⫷ Kapitel 27: Reikis Bürde ⫸

Ehe Nanouk einen besseren Blick erhaschte, packte sie Adassett um die Hüften und zog sie zurück in seinen Schoß, wo sie hinter seinen kräftigen Schultern nicht erkennen konnte, was Reiki dort machte. Doch Nanouk stemmte sich das erste Mal gegen den Zug seiner Muskeln und spähte auf den alabasternen Sockel vor dem Thron, auf den Reiki das leblose Tier hievte.

Schwindel ließ ihr Sichtfeld wanken, als sie mit wachsendem Unbehagen Adassetts Versuchen, sie vor dem Anblick dessen abzuschirmen, was wohl gleich geschehen würde, trotzte. Die Musik um sie herum wurde von heftigen Trommeln übernommen, die in einem rhythmischen Takt tief in ihren Lungen vibrierten und ihre Wahrnehmung in die Woche ihres Fieberdeliriums zurück versetzte.

»Nanouk«, drang Adassetts grollende Stimme durch die Luft und gesellte sich zu den tiefen Trommelschlägen, die ihre Knochen zum Singen brachten.

Reiki breitete den Sturmvogel beinahe zeremoniell auf dem Sockel aus, dessen Zweck Nanouk nun mit einem kalten Schock offenbarte. Dies hier war ein Opferstein.

Nanouk keuchte auf, als sie zurück zu Reiki blickte und dann in die weit geöffneten Augen des Vogels, die glasig und entrückt kaum noch von Leben zeugten. Ein dumpfes Gefühl der Furcht, eine dunkle Vorahnung und eine erschütternde Erkenntnis kämpften in ihrem umnachteten Geist um die Oberhand, als sie sich einbildete, den Blick des sterbenden Tieres direkt auf sich zu spüren.

Verlassen hast du uns.

Das Wispern in ihrem Kopf konnte Einbildung sein, oder ihre eigene, verurteilende Stimme, doch Nanouk fuhr derart heftig zusammen, dass Adassett ihre Arme packte und ihre zitternden Hände aus dem Stoffmantel an seiner Schulter löste, um sie nach unten zu drücken. Doch er war nicht rasch genug, damit Nanouk erspart blieb, was es wohl war, woran er sie hindern wollte zu erkennen.

Es war mittlerweile schummrig dunkel geworden, die Lampen spendeten kaum genügend Licht, um zu erahnen, was Reiki dort tat, doch das Schwinden des Kerzenscheins machte eine andere Tatsache unverkennbar.

Der riesige Sturmvogel, der Nanouk an die Albatrosse an den hohen Klippen erinnerte, mächtige Tiere, die dennoch niemals so groß und kräftig geworden waren wie dieser hier, pulsierte in einem weichen Licht von innen nach außen. Sanftes, weiches Leuchten drang durch die Kiele seines zerzausten, blutverklebten Gefieders, sickerte an den Kanten der Federn herab und rieselte wie in einer sachten Brise davon getragen von dem Altar vor ihnen in die Dunkelheit. Das war nicht nur irgendein Vogel, sondern ein Urahn.

Sie suchen nach demjenigen, der ihre Magie stiehlt.

Sie sterben.

Nanouk stieß ein Keuchen aus, das in ein Schluchzen überging, als sie endlich begriff, was sich ihr in verzerrten Bildern zu erkennen gab. Reiki war derjenige, der die Urahnen jagte, um sie anschließend hier vor dem Winterkönig auszuschlachten. Er zückte den Silberdolch, den er ihr vor nur zwei Wochen angeboten hatte, der sie schützen hätte sollen und Nanouk meinte, noch hier und jetzt die Besinnung zu verlieren.

Wie konnte er nur! Sie biss einen Aufschrei zurück, als sie die Schändung dieses uralten Wesens in einen Abgrund stieß. Sie konnte nicht sagen, woher auf einmal dieses entsetzliche Gefühl des Verrats kam, warum sie sich durch diese Hinrichtung fühlte, als schneide man ihr das eigene Herz aus der Brust, doch sie konnte nicht anders, als an ihren ataaq zu denken.

Sie alleine tragen die Möglichkeit unsere Bitten an ihre ätherischen Meister weiterzugeben. Sterben sie, versiegt das Wunder, versiegt das Leben.

