⫷ Kapitel 23: In den Fängen eines Raben ⫸

Nanouk glitt durch unruhige Träume. In diesen erblickte sie die gruseligen Augenhöhlen eines verwesten Karibus zwischen den hohen, toten Stämmen des winterlichen Waldes, spürte, wie ihr das Leben aus der Brust floss und den Schnee um sie herum rot färbte. Es war Ijiraq, der hinaus ins Mondlicht trat. In seiner wahren Gestalt, wenn kein reines Antlitz als Maske über dem abgenagten, knöchernen Karibuschädel lag.

Ihr Unterbewusstsein drängte sie vorwärts zu gehen, flüsterte ihr zu, dass sie etwas übersah, dass dies nichts weiter als eine Maske war und dass ihr die Zeit durch die Finger rann. Sie musste zurück an den Ort, an dem alles angefangen hatte.

Auf den Grund des Meeres, auf die andere Seite. Die vornübergebeugte Silhouette Ijiraqs verschwamm vor ihren Augen, als sich in der Dunkelheit über ihr feine Risse aus goldenem Sonnenlicht auftaten. Doch anstatt, dass sie durch die kalte Oberfläche des Meeres zurück an die Luft brach, sank sie immer weiter fort von den warmen, lebensrettenden Strahlen.

Nanouk erwachte mit einem erstickten Schrei in der Brust und schlug schweißgebadet die Augen auf.

Ihr erster Gedanke galt der Panik in ihrem Herzen. Sie konnte nie wieder in die dunklen Fluten eintauchen, um keinen Preis der Welt. Und der zweite Gedanke galt den hastigen Schritten vor ihrer Zimmertüre, als Maha kam, um sie für den heutigen Tag vorzubereiten.

Nanouk war völlig neben sich, als Maha ihr rasch beim Ankleiden der seidenen Tunika half und ihr unterbreitete, dass sie heute mit Ischka persönlich lernen würde.

»Nauju war unglaublich gut gelaunt heute morgen«, vermerkte Maha schließlich mit starkem Akzent und lachte verschwörerisch. »Du hast wohl ein Händchen, was ihn anbelangt.«

Nanouk hob die Schultern, nicht sicher, was sie darauf antworten sollte.

»Wenn du mit Ischka fertig bist, müssen wir deinen Verhütungsplan besprechen. Sieh mich nicht so schockiert an, du hast doch bestimmt schon deine Monatsblutungen?«

Nanouk gab keine Antwort darauf und Maha seufzte. »Hör zu, anaana Saghani kann sich keine Schwangerschaften leisten. Zumal Kinder, die hier am Palast geboren werden, automatisch in König Naos Besitz übergehen. Das möchte niemand.«

Nanouk lauschte schweigend, als Maha sie schließlich durch den Wohnbereich führte und sie darüber informierte, dass Nauju ihnen ein spezielles Tonikum anfertigte, mit dem Schwangerschaften verhindert werden konnten. Diejenigen, die nicht auf die Tinktur ansprachen, galten daher auch als besonders begehrenswerte Gesellschaft, da man die Damen bloß zu bestimmten Zeiten kaufen konnte.

Nanouk rauschten die Ohren, wie Maha über diese Dinge sprechen konnte, als wären es gute Neuigkeiten. Doch mittlerweile war sie daran gewohnt vor den Kopf gestoßen zu werden, also folgte sie ihr schweigend, in Gedanken bei dem verrottenden Karibu zwischen den Stämmen und der Tatsache, dass sie ihre Monatsblutung mit Nauju besprechen musste.

Die Sonne hatte es gerade einmal geschafft als diffuses Leuchten über die Wipfel im Osten des Zittergebirges zu steigen, als sie schließlich den Wohnbereich erreichten. Maha hielt an und packte Nanouk sanft an den Schultern. »Ich muss dringend zu einer wichtigen Besprechung. Ataha Siku kommt heute nach Wallheim und ich darf ihn begleiten.«

Nanouk hob den Blick und fand Maha grimmig lächelnd vor. Sie besaß zwar immer noch die Ausstrahlung einer Frühlingsblume, doch da war ein Zug um ihre Mundwinkel und ein Funkeln in ihren grauen Augen, das Nanouk aufhorchen ließ.

