese Drohung zumindest im Moment vergessen.

»Wie könnte ich?«, brachte sie schließlich mit rauer Kehle hervor und ein spinnenbeinartiges Kribbeln huschte über ihre Haut, als sie daran dachte, wie er sie an der Tafel berührt hatte. Wohin seine Hände gewandert waren und was er mit seinen Soldaten gescherzt hatte. Die Worte wollten ihr nicht mehr einfallen, doch jeder wusste um Adassetts Ruf, was er mit seinen Kurtisanen machte und wozu er fähig war, wenn man ihm ein Schwert in die Hände drückte.

Auf ihre Antwort hin verzog sich sein Mund in eine gerade, unzufriedene Linie und Nanouk fürchtete, dass sie bereits zu weit gegangen war. Doch Adassett rührte keinen Finger, um sie zu züchtigen. »Ich wollte dich bloß etwas fragen.«

»Fragen«, wiederholte Nanouk, der langsam aber doch nicht mehr geheuer war, was hier geschah. Warum schlug er sie nicht? Warum brachte er es nicht endlich hinter sich, jetzt da er allem Anschein nach nüchtern genug war, um sich zu vergnügen? Diese Unsicherheit wich einfach nicht und Nanouks Verstand wollte nicht akzeptieren, dass gerade dieses Monster kurz und knapp sagte, was ihn beschäftigte.

»Ja, fragen«, bestätigte er jedoch bloß mit gedämpfter Stimme und wandte schließlich den Kopf ab, als käme ihm in den Sinn, dass sein Blick viel zu intensiv auf Nanouk lag. Er griff nach einem goldenen Kerzenhalter, der neben seinem Sessel auf einem Tischchen neben dem Kamin stand und fing an diesen hin und her zu kippen. Als bräuchten seine Hände etwas zu tun, als wollte er tatsächlich bewusst vermeiden, dass seine Aufmerksamkeit zu einer unangenehmen Reaktion von ihrer Seite her führte.

»Und dafür ...«, Nanouk stockte erneut und fuhr sich durch die halb gelösten Zöpfe, als sie versuchte zu begreifen, was hier passierte. »Dafür habt Ihr Saghani bezahlt? Für eine Frage?«

Adassett schnaubte ein Lachen und warf ihr einen raschen Seitenblick zu. »Glaub mir, wenn ich dir sage, dass Informationen hier oben das wertvollste sind, das du erstehen kannst. Also ja, ich habe eine Frage an dich, die ich dir nur in Zweisamkeit stellen kann«, erklärte er ruhig und sein Blick huschte für den Bruchteil einer Sekunde an ihr herab. »Saghani behauptet, du hättest eines meiner Rösser gefunden und dich den weiten Weg aus dem Zittergebirge bis zu ihrem Tor durchgeschlagen.«

Nanouk hielt die Luft an und fasste sich instinktiv ans Bein. Also ging es tatsächlich um diese Frage. Diese Unwahrheit, die sie anfänglich aus einem Bauchgefühl heraus erfunden hatte, um Reiki zu schützen. Reiki. Sie biss die Zähne fest zusammen, unfähig zu antworten, also fuhr Adassett fort.

»Doch das ist eine Lüge.«

Nanouk blickte gegen all ihre Vorsätze ertappt hinauf in sein Gesicht und traf seinen Blick, der nun wieder berechnend auf ihr lag. »Es ist keine-«

»Versuche gar nicht erst, das zu verleugnen, Nanouk. Ich weiß sehr wohl mit wie vielen Rössern und Männern ich nach Aalsung geritten bin und wie viele Rösser und Männer auf dem Schneepfad ihr Ende fanden. Du hast keines meiner Pferde gefunden und du bist auch nicht eigenständig hier herauf gelangt. Reiki mag ein guter Lügner sein, doch du bist es nicht.«

Nanouk spürte, wie ihr langsam aber doch die Fassung entglitt. Man würde sie wirklich hinrichten. »Ich hatte keine Hilfe«, krächzte sie dennoch in einem schwachen Versuch das baufällige Konstrukt ihrer Lüge aufrecht zu erhalten. »Ich hatte einfach nur Glück«, fügte sie erstickt hinzu und schluckte gegen das sandige Gefühl ihres Halses an.