Der Schmerz, den sie beim Anblick dieser brutalen Hinrichtung verspürte, grub sich so tief in ihr Herz, dass sie erneut aufschluchzte und sich endlich von Adassett zurück in seinen Schoß ziehen ließ. Wie konnte Ijiraq sie derart belügen?

Verlassen, betrogen hast du uns, Bruder. Warum!

Die Stimme in ihrem Kopf heulte in jenem schrillen Kreischen durch ihren Verstand, welche sie damals in den Schneisen des Zittergebirges beim Berühren der kleinen Blechbüchse vernommen hatte.

»Sieh nicht hin.« Adasetts Stimme drang von außen auf sie ein, wirkte wie ein absurder Anker in ihrer heillosen Verzweiflung und Panik, die durch sie selbst fuhr, als sie mit keiner Faser ihres Körpers länger zulassen konnte, was direkt vor ihr geschah. Ein unbändiger Drang, dieser Ermordung Einhalt zu gebieten, kämpfte sich durch ihren umnachteten Geist, doch schaffte es nicht, befolgt zu werden. Ihre Muskeln zitterten und gehorchten ihr nicht, als sie wie gelähmt in Adassetts Griff zusammen sank und ihn verfluchte, dass er ihr so viel Alkohol eingeflößt hatte.

»Ich muss-! Ich sollte-«, fing sie an zu stammeln, doch kein Gedanke vermochte es aus ihrem Mund zu dringen und daher ließ sie sich einfach in sich selbst fallen, um der grausamen Hinrichtung ihrer eigenen Bestimmung zu entgehen.

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Was das übrige Fest geschah, konnte Nanouk nicht sagen. Nachdem die ekstatischen Trommeln wieder abgeklungen und das Gelächter der Gäste wieder angeschwollen war, ließ Adassett sie beinahe verächtlich links liegen.

Sie saß auf seinem Schoß, während er mit seinen Soldaten lachte und speiste, doch weder zwang er ihr erneut etwas zu Trinken auf, noch scherte er sich darum, dass sie den gesamten Tag noch nichts gegessen hatte. Saghani würde wohl wütend sein, wenn sie Nanouk so in sich zusammen gesunken da sitzen sah. Was Nauju wohl durch den Kopf ging? Ob Ischka sie dafür bestrafen würde, dass sie den Mund zum Husten geöffnet hatte?

Nanouks Kopf drehte sich unaufhörlich und so brauchte sie einen Moment, um zu begreifen, dass das Schwanken ihres Sichtfelds daher rührte, dass Adassett sie von seinem Schoß stieß und ebenfalls aufstand. Nanouks Herz setzte für einen Moment lang aus, als sie sich hilflos wankend an Adassetts Arm krallte, um nicht auf den Boden zu stürzen. Das Gelächter um sie herum rauschte hohl in ihren Ohren, als Adassett sie am Nacken packte und vor sich her stieß, bis sie erneut vor Nao standen.

Nanouk kniff ihre Augen zusammen, als sie erkannte, wie ihre samtenen Schuhe in angetrocknetes Blut traten und sie hob entgegen aller Etikette nicht einmal den Kopf, um dem Winterkönig ins Gesicht zu blicken. Alles in ihr sträubte sich, diesem Schlachtplatz zu nahe zu kommen und sie verkrampfte ihre Zehen, als sie spürte, wie das dickflüssige Blut nun erkaltet durch den Stoff drang.

»Nao«, drang Adassetts grollende Stimme durch das Rauschen in ihren Ohren. »Ich wundere mich jedes Mal.« Seine Stimme war vom Alkohol verzerrt, seine Tonlage nach wie vor herablassend.

»Und was wundert dich?«, fragte der Winterkönig amüsiert zurück und Nanouk blinzelte durch den aufkommenden Kopfschmerz.

»Wann du dir endlich selbst deine Hände schmutzig machst. Selbst das Essen muss man dir zerschneiden, wie einem Kind.«

Der Winterkönig lachte verhalten. »Oh, Adassett. Du lässt dich gehen! Ich erwarte mir wenigstens, dass du deine Anmaßungen aus Respekt heraus hinter hübschen Lügen verbirgst, so wie der Rest meines kriecherischen Hofes.«

Adassett lachte rau auf und Nanouk biss die Zähne so fest zusammen, dass es schmerzte. Er konnte doch nicht ernsthaft den Winterkönig in der Öffentlichkeit derart reizen! Sie würden alle beide sterben.