»Ataha Siku ist wundervoll, ja?«

Maha nickte. »Natürlich. Und er ist mir beinahe vollkommen verfallen.« Sie lächelte zufrieden und strich sich die blonden Haare hinter die Ohren. »Er ersteht mich regelmäßig und das ist gut so. Inja wird dich zu Ischka bringen und wir sehen uns dann vermutlich morgen.«

Wie aus dem Nichts tauchte das schmächtige Mädchen neben Maha auf und lächelte zurückhaltend. »Ja?«

»Oh! Wie schön, dass du schon fertig bist! Nimm Nanouk bitte mit zu Ischkas Salon, du siehst übrigens umwerfend aus! Ich sagte doch, dass das taubenblau zu deinen Augen passt.«

Injas Lächeln wurde eine Spur breiter, doch fiel kaum merklich in sich zusammen, als sie Nanouk erblickte. »Natürlich.«

Als Maha verschwunden war, blickte Nanouk zu Inja. »Danke, ehrlich. Ich wollte noch einmal sagen, wie Leid mir der Vorfall in der –«

»Schon gut«, winkte Inja ab und lächelte zu ihr nach oben. Maha hatte Recht, das taubenblau ihrer seidenen Tunika passte wundervoll zu ihren wasserblauen Augen und stand in starkem Kontrast zu ihren fuchsfarbenen Haaren.

Sie packte Nanouk am Handgelenk und führte sie durch die Korridore. »Wenn du zu Ischka musst, dann rate ich dir, dich zu beeilen. Sie kann faule Mädchen gar nicht leiden.«

»Habe ich bemerkt«, sagte Nanouk, die versuchte mit Injas raschem Tempo mitzukommen.

Sie erklommen mehrere Stockwerke und Nanouk war bereits außer Atem, als sie durch eine unscheinbare Türe in die Hintergänge Wallheims traten. Inja führte sie scheinbar wahllos verschlungene Wege entlang und immer höher, sodass sich Nanouk wunderte, wie hoch sie noch gehen konnten, wenn das Haupthaus nur fünf Stockwerke besaß. Die letzten drei Treppenabsätze schraubten sich in einer engen Spirale in die Höhe und mit einem atemlosen Keuchen erinnerte sich Nanouk daran, dass sie damals bei ihrer Ankunft einen Turm erkannt hatte.

»Ich kann dich leider nicht den ganzen Weg begleiten, ich werde anderswo gebraucht«, meinte Inja dann und holte einen Schlüssel hervor, um die Türe am obersten Absatz der Wendeltreppe zu öffnen.

Nanouks Bauchgefühl riet ihr nicht in den stillen Korridor vor ihnen zu treten, doch Inja nickte nur ermunternd.

»Einfach gerade aus, ums Eck und dann die letzte Türe links. Da findest du Ischka.« Sie streckte Nanouk den Schlüssel hin. »Gib ihr den gleich, wenn du dabei bist.«

Nanouk nahm den Gegenstand verdutzt entgegen. »Danke, aber warum war denn überhaupt abgeschlossen?«, murmelte Nanouk verwirrt und fing Injas Lächeln auf, als diese sich auch schon umdrehte.

»Weil du schließlich das Rot der Könige trägst. Da steht dir eine weitaus privilegiertere Ausbildung zu. Und Ischka lässt nicht einfach so jedes Mädchen in ihren Salon spazieren. Und nichts zu danken! Wir sehen uns dann beim Abendessen.«

Nanouk nickte und setzte dann zögerlich einen Fuß auf den hellblauen Teppich. Sie schloss die Türe leise hinter sich und huschte mit einer Hand an der Wand den Gang entlang, an einer einzigen Türe vorbei bis zur Biegung. Hier gab es im Vergleich zu den Räumen, die Nanouk bisher gesehen hatte, keinerlei Ornamente, keine Seidentapete, sondern nur weiße Wände mit dunkler Holzvertäfelung und schlichten Kerzenhaltern. Durch das Fenster fiel strahlender Sonnenschein und als Nanouk neugierig einen Schritt an das Glas trat, erblickte sie ein Meer aus weiß bis an den Horizont.