Adassett, dem das nicht entging, lehnte sich wieder nach vorne, um ihr das Wasserglas hin zu schieben. »Bei den Ewigen, Nanouk, es ist Wasser. Ich habe nicht vor, dich umzubringen.« Das erste Mal schlich sich ein wenig Ungeduld in Adassetts Stimme und er verzog das Gesicht. »Bitte, trink einfach.«

Nanouk sog die Luft scharf ein, als sie damit rechnete, dass er doch noch die Nerven verlor, aber das einzige, was ihn wohl reizte, waren seine eigenen, hämmernden Kopfschmerzen. Also griff sie nach dem Kristallglas und nippte am Inhalt. Es war wirklich nur Wasser. Und kaum hatte sie diesen Gedanken gehegt, war das Glas auch schon leer.

»Und nein«, setzte Adassett dann wieder an. »Glück gibt es im Zittergebirge nicht. Ich weiß, was sich dort draußen in den Schneisen regt. Eisdämonen sind noch die harmlosesten Ungetüme, die lauernd immer enger um Naos Palast schnüren. Und ich kaufe dir keine Sekunde lang ab, dass du Saghani widerstandslos ergeben bist.«

Ihre Blicke trafen sich und Nanouk fühlte eine Anspannung durch ihre Muskeln fahren, die ihr erneut Schmerzen bereitete. »Ich-«, fing sie zögerlich an, weil sein Blick sie aufforderte, ihm zu widersprechen. Und als sie versuchte sich dazu zu zwingen, diese Lüge weiter zu spinnen, stellte sie fest, dass sie es trotz aller Vorsicht einfach nicht über sich brachte, die richtigen Worte zu finden. »Saghani ist wundervoll.«

Adassett schnaubte. »Du sprichst sie nicht einmal mit ihrem selbstgefälligen Titel an. Du hättest Kamu in Aalsung beinahe erdolcht, du warst bereit mir ein Messer in die Brust zu stechen. Also heuchle mir hier nicht die rehäugige Kurtisane vor, die du gar nicht sein willst.«

Nanouk lauschte seinen Worten mit bangem Herzen, denn er hatte Recht. Saghani konnte sie vielleicht etwas vormachen, sogar der Winterkönig war gewillt gewesen diese absurde Geschichte zu glauben, doch Adassett hatte sie gesehen. Wusste um ihre Sorge, was ihre Kameraden betraf und damit endete auch jeder weitere Gedanke in diese Richtung, den Adassetts trügerische Worte langsam in ihr angeregt hatten.

Adassett hatte Qiuqs Tod zu verschulden, er hatte dem kleinen Jungen in Aalsung beinahe die Kehle aufgeschlitzt, weil sie Widerworte verlautbart hatte und sie erst gestern auf grässlichste Weise erniedrigt und entblößt.

»Was wollt Ihr von mir?«, fragte sie daher mit einer plötzlichen Müdigkeit in den Knochen. Wenn Adassett sie verriet, dann war es ohnehin vorbei und Nanouk fühlte dabei vor allem Erleichterung. Erleichterung, dass sie von all ihren Pflichten erlöst wäre und Schuld, eine übermannende Menge an Schuld, die ihre Brust erneut zum Brennen brachte. Sie durfte nicht aufgeben, doch wie sollte sie weiter machen?

Adassett, der den Wechsel in ihrer Haltung beobachtete, stützte seine Ellenbogen auf die Knie und runzelte die Stirn. »Ich möchte dir einen Vorschlag unterbreiten. Doch dafür brauche ich dein Vertrauen und deine Verschwiegenheit.«

Dieses Mal schnaubte Nanouk abfällig, ehe sie sich zügeln konnte. Adassett hatte längst gewonnen und konnte erzählen, was ihm beliebte. »Um was zu erwirken? Mich ebenfalls als Spielstein zu benutzen, um Eure Macht zu vermehren?«

Adassett legte daraufhin den Kopf schief und lehnte sich wieder zurück. Seine Miene war im Gegensatz zu der Naujus absolut unleserlich für sie und die dumpfe Furcht wand sich zurück in ihr Gemüt. Das hier war immer noch Adassett und sie selbst tanzte mit dem Feuer. Ein Waldbrand, so hatte Nauju sein Temperament beschrieben.

Doch Adassett war wie ausgewechselt, als existierte ein geheimer Zwilling, dessen Bruder in der Öffentlichkeit Schandtaten verrichtete, doch nicht in seinen Gemächern. Nanouk suchte auf seinem Körper nach Anzeichen für dieses Gespinst, doch der Hüne vor ihr sah genauso aus, wie das Monster, das sie gestern bis zur Besinnungslosigkeit mit Wein abgefüllt hatte. Vielleicht träumte sie auch nur und würde jeden Augenblick erwachen.