»Der Mann, dem mein Respekt gehörte, ist schon lange fort. Das hast du wunderbar hinbekommen.«

»Vorsicht«, drang nun die kühle Stimme Reikis durch die schwere Luft um sie herum. Nanouk meinte das metallische Blut sogar zu schmecken, als sie durch den Mund atmete. »Du sprichst immer noch mit deinem König.«

»Mit welchem frage ich mich«, spuckte Adassett und dieses Mal konnte Nanouk nicht anders. Sie hob den Kopf, der unsäglich schwer auf ihren Schultern lastete und erspähte, wie Naos Gesichtszüge jegliche Erheiterung verloren.

»Muss ich mir um deine Loyalität Sorgen machen?«

»Atanik«, mischte sich Reiki ein, ehe Adassett den Mund öffnen konnte. »Adassett ist sturzbetrunken. Er spricht wirr.«

Nao schnaubte gehässig und die Finger mit dem Handschuh zitterten eigentümlich, als er die Hand zur Faust ballte. »Geh mir aus den Augen, ehe ich mich vergesse.«

»Das hast du längst.« Adassett verbeugte sich und drückte Nanouk dabei mit nach unten, nur um sie dann weiter mit sich zu schleifen. Sie stolperte hinter ihm her, als er sie schließlich durch eine Türe am Rande des Festgelages brachte und in den schummrigen Korridor dahinter stieß. Die Türe schlug hinter ihm wieder ins Schloss und besiegelte somit endgültig ihr Schicksal.

Nanouks Atem kratzte ihr unangenehm in den eigenen Ohren als sie gegen den kalten Stein stolperte und sich mühsam am Niedersinken hinderte. Adassett jedoch war keine zwei Augenblicke später wieder bei ihr und packte sie am Unterarm, bereit sie mit sich zu schleppen, als ein Prickeln über Nanouks Kopfhaut kroch.

»Tu das nicht.«

Die Stimme, die zeitlos und unbefangen durch den schwach erhellten Korridor schwebte gehörte zu Reiki, der wie aus dem Nichts hinter ihnen aufgetaucht war.

»Tu was nicht?«, entgegnete Adassett mit grober Stimme und lehnte sich mit dem Ellenbogen gegen die Wand.

Nanouk wagte es nicht, Reiki ins Gesicht zu blinzeln, doch auch seine Hände waren ein Anblick, der in ihr das Bedürfnis in Tränen auszubrechen und sich gleichzeitig zu übergeben auslöste. Nicht einmal seine Kleidung trug die verräterischen Anzeichen der Hinrichtung, makellos und unberührt, als hätte sein Körper keinerlei Präsenz in dieser Welt.

»Du weißt ganz genau, wovon ich spreche.«

»Von dem, wozu du zu feige warst, es selbst zu tun?«, höhnte Adassett. »Du hast deinen Weg gewählt und ich den meinen. Also verschwinde. Kriech zurück zu Nao, ehe er seinen Sklaven vermisst.«

Reiki stieß die Luft langsam durch die Nase aus, als jener missbilligende Zug um seine Lippen wanderte, den Nanouk bereits sehr gut kannte. Als wäre er unzufrieden mit Adassett und nicht entsetzt darüber, was dieser Mann tagein tagaus tat. Als hätte er selbst das Recht Missbilligung zu empfinden, nachdem er einen Urahn auf barbarische Weise geschlachtet hatte.

»Adassett

Der Name aus Reikis Mund rüttelte etwas in Nanouks Verstand wach. Sie grub benommen in ihren langsam rotierenden Gedanken, die sich ihr allesamt schneller entzogen, als sie zupacken konnte, doch fühlte sie einen merkwürdigen Nachgeschmack, bei der Art und Weise, wie Reiki Adassetts Namen aussprach.

»Verurteile mich nicht für den Weg, den du genommen hast, wohl wissend, dass ich dir dahin nicht folgen kann.«

Nauju hatte behauptet, dass diese drei einst unzertrennlich gewesen waren. Von welchem Weg sprach Reiki also?