Sie musste sich tatsächlich in dem Turm befinden, anders konnte sich Nanouk dieses bizarre Bild nicht erklären. Sie erlaubte sich für einige Augenblicke voller Staunen zu verweilen und die Tatsache zu verinnerlichen, dass sie sich über den Wolken befinden musste. Mit einem Mal erschien es ihr noch merkwürdiger, dass sie es tatsächlich lebend bis an die Spitze des Zittergebirges geschafft haben sollte.

Wie würde es jetzt wohl in Tallik aussehen? Grau und düster? Schneite es gar in den Tälern und Fjorden? Die Welt hier oben war so voller Glanz und absurder Schönheit – wenn man von der eisigen Kälte absah – dass Nanouk einen bedrückenden Stich verspürte. Wenn sie es nur könnte, sie würde ihrem Dorf, und allen anderen ungerecht behandelten Menschen den Frühling zurückbringen.

Ein letztes Mal ließ sie ihren Blick über das Wolkenmeer gleiten, ehe sie sich abwandte und den Korridor weiter entlang ging. In dem kurzen Gang gab es nur eine Türe, für mehr als einen Salon gab es in dem Turm keinen Platz und so klopfte sie ohne weitere Umschweife an.

Das Licht aus dem gegenüberliegenden Fenster erhellte das schlichte Türblatt und Nanouk wunderte sich, in was für einem trostlosen Teil Wallheims Ischka ihren Unterricht abhielt. Irgendetwas kam ihr merkwürdig daran vor, wo doch alles und jeder in Wallheim ständig und mit größter Hingabe den üppigen Verzierungen und Ornamenten huldigte. Sie drehte den silbernen Schlüssel nervös zwischen den Händen.

Sie blickte sich ein weiteres Mal verstohlen um, als sie darauf wartete, dass man ihr öffnete und gerade, als sie versucht war, ein weiteres Mal an die Türe zu klopfen, ertönten Schritte. Doch sie klangen dumpf und träge, mehr wie fallende Steine, als leichte Füße in Samtschuhen. Nanouk hielt die Luft an, als die Türe geöffnet wurde und das Herz blieb ihr stehen, als sie anstatt Ischka den massigen Hünen erblickte, dessen stechende Augen bedrohlich langsam auf ihr zu liegen kamen. Als wäre sie nichts mehr als Beute.

Adassett lehnte in dem Türrahmen, eine Hand noch auf dem Knauf und war weit jenseits von schicklich gekleidet. Nanouk wich ohne ihr Zutun einen Schritt zurück, als ihre geweiteten Augen an seiner Erscheinung hinab wanderten. Er trug weder seinen gefiederten Pelzmantel, noch sein Schwert oder ein Wams an erster Stelle. Über seinen kräftigen Schultern hing bloß ein schwarzer, an den Borten reich bestickter Stoffmantel, der Nanouk jedoch nicht im geringsten davon ablenkte seine nackte Brust zu bemerken.

»Ich-«, fing sie atemlos an und ihr Blick fiel tiefer, als sie sich hektisch vergewisserte, ob Adassett zumindest eine Hose trug. Dem war zwar so, doch saß diese unverschnürt viel zu tief auf seinen Hüften und Nanouk holte scharf Luft.

Der Hüne verlagerte nun sein Gewicht und besaß wenigstens so viel Anstand, seinen Hosenbund ein wenig zusammen zu raffen.

»Meine Augen sind hier oben.« Die Stimme des Prinzen rollte durch den totenstillen Korridor und Nanouk richtete ihren Blick erschrocken zurück in sein Gesicht.

