⫷ Kapitel 2: Tallik ⫸
Erst, als sie den Waldrand wieder erreicht hatten, atmete Nanouk auf. Sie mochte die düsteren Wälder nicht und vor allem der Südwald behagte ihr nicht. Zu nahe befand sich der Altar von Irinjok, dem Gebieter über die Erleuchtung und die Wahrheit, beides Konzepte, denen Nanouk bereitwillig aus dem Weg ging, selbst wenn sie dadurch ihrem ataaq Schande bereitete. Doch einige Dinge gehörten für sie ins Reich des Vergessens, dorthin, wo sie ihre jüngeren Geschwister hin verbannt hatte. Gleich neben den Lehren ihres ataaq.
»Du musst endlich aufhören so schreckhaft zu sein«, mahnte sie Ajat, alsbald sie den Wald hinter sich gelassen hatten und Nanouks Gesicht verdüsterte sich.
»Du weißt von allen am besten, dass ich nicht an das Gemunkel glaube«, verteidigte sie sich barsch und spannte ihren Bogen ab.
»Du meinst an die überirdisch schönen Prinzen im Zittergebirge, die nachts ins Tal kommen und kleine Kinder stehlen?«
»Nein«, entgegnete Nanouk fest und gedehnt, als Ajat ihr ein schalkhaftes Grinsen zuwarf.
»Ach komm, du bist bloß beleidigt, weil du als Kind nicht von den herzensbrechenden Schönlingen erwählt wurdest«, scherzte Ajat und stieß sie heftig mit der Schulter an, sodass sie aus dem Gleichgewicht geriet.
»Ich meine«, fuhr sie ungerührt fort und schlug mit ihrem Bogen nach Ajats feixendem Gesicht, »dass Eisdämonen Blut riechen und die Tiere zurück zu ihren Altären wandern. Ich bin schreckhaft, weil Nebel eine absolut ernstzunehmende Gefahr darstellt.«
Ajat rollte mit den Augen, grinste dann aber. »Gibs zu, ein bisschen enttäuscht bist du schon.«
Nanouk seufzte. »Ja, du hast Recht. Mein gesamtes Kindesalter hindurch habe ich mich nach einem Prinzen verzehrt, der aus dem himmlisch kalten Zittergebirge herabsteigt und mich an einen Ort voll Gold und Geschmeide führt!«
Ajat blickte sie selbstgefällig an. »Nur um dann fest zustellen, dass sich hinter seiner wunderschönen Fassade ein böser Geist wie Ijiraq versteckt, der dich nur deines Blutes Willen betört hat.«
»Oh, ja. Genau das. Aber mein Schicksal wäre mir Recht, denn bloß einen Wimpernschlag in der Gegenwart von solch entzückenden Nobelmännern verbringen zu dürfen, würde mein Herz schmelzen und meine Knie zum Schlottern bringen!«
Ajat lachte und auch Nanouk grinste. In Zweisamkeit konnten sie sich darüber lustig machen, was den älteren mehr wie unheimliche Tatsachen vorkam. Sich darüber Gedanken zu machen, dass der Winterkönig tatsächlich eine Horde an bösen Geistern mit einem Blutschwur an sich gekettet habe, machte das Leben so hoch im Norden unerträglich. Und umsiedeln konnten sie nicht, also tat Nanouk das einzig mögliche: sie hörte weg.
Selbst ihre Mutter warnte sie stets davor hübschen Nobelmännern zu vertrauen, wenn sie in Aalsung Waren ein- und verkauften. Amka mochte eine gute Heilerin sein, aber ihr Verstand arbeitete nur im Schwarm. Sie tauschte sich gerne und viel mit den anderen Frauen bei der Arbeit aus, sponn aus völlig unzusammenhängenden Berichten ihre eigene Wahrheit und steckte damit zuweilen selbst Nanouk an.
Und Nanouk ließ sie gewähren. Außer ihr war Amka keines ihrer anderen Kinder mehr geblieben, auf das sie Acht geben konnte. Und obwohl ihr Vater dem entgegen zu wirken versuchte, mit seiner besonnenen und ruhigen Art, fiel es Nanouk nicht immer leicht die Erzählungen aus den anderen Dörfern abzuschütteln. Deswegen mochte sie Ajat so gerne.
Mit ihm konnte sie über diese Schauermärchen lästern, ohne dabei den Drang zu verspüren sich bei jedem Schritt in den Wäldern umzudrehen. Und seit ihr ataaq nicht mehr da war, um diesen ganzen Geistergeschichten die Schärfe zu nehmen, spürte Nanouk wie sie immer öfter in die Nacht lauschte. Ob nicht doch ein Dämon oder ein blutdürstiges Monster aus dem Zittergebirge zu ihnen ins Tal kam, um kleine Kinder zu stehlen.