»Ich habe dich nicht angerührt«, versuchte er es erneut, doch Nanouk kniff nur die Lippen zusammen.

»Und wohin sind dann die Saphire verschwunden? Weshalb ist meine Frisur und meine Tunika gelöst?«

Adassetts Blick glitt über ihren Kopf und dann erneut an ihr herab, sodass sie die Arme fest vor der Brust verschränkte.

»Von der Tunika habe ich keine Ahnung, aber den Schmuck habe ich irgendwann in der Nacht aus deinen Haaren gezogen«, lieferte er ihr ohne zu zögern eine Erklärung. »Ich war sturzbetrunken und als ich dich da liegen sah«, fuhr er leicht verstimmt fort, »dachte ich mir, dass es sicherlich unbequem ist, auf den silbernen Haarkämmen zu liegen. Der Schmuck liegt auf der Kommode neben der Türe.«

Nanouk gab keine Antwort darauf, sondern folgte nur seinem Daumen, den er zum genannten Ort stieß. Sie hatte erwartet, dass er nachgeben und dieses seltsame Fragespiel beenden würde. Dass es an verrückte Selbstsabotage grenzte, dieses Monster mit Absicht von seinen guten Vorsätzen fort zu treiben, wollte noch nicht ganz zu ihr durchdringen.

Adassett stand auf und Nanouk konnte nicht verhindern, dass sie bei dieser Geste erneut zurück wich. Adassett war bereits ein Hüne wenn er saß, wenn er sich bewegte, dann raubte er dem gesamten Raum die Luft zum Atmen und Trotz ihrer irrwitzigen Kühnheit, schlug ihr das Herz erneut bis in den Hals.

»Ich kann verstehen, dass die Schlucht zwischen dem, was du gesehen hast und dem, was ich dir sage, nicht mit einfachen Worten zu überbrücken ist. Das weiß ich«, sagte er energisch und umfasste die Rückenlehne seines Sessels mit Vehemenz. »Ich möchte dich nicht als Spielstein missbrauchen, sondern dir selbst die Karten für deinen Zug in die Hände geben. Deswegen schlage ich dir folgendes vor: Ich bringe dich zu den Kindern und dann sehen wir weiter.«

Er warf ihr erneut einen stechenden Blick zu und seine schwarzen Haare fielen ihm nun wieder wirr ins Gesicht. Nanouk blinzelte stumm zu ihm nach oben, ehe sie seinen hellen Augen nicht länger Stand halten konnte und auf ihre Hände blickte.

Das lief hier alles völlig verkehrt. Adassett sollte sich nicht mit Worten aufhalten, sondern seinen Körper sprechen lassen. Sie in fürchterlichster Weise in sein Bett stoßen und sich von seinem Sieg über Saghani berauschen lassen. Ischka hatte das gesagt, Saghani hatte das gesagt und selbst Nauju hatte das gesagt. Doch stattdessen bot er ihr ein Gespräch an, eine Entschuldigung und einen Vorschlag. Einen Handel.

Erneut traten ihr Reikis Worte in den Sinn, doch jeder Gedanke an ihn war nun begleitet von einem bitteren Schmerz, von einem Verrat, der all seine Warnungen im Wind zerstreute. Er hatte sie von allen am schlimmsten betrogen.

»Saghani schlägt mir den Kopf ab, wenn ich Euch zustimme. Ich soll nicht einmal mit Euch sprechen. Ihr seid-« Sie unterbrach sich atemlos, ehe die Worte, die gewiss ihr Ende bedeuteten, über ihre Lippen dringen konnten.

Doch Adassetts Arme spannten sich an, als er auch so erriet, worauf sie hinaus wollte. »Was Saghani tut, ist mir einerlei. Sie wird dich nicht strafen, denn es gibt einen Grund, warum sie dich hier her geschickt hat. Erzähle ihr, was du willst, es kümmert mich nicht. Sie denkt nicht an die Zukunft, sondern bloß an die Vergangenheit. Es bleibt daher auch deine Entscheidung, Nanouk. Du kannst dich weiterhin von ihr verkaufen lassen, oder aber du pflügst deinen eigenen Weg. Selbst gefrorener Boden ist besser als ewiges Eis. Ich biete dir lediglich eine Alternative.«

Wären sie einander unter anderen Umständen begegnet, wäre Nanouk vermutlich ohne zu Zögern auf diesen Handel eingegangen, doch das hier war immer noch Adassett. Nanouk konnte sich kaum vorstellen, dass die vielfältigen Gerüchte über seinen Charakter einfach aus der Luft gegriffen waren. Er selektierte bloß ganz spezifisch, wie er sich wem präsentierte. Und Nanouk konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen mit jemandem vertraulich zu werden, der bereit gewesen wäre, einem kleinen Jungen die Kehle in aller Öffentlichkeit durch zu schneiden, wenn sie ihre Niederlage nicht offenkundig verlautbart hätte.