Ihr gingen hunderte Gedanken durch den Kopf, die allesamt panisch übereinander stolperten und sich Nanouks Verstand entzogen. Man würde sie bestrafen, hinrichten, foltern. Wenn Ischka herausfände, wohin sie gegangen war, wenn Saghani herausfände, was sie getan hatte, war alles aus. Heiße Angst mischte sich in ihrer Brust zusammen, als sie Adassetts haselnussfarbenem Blick auswich. Doch seine gesamte Erscheinung wirkte nun mit einem Mal doppelt einschüchternd auf sie und so machte sie einen weiteren Schritt zurück, halb versucht zu knicksen, doch scheiterte an ihrem Bein.

Was, wenn Adassett ihre fehlende Reverenz als Provokation ansah? Was, wenn er gedachte ihre spontane Anwesenheit auszunutzen, oder sie fernab von jeglichem Recht einfach sofort erschlug?

Nanouks Herz hämmerte ihr heftig in der Brust, dass sie nicht einmal mehr sagen konnte, wie lange sie schon vor dem Hünen stand, ohne, dass er etwas zu ihr sagte. Sein Blick ruhte schwer auf ihrem Haupt, als er sie eindringlich und in aller Ruhe musterte.

»Verzeiht!«, stieß Nanouk schließlich atemlos hervor und ihre Stimme klang in ihren eigenen Ohren so dünn und schüchtern, dass sie am liebsten im Boden versunken wäre. »Ich wollte Euch keineswegs stören.«

»Du weißt offensichtlich nicht, wo du hier bist«, stellte Adassett schließlich herablassend fest und als er endlich beschloss seinen Gürtel zu schließen, fiel wenigstens eines der unendlich schweren Gewichte von Nanouks Brust. »Der Wallturm gehört mir. Der steinerne Steg, der vom Wallturm zur Mauer führt, gehört mir. Die Garnison gehört mir. Die Mauer und alles jenseits davon, gehört ebenfalls mir. Also teilst du mir am besten flott mit, was Saghani von mir will, oder ich vergesse mich.«

Nanouks Blick richtete sich erschrocken zurück in sein Gesicht, als Adassett die Türe losließ und mit der Schulter rollte, als mache er sich bereit, sie zu greifen. Sie erinnerte sich an das Gespräch zwischen ihm und Saghani, über seine Jagd und wunderte sich nicht im Geringsten, dass Adassett vermutlich ohne mit der Wimper zu zucken einen Eisdämon den Kopf abschlüge. Oder mit bloßen Händen einen Schneebären niederringen konnte.

Sein Blick wanderte nun über den Rest ihres Körpers und schien sie einzuordnen, wie ein Stück Ware auf dem Wochenmarkt.

»Verzeiht, das ist ein Irrtum«, presste sie hervor und konnte nicht verhindern, dass sie ihr Handgelenk dabei umklammerte. Alleine der Gedanke an seinen Fuß, der auf sie nieder geschmettert war, ließ sie erneut einen schauerhaften Phantomschmerz erleiden. »Ich sollte hier Ischka treffen.«

Daraufhin schnaubte Adassett und seine Augen folgten dabei eindringlich jede ihrer Bewegungen. »Ich fürchte, da wollte dich jemand rasch loswerden«, knurrte er.

»Weshalb-«

»Du kennst meinen Ruf, Nanouk«, unterbrach er sie barsch und seine Stimme rollte durch den Korridor wie Donner. Sie zuckte zusammen und auch Adassett hielt kurz inne. »Nanouk«, wiederholte er, ehe sie selbst zu Wort kommen konnte.

Um die Ecke ertönte das Knarzen eines weiteren Scharniers und die träge Lässigkeit verschwand beinahe zur Gänze aus Adassetts Körperhaltung. »Du sagtest, du hättest eines meiner Pferde-«

»Sett!« Eine laute Stimme schallte durch die sonst so durchdringende Stille, dass Nanouk heftig zusammenfuhr und einen weiteren Schritt bis hin zum Fenstersims machte. Sie sackte mit einem Aufkeuchen gegen die Wand und hielt sich das verletzte Bein, das sie durch ihren Schreck belastet hatte.