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»Wo ist denn der Hase?«, fragte Amka, als die beiden schließlich zurück in Tallik waren und an den großen Feuerstellen Halt machten, über den in großen Kesseln Suppe gekocht wurde.
»Es gibt keinen Hasen«, seufzte Nanouk und blieb stehen, winkte Ajat aber einfach weiter. »Die Fallen waren allesamt leer heute morgen. Der Neuschnee hat sie zugedeckt.«
Amka runzelte ihre wettergegerbte Stirn und wischte sich mit einem Lappen über die feuchte Nase. »Tja, nicht nur die Fallen«, murmelte sie und schüttelte die Fellhose aus, an der sie gerade einige Löcher flickte.
Nanouk nickte und hielt ihre Hände an den heißen Wasserdampf, der durch die klirrend kalte Luft emporstieg. »Tut mir Leid. Ajat und ich waren daraufhin noch im Wald und haben unser Glück bei der Pirsch versucht, aber auch nichts.«
Amka verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Mikkituq, du darfst nicht einfach so in den Wald gehen! Dort wimmelt es von Eisdämonen und anderen Gefahren.«
»Ajat war doch bei mir«, verteidigte sie sich und versuchte ihren Ärger zu unterdrücken, der in ihr aufkam, als ihre Mutter sie Winzling nannte. Sie war bei weitem nicht mehr klein, offiziell zählte sie nun als Erwachsene, doch für Amka und Kaalut würde sie wohl immer mikkituq sein.
Amka rümpfte die Nase. »Du verbringst so viel Zeit mit ihm, vielleicht solltest du dir endlich den Schmuck anlegen und ihn dir zum Mann nehmen.«
»Anaana!«, rief Nanouk bestürzt aus und blickte sich hastig um, doch Ajat war bereits auf der anderen Seite des Dorfplatzes und sprach mit seinem Großvater.
Amka lächelte gutmütig und richtete ihre Augen wieder auf das Nähwerk in ihren Händen. »Doch, doch. Es würde dir gut tun, wenn du dich mit ihm verlobst. Du bist doch jetzt achtzehn. Und immer, wenn du mich Mütterchen nennst, weiß ich, dass ich Recht habe.«
Nanouk bließ sich verärgert die losen Strähnen aus dem Gesicht und schob sie sich dann hinter die Ohren. Sie trug keinen Schmuck. Nie mehr. Das war ein eisernes Prinzip in ihrem Leben, etwas, das unumstößlich mit ihrer Persönlichkeit verwoben war. Kein Schmuck. Nicht einmal eine Halskette. Und schon gar nicht das Armband.
Ihr ataaq hatte ihr vor zwei Jahren ein Armkettchen geschenkt, hatte sie dafür extra zur Seite genommen und war mit ihr hinauf auf die Westhügel an den Fjorden gestiegen. Nanouk erinnerte sich noch gestochen klar an diesen Abend, als der Wind seltsam warm gerochen hatte, nach Blumen und Frühling, obwohl es keinen Tag später schon wieder heftig geschneit hatte.
»Ich fühle, dass es langsam Zeit wird«, hatte ihr Großvater ihr betroffen zugeraunt. »Du musst es an dich nehmen. Wir gehen morgen auf die Jagd und ich möchte, dass du es hast.«
Nanouk hatte auch damals schon eine Abneigung gegenüber Schmuck empfunden und während ihre Mutter das mit ihrer pubertären Dickköpfigkeit verband, konnte Nanouk sie dahingehend nicht berichtigen. Schlichtweg konnte nicht, denn dieser Teil gehörte zu ihren Geschwistern in die Verdrängung.
Und am darauffolgenden Tag, war ihr ataaq bei der Jagd umgekommen. Als hätte er es vorhergesehen.
Dann war ihre kleine Schwester, Anjij, an einer grausamen Erkältung gestorben und so oblag es alleine Nanouk, ihre Familie zu erhalten. Doch sie wollte sich nicht schön machen, wollte keinen Schmuck tragen und einem der Männer nachgeben, wollte die Lücke, die ihre Geschwister im Leben ihrer Eltern hinterlassen hatten, nicht mit eigenen Kindern füllen. Nicht, wenn es hier nichts außer Kälte gab für sie.
Zum Glück blieb Nanouk erspart ihrer Mutter darauf zu antworten, denn sie erkannte Ajat, der wieder auf sie zukam und sie gab ihrer Mutter mit einer Warnung in den Augen zu verstehen, dass dies auf gar keinen Fall Gespräche waren, die man in Anwesenheit von Männern führte.
»He, Nanouk! Hallo, Amka«, begrüßte Ajat die beiden und runzelte kurz die Stirn, als er zu Rendrun zurück blickte.