Adassett jedoch schnaubte bloß auf Reikis Worte und sein Griff wurde wieder fester. »Ich hätte an seiner Stelle sein können. Nao war ein Narr. Und du ebenso, dass du dich auf ihn eingelassen hast.«

»Es war niemals dein Königreich«, erwiderte Reiki. »Es war niemals deine Bürde zu tragen, sondern Naos. Er wusste, dass er dich brauchen würde.«

»Tja«, knurrte Adassett und riss an Nanouks Arm, bis sie gegen seine harte Brust stieß. »Ich will für ihn bloß das beste und jetzt verschwinde, ich habe zu tun.«

Reikis Lippen formten sich zu einem unzufriedenen Strich. »Vergiss am Ende deines Weges jedoch nicht, was ich über dem Herzen trage.« Dann trat er einen lautlosen Schritt zurück in die Schatten und seine Gestalt löste sich in schwarzen Rauch auf, als wäre er nie da gewesen.

Nanouk fühlte dennoch einen Stich der Enttäuschung, dass Reiki keine Anzeichen gezeigt hatte, sie in irgendeiner Weise zu bemerken. Als wäre sie jetzt, da sie seine Warnungen in den Wind geschlagen hatte, nicht mehr von Bedeutung.

Adassett schleifte sie schweigend hinter sich her und sie folgte ihm ebenso schweigend, strauchelnd, bis sie glaubte, die Narbe an ihrem Bein wäre wieder aufgerissen. Sie blickte an sich herab, doch sah kein Blut und als sie anhielten, schrumpfte ihre Empfindung ohnehin auf die Stelle ihres Armes zusammen, der von Adassetts festem Griff umschlungen wurde.

Der Hüne stieß eine breite Flügeltüre auf und beförderte sie in den Raum dahinter. Die Panik, die daraufhin in Nanouk nach oben stieg, verdrängte sogar für einige Augenblicke den Nebel des Weins und jagte ihr ein taubes Kribbeln über den Körper.

Sie erkannte Adassetts hünenhaften Schemen im Torbogen stehen, ehe er die Türen hinter sich zuschlug, absperrte und auf sie zukam.

»Nicht«, brachte sie hervor, ehe sie sich an Saghanis oder gar Ischkas Worte erinnern konnte, dies hier schweigend zu durchleben.

»Bitte«, flehte sie mit atemloser Stimme und die Dunkelheit um sie herum drängte sich in jeden Winkel ihres Verstandes, raubte ihr jeden kohärenten Gedanken, als die schweren Schritte Adassetts auf sie zu hielten. Er packte sie erneut am Handgelenk und bugsierte sie weiter in das Zimmer hinein. Nanouk stemmte sich gegen seinen Griff, versuchte zu verhindern, dass er sie auseinanderriss, während sie noch bei Sinnen war und fing an zu schluchzen.

»Bitte, nicht. Bitte.« Doch sie wusste auch so, dass ihr Flehen auf taube Ohren traf. Adassett hatte keinerlei Gründe, sie anzuhören, geschweige denn sie zu verschonen. Sie gehörte Saghani und das alleine reichte für Adassett, um sie zu bestrafen. Nach allem, was auf dem Schneepfad geschehen war, würde sie trotzdem ihr Ende finden.

Adassett zwang sie schließlich in ihrem schwachen Versuch, sich zu wehren, auf ein niedriges Liegesofa, doch anstatt, dass sein Geruch über ihr zusammenschlug und sein Körper sie erstickte, verblasste selbst die stechende Berührung an ihrem Arm.

»Keine Sorge«, knurrte er mit tiefer Stimme von irgendwo über ihr. »Das würde keiner von uns genießen. Dafür bin ich eindeutig zu betrunken.«

Nanouk musste sich zwingen ihren hektischen, von Tränen erstickten Atem anzuhalten, um zu lauschen. Sicherlich hatte sie sich verhört, sicherlich spielte ihr der Verstand bereits Streiche, doch alles, was sie weiter vernahm, waren Adassetts schwere Schritte, die sich über weichem Teppichboden von ihr entfernten. Ein dumpfer Aufprall und ein unschöner Fluch erklangen von der anderen Seite des Raumes, als Adassett im Dunkel gegen ein Möbelstück stolperte und dann erklang das endgültige Zuschnappen einer weiteren Zimmertüre.

Stille. Nanouk war vollkommen alleine und ließ endlich zu, dass sie auseinanderbrach. Die Tränen quollen ihr aus den Augen und flossen ungehindert über ihre Wangen in den weichen Stoff des Liegesofas, bis sie endgültig das Bewusstsein verlor und in erlösende Schwärze sank.


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