Adassett stieß die Luft energisch aus und machte einen Schritt hinaus auf den Korridor, eine winzige Bewegung, die dennoch jeglichen Raum zum Atmen stahl. Er blickte den Gang hinunter und Nanouk erkannte, dass seine Nase wohl einmal gebrochen gewesen sein musste und dadurch vermutlich auch die Narbe unter seinen Augen entstanden war. Doch das änderte unglücklicherweise nichts daran, dass er ein kantiges Profil und beachtenswerte Wangenknochen besaß.

Die Narbe trat wie auf ihrer eigenen Haut hell hervor und war überhaupt etwas, das auf seinem Körper keine Seltenheit war. Nanouk hatte neben seinem lächerlich muskulösen Oberkörper eine Vielzahl an vergangenen Verletzungen erblickt, die sich über seine Brust spannten, wie feine Adern. Als hätte ihm ein riesiger Rabe die Klauen in den Oberkörper geschlagen und versucht mit ihm davon zu fliegen, doch war an seiner Gegenwehr gescheitert.

»Saghani hat sich wieder mit Siku getroffen. Maha geht mit ihm mit, wie lange wird es brauchen, bis-« Der Mann, zu dem die kratzige Stimme gehörte, verstummte, als er um die Ecke kam und schließlich Nanouk gegen die Wand gedrückt erblickte.

Seine Augenbrauen schossen in die Höhe, als er sie erkannte und Nanouk sich ebenfalls erinnerte, wer das war. Kamu, Adassetts rechte Hand und derjenige, der sie in der Halle der Abgaben festgehalten hatte, als Adassett einem kleinen Jungen beinahe die Kehle aufgeschlitzt hatte. Wenigstens war er anständig gekleidet, die dunkle Montur aus Wolle und Leder bedeckte seinen gesamte Erscheinung.

»Ich dachte, du wolltest dich nicht mehr auf ihre Spiele einlassen«, fuhr Kamu beinahe vorwurfsvoll fort, doch Adassett schüttelte nur einmal scharf den Kopf.

»Mach dich einfach bereit und gib den Männern Bescheid.«

»Pah«, stieß Kamu mürrisch aus. »Nagut. Das besprechen wir eben später. Das, was letzte Woche beinahe durch die Mauer gebrochen ist, ist zurück. Wir sollten uns lieber beeilen, die Männer sagen, es bahnt sich bereits einen Weg durch die Schneisen. Nicht, dass du Saghani am Ende noch ihre Vorwürfe bestätigst.«

Nanouk lauschte mit einem Dröhnen in den Ohren, als sie neben den beiden Männern beinahe aufhörte zu existieren.

»Oh, davon gehe ich aus«, knurrte Adassett. »Wenn es wirklich ein Akhlut ist, wie Saghani sagt, dann wird er niemals Ruhe geben, und niemals sterben. Ein wenig schwer, ihr da nicht in die Hände zu spielen.«

»Tja«, meinte Kamu mit einem Seufzen und eilte mit einem letzten, grimmigen Blick auf Nanouk davon.

Adassett schnalzte mit der Zunge und fluchte. Er wandte sich mit einem so düsteren Gesichtsausdruck zurück zu Nanouk, dass diese erneut die Luft anhielt. »Ein wirklich mieser Augenblick. Ischka sagst du?«

Nanouk schaffte es zu nicken.

»Dieses Wiesel hockt glücklicherweise weit weg von hier.« Mit diesen Worten packte er Nanouk am Unterarm und fing an, sie den Korridor entlang zu schleifen.

Sie wollte protestieren, weil es ihr unbeschreiblich unangenehm war, seinen festen Griff auf ihrer Haut zu spüren, doch ihre Kehle war nach wie vor zugeschnürt. Nicht zuletzt wegen dem, was Kamu eben noch angedeutet hatte.