»Hallo Ajat«, grüßte Amka mit einem herzlichen Lächeln zurück und nur Nanouk bedachte beide mit einem düsteren Gesichtsausdruck.
»Was willst du? Suppe gibts am Abend, nicht früher.«
»Ha, für mich auf alle Fälle, aber für dich vielleicht nicht«, grinste er und deutete mit dem Arm nach hinten. Nanouk folgte der Bewegung mit den Augen und erkannte nun, was es war, das Ajat mit Rendrun besprochen hatte.
Der Dorfälteste stand neben einem großen Schlitten, der bereits von zwei weiteren Jungen beladen wurde. Auf dem Dorfplatz dazwischen tollten die kleineren Kinder herum, spielten Fangen, um sich dadurch warm zu halten und sprangen in die Luft, wenn sich die Wintervögel zu nahe an den Boden wagten, um ein Stück Fleisch oder Brot zu stibitzen.
Auch die Schlittenhunde waren nach dem Winter ausgehungert und mürrisch, knurrten viel und waren sogar ab und an versucht nach den Waden der Kinder zu schnappen.
Neben den Feuern hielten sich die Erwachsenen auf, reparierten Werkzeuge, flickten wie Amka Kleidung, kochten und gerbten Felle. Was die Tatsache, dass Rendrun soeben einen ganzen Schlitten mit diesen unentbehrlichen Rohstoffen belud, umso mehr verärgerte.
»Rendrun muss mit den Abgaben nach Aalsung fahren«, erklärte Ajat. »Und er sucht noch ein paar kräftige Jungs, die ihm dabei zur Hand gehen.«
Als Nanouk ihn wortlos mit gehobenen Brauen musterte, grinste er. »Er meint dich, du Trampel.«
»Ehrlich? Mit Trampel hätte ich eher dich in Verbindung gebracht.«
Ajat lachte und Nanouk ignorierte seinen Seitenhieb, dass sie mit ihrem kräftigen Körper, der vor allem aus Sehnen, Knochen und Muskeln bestand und wenig mit den weichen Rundungen der Frauen gemein hatte, eher zu den Burschen zählte.
»Schwatz nicht rum«, stichelte er nach und Nanouk verpasste ihm daraufhin einen heftigen Schlag auf die Schulter, welchen Amka mit einem empörten Luftholen kommentierte.
»Nanouk! Manieren!«
Ajat sprach es nicht aus, aber sie konnte in seinen Augen lesen, dass er sie dafür später noch ordentlich aufziehen würde.
»Wenn Nanouk mit nach Aalsung geht, dann kommt mir das wie gerufen«, fuhr Amka einfach fort und legte ihr Nähwerk rasch zur Seite. »Wir brauchen unbedingt neues Garn, vielleicht kannst du die Harzknöpfe gegen welches tauschen.«
Nanouk nahm ein Bündel voller Kleinigkeiten entgegen und warf es sich über die Schulter, während Ajat immer noch feixend neben ihr stand und dabei zusah, wie Amka ihre Tochter belehrte, als wäre sie immer noch ein Kind. Mikkituq.
»Und pass gut auf deine Schuhe auf! Wir haben keine Ersatzpaare mehr! Oh«, rief Amka aus, als Nanouk sich auf den Weg machen wollte. »Geh mir nicht in den Wald, hörst du! Lass dich nicht-«
»-mit Höflingen, Händlern, oder Soldaten ein, ist ja gut«, herrschte Nanouk ungeduldig.
»Richtig«, seufzte Amka und strich ihr kurz über die Wange. »Schaut, dass ihr heute Abend wieder hier seid. Wenn es aber dunkel wird, bevor ihr fertig seid, dann geht nicht bei Nacht!«
»Anaana«, jammerte Nanouk und scheuchte Ajat genervt davon, der schon wieder anfing zu lachen. »Rendrun ist ja dabei, er ist nicht dumm. Wir beeilen uns, so wie immer. Und ich gebe auf mich acht – so wie immer!«
Amka seufzte daraufhin und nickte. Sie drückte ihre Tochter fest an sich. »Bis heute Abend.«
»Bis heute Abend«, verabschiedete sich Nanouk und gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange.
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Rendrun hieß sie knapp willkommen, nickte in ihre Richtung und warf dann Ajat einen langen Blick zu, den sein Enkel aber nur kurz erwiderte. Nanouk eilte Inaak zu Hilfe, der sich gerade mit einer Kiste voller Fellen abplagte.
»Gib her«, forderte sie den Jüngeren auf und nahm Inaak ohne auf eine Antwort zu warten, die Kiste aus den Armen. Der Fünfzehnjährige beschwerte sich schmollend, rieb sich aber die schmerzenden Schultern und ließ Nanouk gewähren.