Also schwieg sie auch dazu, selbst unsicher, wie sie sich nun in seiner Gegenwart verhalten musste. Ob seine absurde Gastfreundschaft in dem Moment ein Ende nahm, indem sie ablehnte. Ob er sich dann doch noch dazu entschied seine erkaufte Zeit auszunutzen.

Adassett ließ schließlich die Lehne des Sessels los und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. »Glaube nicht, dass ich nicht jede wache Sekunde bedaure, was dir widerfahren ist. Trotz all der Dinge, die du über mich gehört hast, begebe ich mich mit diesem Gespräch alleine bereits in eine Gefahr, wegen der mir Kamu später noch den Hals umdrehen wird.«

Nanouk schwieg auch dazu, obwohl sie ihm am liebsten entgegen geschleudert hätte, dass dies ein Gefühl war, das ihm nicht zustand. Er alleine war Schuld an dem, was ihr und den anderen widerfahren war. Doch er schien auf keine Absolution zu warten, denn sein Blick sank von ihrem Gesicht zu ihrem Hals.

»Aber als junge angakkuq ist es hier oben ohne Freunde noch viel, viel gefährlicher. Reiki ist bereits misstrauisch und wenn er merkt, was du so verzweifelst unter deinem Haaransatz zu verstecken versuchst, dann wird Nao davon erfahren. Dann wird es dir wie Anuri ergehen.«

Nanouk schlug sich die Hand instinktiv auf den Nacken, als Adassett jenes Wort aussprach, dem sie seit dem Tod ihres Bruders den Rücken gekehrt hatte. Ein Schandfleck.

»Lass dir Zeit, darüber nachzudenken. Mein Angebot verfällt nicht, ich habe keine Eile. Doch wie mir zu Ohren gekommen ist, läuft deine in drei Wochen ab. Ich schicke in ein paar Tagen erneut nach dir.«

Und damit ließ er sie schließlich alleine. Nanouk starrte regungslos gegen die Türe, durch die er auch gestern schon verschwunden war und brachte keinen zusammenhängenden Gedanken zustande. Alles, was in ihrem Geist nachhallte, war die Bezeichnung ihrer gerichteten Bestimmung. Angakkuq.

Nanouks Magen drehte sich augenblicklich um und sie stürzte zu dem Pflanzentrog neben dem Fenster, um sich krampfartig zu übergeben. Ihr Magen war bis auf das bisschen Wasser leer und der bittere Geschmack der Galle ließ sie würgen, bis sie meinte zu ersticken. Sie hatte sich geschworen dieses Wort und alles, was es bedeutete, nie wieder in ihr Leben zu lassen und doch verfolgte es sie nach wie vor, selbst über den Tod ihres Großvaters hinaus. Schnitt in ihr Leben wie ein Fluch, dem sie nicht entkommen konnte. Sie hätte in die Fußstapfen ihres Großvaters treten sollen und sie alleine hatte mit ihrem kindlichen Stolz den Tod ihres Bruders zu verantworten.

Nanouk merkte erst, dass sie weinte, als ihr die salzigen Tränen über das Gesicht liefen und auf ihre Hände tropften, die sie so fest um den Rand des Pflanzentrogs geklammert hatte, dass die Knöchel weiß hervor traten. Sie konnte nicht mehr.

Aber sie musste, musste einfach aufstehen, sich zusammensammeln und weiter machen. Sie durfte sich nicht von der Vergangenheit kontrollieren lassen und doch nahmen die bitteren Tränen kein Ende. Nicht sie hatte Imiaq getötet, sondern ihr Großvater war daran Schuld. Nicht ich, flehte sie und ließ sich mit einem Schluchzen auf die Fersen sinken. Lass mich leugnen, ich flehe dich an. Zu wem sie flehte, wusste sie nicht, gab es doch dort oben keine Ewigen, die den Sterblichen Gehör schenkten.


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