Nanouk kannte die Legende von Akhlut, ein mächtiger Jäger, halb Wolf, halb Schwertwal, welcher getrieben von Rachegelüsten an Land kam, um diese mit dem Blut derjenigen zu stillen, die ihm Unrecht getan hatten. Und nach allem, was Nanouk mittlerweile gezwungen war zu glauben, ob sie wollte oder nicht, kam ihr die Existenz eines solchen Geschöpfs auch nicht mehr all zu schockierend vor. Dennoch beängstigend.

Um Adassett hinter her zu kommen musste Nanouk hüpfen, da ihr kaputtes Bein keinen einzigen seiner weiten Schritte zuließ und kurz darauf strauchelte sie, als Adassett bei der Türe angekommen war und sie mit einem groben Ruck daran hinderte, dass sie auf den Teppich sank. Nanouk biss die Zähne gegen den Schmerz in ihrem Schultergelenk zusammen und stieß daraufhin ein erschrockenes Zischen aus, als der Prinz sie einfach um die Taille packte und sich mit kräftigem Schwung über die Schulter warf.

Doch auf ihren atemlosen Protest hin, verstärkte er bloß den Griff um ihre Oberschenkel und Nanouk gab den Versuch auf, sich zu winden. Ihre Tunika war viel zu kurz. Sich ohne Gesichtsverlust zu wehren war unmöglich, also biss sie angespannt die Zähne zusammen und ertrug die Schmach schweigend.

»Du lahmst wie ein besoffenes Pferd und ich habe Aufgaben zu erledigen, die ein wenig dringlicher sind, als in hübschen Kleidern Wein einzuschenken«, knurrte Adassett und stampfte mit ihr die Wendeltreppe nach unten, sodass ihr bei jeder Stufe seine kräftiger Schulter in den Magen stieß.

Gerne hätte sie ihm gesagt, dass er sie deshalb auch ruhig alleine die Treppen nach unten steigen lassen konnte, zumal sie auch schon in riesigen Schwierigkeiten steckte, ohne in Adassetts Begleitung vor Ischka aufzutauchen. Nanouk biss die Zähne fest zusammen, zum einen, weil sie sich nicht die Zunge abbeißen wollte und zum anderen, weil sie von einem bitteren Gefühl beschlichen wurde. Inja war allem Anschein nach wirklich furchtbar nachtragend.

Am unteren Ende der Wendeltreppe setzte sie Adassett schwungvoll ab, aber nur, um sie gleich darauf wieder am Unterarm zu packen und hinter sich her zu schleifen. Er stieß die Türe, welche zurück in die Räumlichkeiten Wallheims führte so kräftig auf, dass der Türknauf gegen die Wand schmetterte.

Adassett zog Nanouk nun viel gröber als zuvor noch durch die Gänge und ignorierte die aufkreischenden Damen, die ihnen begegneten mit eiserner Miene. Die Frauen sanken erschrocken in Reverenzen wann immer Adassett um die Ecke stampfte und hielten sich quiekend die bunten Fächer vor die Gesichter, wenn sie seine nackte Brust erblickten.

Schließlich kam er vor einer breiten, weiß gestrichenen Doppeltüre zum Stehen und öffnete sie dermaßen grob, dass die Türe auch hier heftig gegen die Holzvertäfelung schlug. Adassett riss Nanouk in der selben Bewegung vorwärts und stieß sie regelrecht in den großen Salon, der sich nun vor ihnen auftat.

Mit einem Keuchen stolperte Nanouk in den Raum hinein und fing sich strauchelnd an dem erst besten Stück Mobiliar, das sie erreichte. Ihre Finger gruben sich in weichen Samt.

»Ataha Adassett!«, rief Ischka erschrocken aus, die ihnen gegenüber auf einem weißen Liegesofa saß und nun hektisch aufsprang, nur um gleich darauf in die Knie zu gehen.