Sie wuchtete die Kiste auf den Schlitten und musste dabei Titut ausweichen, einer von Rendruns treusten Schlittenhunden, der ihr neugierig schnüffelnd zwischen die Beine trat.
Ringsumher hörte man das geschäftige Geplapper der andern Dorfbewohner, vor allem hörte Nanouk immer wieder Fragen heraus, die Rendruns Entscheidung anbelangten ausgerechnet Inaak, Paali und Qiuq auszusuchen. Normalerweise prügelten sich die Jugendlichen, um nach Aalsung mit zu dürfen und Nanouk runzelte die Stirn, als sie zu Ajat blickte, der mit sich selbst zufrieden neben dem kleinen Tumult stand und lächelte.
Nachdem sie die Kiste neben einem brummenden Rendrun abgesetzt hatte, wich sie Paali aus, der mit seinen vierzehn Jahren kaum groß genug war, um Schlitten zu fahren und ihre Stirn warf sich in noch tiefere Falten.
»Warum kommst du nicht mit?«, fragte sie an Ajat gewandt, der sie alle beobachtete.
»Keine Ahnung«, gestand er dann jedoch ehrlich und hob die Schultern. »Großvater meinte, ich solle mich darin üben die Dorfangelegenheiten zu regeln, was auch immer das heißen mag. Mehr, als ihm dabei zuzusehen, wie er sich um die täglichen Geschäfte kümmert, kann ich nicht.«
Nanouk schnaubte. »Und dabei wäre Aalsung doch eine perfekte Gelegenheit, um sich ein wenig im Feilschen zu üben«, fügte sie hinzu und Ajat nickte nachdenklich.
»Ich denke, er will, dass ich mal alleine hier nach dem Rechten sehe.« Dabei verzog er das Gesicht. Ajat war genauso fähig als Dorfältester, wie Nanouk bei der Partnersuche.
»Außerdem«, fuhr er dann etwas andächtiger fort und blickte sie dabei demonstrativ nicht an, »meint meine Großmutter, ich soll mir endlich eine Ehefrau suchen. Sie sagt, die Frauen reden schon. Fast zwanzig und immer noch ungebunden.«
Nanouk verzog ihr Gesicht. »In dieser Hinsicht sind sie alle gleich. Halt mich da bloß raus, das ist nicht mein Problem. Du findest sicherlich genügend Mädchen, die bereitwillig in den ländlichen Adel aufsteigen wollen.«
Ajat schnaubte durch die Nase und schielte sie von der Seite kurz an. »Was ist mit dir?«
»Nichts«, gab sie unbefangen von sich.
»Du solltest froh sein, dass ich Interesse an dir zeige«, fuhr er gönnerhaft fort und Nanouk rollte übertrieben mit den Augen. »Doch! Du bist zu kratzbürstig! Niemand sonst würde dich wollen. Ich sag nur, wie es ist!«
»Ich bin nicht kratzbürstig«, wandte sie schulterzuckend ein und ignorierte Ajats beleidigten Tonfall, »sondern realistisch.«
Daraufhin ging sie zurück zum Schlitten und half Qiuq dabei die Seile über die Kisten zu spannen und sie damit am Herunterfallen zu hindern. Die drei Burschen waren allesamt so jung! Was dachte sich Rendrun bloß dabei?
»Also, machs gut«, sagte sie dann an Ajat gewandt, der zu ihr aufschloss und ihr heute überhaupt nachzulaufen schien wie ein Welpe seiner Mutter. »Wehe du futterst den ganzen Eintopf alleine«, mahnte sie ihn.
»Verlier du bloß nicht die Fassung bei all dem Gold und Geschmeide. Und lass dir den Kopf nicht verdrehen, wir brauchen schließlich unseren kleinen, kratzbürstigen Bär, damit er unsere Mäntel entfilzt!«
Nanouk hieb ihm daraufhin fest auf den Kopf und Ajat stieß lachend einen Schmerzenslaut hervor.
Als Rendrun sie schließlich zum Aufbruch drängte, da die Sonne Mittagsstand erreicht hatte, schlang Ajat ihr noch rasch einen Arm um die Schultern und drückte sie kurz an sich.
»Bring mir einen Beutel Zuckermarillen mit, wenn sie welche haben sollten.«
»Unwahrscheinlich«, gab Nanouk zu bedenken und stemmte sich aus seiner überschwänglichen Umarmung. Bevor sie zu den anderen aufschloss, wandte sie sich noch einmal zu Ajat um und winkte ihm.
»Ich werde sehen, was ich finden kann«, versprach sie ihm und das letzte, was sie von ihm hörte, bevor sie um die Biegung hinter Tannen verschwand, war Ajats begeisterter Ausruf.
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