Sie wirkte, als hätte Adassett sie soeben mitten im Satz unterbrochen, denn die vielen Mädchen, die in dem Raum saßen und bis eben noch gebannt gelauscht hatten, wandten ihnen nun erschrocken die Gesichter zu. Sie alle waren in die weichen Tuniken aus besticktem Brokat und bemalter Seide gewandet und sahen nicht viel älter aus als Nanouks kleine Schwester. Vielleicht dreizehn, vierzehn Jahre alt und bereits wie Schaupuppen bekleidet, vorgeführt und ihrer Kindheit entrissen. Nanouk wollte sich gar nicht vorstellen, was dem Hünen durch den Kopf ging, als er seinen herablassenden Blick über die kleine Versammlung schweifen ließ. Welche der jungen Mädchen er bereits gedanklich für sich selbst reservierte.

»Ich habe Euch nicht erwartet«, fuhr Ischka nun fort und strich sich die Tunika glatt. »Wir hätten Euch bestimmt eine Auswahl an-«

»Ich schlage vor, du wirfst öfter ein Mal ein Auge auf deine Huren«, unterbrach der Hüne die Oberaufseherin Wallheims mit einer Stimme die gefährlich autoritär durch den Salon donnerte. »Ich hatte die hier nicht bestellt.«

Nanouk richtete sich auf und wandte den Kopf zurück zu ihm, sodass sie den Ausdruck absoluter Abscheu erkennen konnte.

»Natürlich, ataha Adassett.« Ischka knickste erneut und Nanouk erkannte die Anzeichen eines Wutanfalls bereits in der Art und Weise wie sich rote Flecken auf ihrem Hals formten.

»Das nächste Mal, wenn sich eine von denen ungebeten in meinen Turm verirrt, häute ich sie für die Raben.«

»Jawohl, ataha Adassett«, brachte Ischka mit dünner Stimme hervor, der sie verzweifelt Würde zu verleihen versuchte. Doch dem Schrecken in ihren Augen nach zu urteilen, war sich Ischka nur zu deutlich bewusst, dass dieses Versprechen aus dem Mund des Hünen bereits in der Vergangenheit mehr als einmal eingelöst worden war.

Nanouk blickte entsetzt zurück zu ihm und hätte gelogen, wenn sie sich nicht eingestand, dass sie in seinen Worten die eiskalte Drohung ebenso unumstößlich wahrnahm, wie Ischka. Ganz gleich, wer sie für Saghani oder selbst für den Winterkönig war, Adassett scherte sich um keinerlei Besitzansprüche, wenn man ihn querte. Es gab niemanden, der diesen Mann in Schach zu halten vermochte. Er war wie ein Gewitter, seine Stimme der Donner, seine Blicke wie peitschende Blitze und sein stämmiger Körper dazu geschaffen Leben auf grausamste Weise zu beenden.

Sie musste wieder an die Hinrichtungen denken, von denen Maha erzählt hatte und stellte mit Grauen fest, dass sie das Bild eines lachenden, blutüberströmten Schlächters ereilte, der es ebenso wie der Winterkönig selbst genoss, wenn seine Opfer litten.

Und nun kamen seine furchtbaren Augen wieder auf ihr selbst zum Ruhen, sodass sich Nanouk versteifte. Doch anstatt, dass er das Wort an sie richtete, glomm bloß ein beinahe sadistisches Versprechen in seinem Blick auf, ehe er die Türe mit solch einer Wucht hinter sich zu schmetterte, dass die polierten Kommoden erzitterten und sämtliche Vasen klirrend gegeneinander stießen.

Die darauffolgende Stille war entsetzlich. Nanouk wandte sich zurück zu Ischka und erkannte das erste Mal Inja, die neben der Oberaufseherin saß und so aussah, als wüsste sie nicht, ob sie eher lachen, oder in Ohnmacht fallen sollte.

»Wie um alles in der Welt bist du in den Turm gekommen? Man hat dir ausdrücklich gesagt, niemals die Bereiche der Bediensteten zu verlassen«, fauchte Ischka schließlich und griff in die weiten Ärmel ihrer Tunika. Sie wühlte darin herum und mit einem erdrückenden Gefühl der Realisation, wurde sich Nanouk wieder des Schlüssels in ihren verkrampften Händen bewusst. Also hatte Inja sie nicht nur an der Nase herum geführt, sondern dabei auch noch Ischka bestohlen.

Doch Nanouk verspürte dabei nicht mehr als frustrierte Resignation. Sie stählte sich gegen die Zurechtweisung und humpelte zwischen den Liegesofas und Polstersesseln hindurch, um Ischka den Schlüssel zu geben.

Als sie vor der Oberaufseherin ankam, blickte diese in Nanouks Hände und stieß schließlich einen spitzen, empörten Aufschrei aus. Sie riss den Schlüssel an sich und ehe Nanouk sich versah, hatte Ischka ihr bereits eine heftige Watsche verpasst.

Nanouk sog die Luft durch die Zähne und presste ihre Lippen zusammen.

»Woher hast du meinen Schlüssel?!«

Nanouk blickte zu Ischka nach oben, nicht gewillt ihr irgendetwas zu sagen. Ihr gingen erstaunlich wenige Gedanken durch den Kopf und obwohl Inja keineswegs schutzbedürftig war, empfand es Nanouk als unglaublich kindisch den Zwist, den die Rothaarige mit ihr hatte in diesen öffentlichen Salon zu tragen. Ja, Inja hatte sich einen dummen, unreifen Scherz erlaubt, der durchaus böse enden konnte, doch Nanouk war mittlerweile zu alt, um sich auf dererlei Spiele einzulassen. Zumal Inja ganz bestimmt erwartete, dass Nanouk versuchte sie zu beschuldigen.

Sie wusste, dass die Aufmerksamkeit, die sie durch Adassett erhalten hatte, ohnehin alles andere als gut war und die Furcht zog ihren Magen zusammen. Inja war ein dummes Kind, das nicht einmal wusste, womit es spielte und vielleicht sträubte sich Nanouk gerade deswegen davor, sie zu verraten. Sie war ein Kind, Nanouk nicht.

»Also schön«, sagte Ischka kalt, als Nanouk weiterhin schwieg. »Ich weiß nicht, wen du versuchst zu decken, denn deinem Verstand nach zu urteilen, besitzt du nicht die Geistesgegenwart mich zu bestehlen. Ich möchte, dass du dir eins hinter deine dreckigen Ohren schreibst. Hier in Wallheim hast du Manieren zu lernen. Du bist nicht mehr in der freien Wildbahn, wo die Frauen grobschlächtige Arbeitstiere sind. Du bist hier in Wallheim, du bist am Hofe des Königs. Entweder du lernst, wie man sich am Hof benimmt, oder ich werfe dich zurück in das Loch, aus dem du gekrochen kamst.«

Nanouk warf Inja einen Seitenblick zu, die hinter ihrem vorgehaltenen Fächer in sich hinein kicherte und stellte fest, dass sie bei ihrer Schadenfreude nichts als Gleichgültigkeit empfand. »Das habt allerdings nicht Ihr zu entscheiden, sondern anaana Saghani.«

Ischkas Gesichtsfarbe wechselte von weiß zu rot. »Das wird sie, keine Sorge.« Ihre hasserfüllten Augen huschten über Nanouks Erscheinung, ehe sie den Finger ausstreckte und Nanouk deutete am Rand Platz zu nehmen. »Ich will den Rest dieser Lehrstunde keinen Mucks mehr von dir hören.«

Nanouk neigte den Kopf und suchte sich einen freien Platz auf den Sitzgelegenheiten. Die Mädchen starrten sie allesamt mit großen, runden Augen an. Vermutlich machte Ischka den selben Fehler wie Nauju und schätzte sie gute vier Jahre zu jung ein. Und Nanouk empfand es nicht als notwendig hier irgendjemanden dahingehend aufzuklären. Unterschätzt zu werden konnte hier oben nur mit Vorteilen einhergehen, die Nanouk bald dringlichst benötigte.


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